Und plötzlich ist mir adventlich zumute. Am Wetter liegt es nicht, denn obwohl es Anfang September ist, zeigt das Thermometer heute 28°C an und die Wohnung der Freundin mit ihren Südfenstern ist eine Sauna. Auch liegt es nicht an den ersten Weihnachtssüßigkeiten, die wir dieser Tage in einem Supermarkt sichteten, denn das ist um diese Zeit ja nun wirklich keine Überraschung mehr. Doch nun ist da dieser Katalog eines spirituellen Buch- und Geschenkehandels, durch den ich blättere, während die Freundin irgendetwas in der Küche hantiert. Ich sehe hübsch dekorierte Kerzen, Backutensilien, Schwibbögen, Engelchen und all diese Dinge, die die Geborgenheit eines weihnachtlich geschmückten Zuhauses ausstrahlen. Derweil zieht der Duft von Tee zu mir rüber. Die Freundin setzt sich, und plötzlich wünsche ich, es wäre Advent. Ich sehe uns Plätzchen und Klöße formen, knusprige Ente aus dem Ofen ziehen und nach Nelken duftende Wildpastete essen; ich sehe glänzendes Geschenkpapier mit zarten Bändern vor mir, ebenso glänzende Augen und rote Wangen vom Strandspaziergang. Wir würden kuschelige Stricksachen tragen und uns aneinander wärmen, während die drückende Sommerschwüle kristallklarer Winterluft gewichen ist. Zweifelsohne würde ich mich zugleich über die Scheißkälte beschweren und vom nächsten Frühling in luftigen T-Shirts und Stoffhosen träumen, von den bunten fröhlichen Farben des Osterfestes und all den Verheißungen eines noch jungen Jahres. Und doch frage ich mich, woher sie kommt, diese plötzliche Weihnachtssehnsucht, jetzt, wo nicht einmal etwas vom Herbst zu spüren ist. Vermutlich, denke ich, ist es eher die Sehnsucht nach dem Innehalten, nach dem heimeligen Kokon des Privaten, nach der Schönheit der Insel in der Winterstille.
Die letzten Tage waren das Gegenteil von Innehalten, denn leider gilt auch bei der Urlaubsplanung: Zeit ist Geld. Wenn man sich nicht viele Tage leisten kann, bedeutet das also, in kurzer Zeit möglichst viel herumkommen zu wollen, und so bereisten wir in 5 Tagen 5 Orte. Schön war das schon; wir sahen zauberhafte Architektur, Natur und Tiere, sogar alte Freunde waren mit im Programm. Und doch war alles so schnell wieder vorbei wie ein schnell geträumter Traum während eines Mittagssschlafs. Und es ist ja nicht nur die Urlaubszeit, die vielleicht ein wenig zu vollgepackt war. Das ganze Jahr ist gefühlt ein wenig zu voll gepackt mit all seinen Hiobsbotschaften von Krieg und Energiekrise, von Inflation, Rezession, Dürre und Waldbränden und all dem. Ist es da verwunderlich, wenn auf der anderen Seite die Sehnsucht nach einem Heile-Welt-Nest wächst?
Ich erinnere mich an eine Zeit „vor vielen, vielen Monden“, wie es mein Freund H. formulieren würde, als ich unter grässlichem Liebeskummer litt. Aus allem war die Farbe gewichen; kein Ort, an den ich gehen konnte, wo nicht auf irgendeine Weise eine Lücke mit der Kontur des so elendig vermissten Menschen klaffte. Und in genau dieser Zeit hatte ich einmal einen Traum: Nicht vom Kummer, sondern vom Gegenteil. Im Traum wohnte ich mit diesem Menschen in einem wunderschönen Landhaus, wir verstanden uns wortlos; alles war vertraut und unverkrampft. Wir lasen Zeitung und tranken Tee, während die Dahlien im Garten vorm Fenster der Wohnküche ihre Köpfe im warmen Herbstwind wiegten. Unweit davon spiegelte das Meer weiches Sonnenlicht. Das Aufwachen aus diesem Traum und das Realisieren, in welcher grauen und kalten Wirklichkeit ich mich befand, war, man ahnt es womöglich, eher unerfreulich. Ein Freund, dem ich damals davon erzählte, nannte es mit seiner lakonischen Ader einen „Laura-Ashley-Traum“und das war so treffend, dass ich ihm nicht einmal im Ansatz deswegen böse sein könnte. Bedienten die romantischen, heimeligen Landhaus-Designs des ehemals britischen Unternehmens nicht genau solche Cottage-Sehnsüchte stressgeplagter Städter:innen?
Auf Langeoog im Allgemeinen und mit meiner zukünftigen Ehefrau im Besonderen bin ich, dem Herrn sei es gedankt, zwar in weiten Teilen in einer Laura-Ashley-Realität angelangt, aber dennoch denke ich rückblickend, dass dieser Traum damals wichtig und notwendig war, um meiner kummergeplagten Seele eine Pause zu ermöglichen. Und so ist es wohl auch mit meinem plötzlichen Anfall von Weihnachtssehnsucht. Es ist wohl weniger das Fest selbst oder gar die Sehnsucht nach dem Winter als das Verlangen nach einer Pause für die Seele, nach „Einmal Volltanken mit Frieden, Geborgenheit und Wärme, bitte.“ Von dieser Tankfüllung lässt sich dann, mit Glück, auch bis Ostern zehren.
