November

Inzwischen ist es November geworden. Nachts radele ich durch tiefste Dunkelheit und feuchtkalte Nebelschwaden, die der Lichtkegel meiner Fahrradlampe schemenhaft erkennen lässt. Der Nebel hüllt mich ein, nimmt von mir Besitz mit seiner klammen Eisigkeit, und drumherum ist nichts und niemand; irgendwo in der Ferne verrichtet eine einsame Straßenlaterne ihren nahezu nutzlosen Dienst und vermag die schweröldicke Novemberschwärze kaum zu durchdringen. Ich will nur noch nach Hause. Es sind keine 700 Meter zwischen dem einen Zuhause und dem anderen — aber je nach Jahreszeit und Wetter können einem auch diese endlos erscheinen. „Wir bräuchten einen beheizten und beleuchteten Tunnel zwischen unseren Wohnhäusern“, scherzte ich einst mit der Freundin, und in Nächten wie diesen wäre das wirklich eine gelungene Investition.

Es ist eigenartig mit diesem November. Kann man den Insel-Oktober mit seinen Zugvogelscharen, den vielen goldenen und warmen Tagen und der Gästeflut während der Herbstferien noch gefühlt unter „Spätsommer“ verbuchen, so geht das im November plötzlich nicht mehr. November ist Winter, auch auf Langeoog.
Zwar sind auch jetzt noch die Temperaturen an vielen Tagen zweistellig und es gab erst einen größeren Sturm — dennoch sind die Bäume inzwischen zu nackt, die Vögel zu wenige und die Tage zu kurz, um noch irgendeine Sommer- oder Herbstassoziation zu finden. Nein, der November, man muss es sich eingestehen, der November ist Winter.

„Es ist ein schwieriger Monat“, predigen auch die Geistlichen aller Konfessionen dieser Tage, mit all diesen traurigen Tagen, Allerseelen, Totensonntag, dazu diese Dunkelheit. Die stillen Feiertage finde ich wiederum nicht allzu schwierig, denn es ist gut, dass auch das Trauern und die Schwermut einen Platz im Kirchenjahr bekommen: Schließlich ist auch das Leben keineswegs frei davon. Ich finde nicht einmal Allerseelen einen traurigen Tag, denn die beleuchteten Friedhöfe sehen schön aus und zur Gräbersegnung wird auch auf jene Gräber Weihwasser gesprengt, an denen schon lange kein Angehöriger mehr saß. So ist niemand vergessen.

Vergessen habe ich dagegen fast einen Großteil des Jahres und frage mich: Wie konnte ein Jahr, an dem Pandemiebedingt immer noch nicht so viel wie früher passieren konnte, so dergestalt dahinrasen? Wo war der Sommer, die Muße, wo waren die freien, warmen Balkonabende? Auch mein Urlaub im September liegt gefühlt schon Lichtjahre zurück, und der Winter wird gewohnt arbeitsreich: Es gilt, die paar ruhigeren Novembertage für größere Projektvorbereitungen zu nutzen, bevor zum Advent und Jahreswechsel hin die nächste Hauptsaison auf Langeoog lostobt. Andere Langeooger:innen nutzen die Zeit, um selbst in den Urlaub zu fahren. Im Grunde ist der November für die Menschen auf der Insel also ein durchaus ereignisreicher Monat — trotzdem habe ich jedes Jahr das Gefühl, als hielte dieser Monat das Kreisen und Kreiseln der Welt für einen Moment an.

Über dem Meer klart der Himmel jetzt auf. Streifen von Blau weben sich in die bisher dichte, schmutziggraue Wolkendecke. Es ist einem nicht mehr viel Tageslicht geschenkt um dieser Zeit, also werfe ich nur das Nötigste über und radele zum Strand.
Durch die Wolkenlöcher lugt roséfarbener Himmel, der bald in leuchtendes Orange übergeht, und so doch noch mächtig Farbe in diesen — für mich — bisher farblosen Tag bringt. Über dem Festland weisen dunkle Fallstreifen auf ein Unwetter hin; auch das sieht sehr eindrucksvoll aus, wiewohl ich die Menschen auf dem Kontinent nicht um den Regenguss beneide. Hinter den Silhouetten der Strandpaziergänger:innen zeichnet sich die Dünenkette der Nachbarinsel Baltrum ab.
Getröstet stelle ich fest, dass doch noch nicht alle Vögel fort sind, denn eine Formation Gänse zieht mit lautem Rufen Richtung Westen. Auf der Sandbank ruhen sich Möwen aus.
Später zeigt mir ein Freund noch wundervolle Fotos vom Morgennebel im Sonnenaufgang, den ich, meiner Eulen-Natur geschuldet, allerdings verschlafen hatte. Dieser erhabene, mystische und majestätische Anblick der vom Nebel durchwobenen, sonnenvergoldeten Insellandschaft lässt mich den unheimlichen, ungemütlichen Nachtnebel sofort vergessen. Und so verabschiedet sich der Novembertag doch noch mit reichlich Versöhnlichem: Mit Farbe und Schönheit.