Sturm und Eis

In der Nacht fiel der erste Schnee. Als ich die Vorhänge aufziehe, sehe ich den Schneepflug am Ende der Straße werkeln, auf dem Balkon tummeln sich Rotkehlchen und Meisen, die Spatzen drängeln sich als nächste ans Buffet. Es wird nicht viel Zeit bleiben, bis sich das weiße Wunder vor der Tür in hässlichen Schneematsch verwandelt haben wird, also mache ich mich schnell ausgehfertig, um die Pracht noch rechtzeitig mit der Kamera zu verewigen.
Der Sanddorn ist jetzt tieforangefarben und sehr reif; in diesem Zustand wohl auch am Gesündesten, wie mit ein Nationalparkguide einst erzählte. Aber ich ernte die Beeren nicht, sondern erfreue mich nur an dem Anblick ihrer Leuchtpracht unter den glitzernden Schneehäubchen.
Es weht kaum Wind. Vor wenigen Tagen noch brüllte ein Orkan über die Insel; von der Dachwohnung der Freundin aus klang er wie ein donnernder Güterzug. An allen Ecken grollte, riss und fauchte der Wind wie ein wildgewordenes Tier. Auf dem Weg zur Kirche krallten wir aneinander fest; der eine der anderen ein Schleppanker. Stellenweise kam man nur im Froschgang voran oder wurde vom Wind ins Torkeln gebracht wie ein Betrunkener. Natürlich gehört die berühmte „steife Brise“ für viele zum gelungenen Nordseeurlaub dazu, aber Windstärke 12 macht keinen Spaß mehr, das kann ich bei aller Liebe zur Küste versichern.
Nadelspitzer Eisregen grub sich in unsere Gesichter und machte die Brillengläser blind. Was für ein Segen dann, endlich das warme Kerzenlicht aus St. Nikolaus leuchten zu sehen und das offen stehende Kirchenportal.
Wir feierten die heilige Messe zu fünft, der Sturm tobte gegen den Gesang an und rüttelte an den Mauern, aber letztlich gewann das Warme, Schöne, Leuchtende.
Das galt übrigens auch fürs Wetter, denn bereits am nächsten Morgen schien es, als hätte es nie einen Orkan gegeben. Kaum ein Lüftchen regte sich; über dem Meer wölbte sich türkisfarbener Himmel und die Sonne beschien die gewaltigen Rümpfe der Containerriesen, die vermutlich soeben einer entsetzlichen Nacht auf offener Nordsee entkommen waren.
Einzig die noch immer stattliche Brandung, die neuen Abbrüche an der zum Küstenschutz aufgespülten Sandkante und die verteilt liegenden, abgerissenen Zweige und Adventsdekorationen erinnerten an das Unwetter des Vortages.
Ich bin froh über das Menschenwerk aus Deich und Sandkante, das die Insel schützt, und doch einmal mehr gewahr, wie sinnlos dieses Kräftemessen mit der Natur eigentlich ist. Die Natur wird immer stärker sein als der Mensch. Nichts ist zur Gänze beherrschbar. Das mag deprimierend oder pessimistisch klingen, aber mir verhilft dieser Gedanke zu einer gesunden Grundausstattung an Demut. Der Orkan spielt mit mir wie ein Blatt im Wind, ich bin nur eins von Milliarden Pünktchen im Menschengewusel und vieles auf diesem Planeten würde auch ohne Menschen überdauern, wir wären nur eine Spezies im großen Artensterben mehr.
Nun sehe ich vom Fenster aus dem Schnee beim Schmelzen zu und schöpfe Hoffnung aus dem Gedanken, dass die nächste Jahreszeit der Frühling ist: Immerhin auch das ein unabänderliches Naturgesetz.