Lichtreserve

Es regnet seit Tagen. Über der Insel liegt Novemberdüsternis und fast unbemerkt hat sich der Erste Advent mit seinem Kerzenreigen dazwischengemischt. Auf den nassen Straßen ist niemand. Vereinzelt blakt eine Lichterkette gegen die Dunkelheit an. Viele Häuser sind jetzt wieder unbewohnt, dort leuchtet nichts. Ich selbst habe lange überlegt, ob es sinnvoll ist, überall in der Wohnung an Strom und Heizung zu sparen und dann die menschenleere Inselnacht mit Adventsdekorationen zu illuminieren. Aber dann habe ich doch die Lichterkette aus dem Schrank gekramt und sie mit klammen Fingern durchs Efeu gewoben und um mein pieksendes Wacholderbäumchen gewickelt. Ist mein Wohnviertel ohnehin schon als „Geisterviertel“ verschrien, weil hier im Winter fast niemand wohnt, so will ich zumindest nicht selbst zum Geist werden und trotz physischer Anwesenheit in der Seelenlosigkeit, die die verwaisten Häuser und Ferienwohnungen atmen, untergehen. Jedenfalls leuchtet es jetzt trotzdem bei mir und irgendwelchen Berechnungen zufolge machen die paar LED-Lämpchen das Sparschwein auch nicht viel magerer, als es eh schon ist. Ein komplett lichtloser Advent würde dagegen noch an ganz anderen Reserven zehren. Auch was diese betrifft, ist es zurzeit nicht einfach; die Depression liegt stetig auf der Lauer und lässt sich nur noch schwer einhegen. Medikamente sorgen dafür, dass der schwarze Hund weitgehend eingesperrt bleibt, aber man darf ihn nicht aus den Augen lassen, denn dann schiebt er sofort seine gierigen Krallen unter der Zwingertür hindurch. Die Düsternis auch am Tage, der ewige Regen und eine Dämmerung, die bereits kurz nach 15 Uhr in den grauen Himmel sickert, macht die Sache nicht besser. Und so stelle ich täglich den Wecker, obwohl ich das nicht müsste, um nicht zuviel vom ohnehin spärlichen Tageslicht zu verpassen, setze Seele und Netzhaut dem mit Glück etwas hellerem Lichtstreif überm Meer aus, atme die aerosolhaltige Luft, schaue Möwen, Sanderlingen und Schneeammern zu und versuche, so irgendwie diese dunklen Tage zu überstehen ohne größere Blessuren. Mein Vogelhaus auf dem Balkon beschert mir zwar eine Menge zusätzlicher Putzarbeit (wer frisst, kackt auch ordentlich), bringt aber auch eine Menge wohltuendes Leben auf die Bude. Sogar ein Zaunkönig, über den ich mich immer besonders freue, kommt beinahe täglich vorbei. Dazu Meisen, Spatzen, Rotkehlchen, Drosseln. Ich stehe gerne am Fenster und schaue den Tieren zu. Wie sehr sie sich über das Wenige freuen. Auch wenn es unter ihnen natürlich auch eine Menge Streit um die Knödel gibt.

Streit ist auf der Welt rund ums Vogelhaus noch zur Genüge. Auch das lässt mich nicht wirklich los; es ist immer noch Krieg in der Ukraine, aber die Solidarität und das Mitgefühl nehmen spürbar ab, erschreckenderweise sogar im Bekanntenkreis. Die Ukrainer könnten das doch beenden, wenn sie verhandelten, heißt es. Aber was gibt es bei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu verhandeln? Diese Leute sitzen in ihren warmen Wohnzimmern und ich frage mich, wenn jetzt ein Einbrecher dort einmarschierte, würden diese Leute dann allen Ernstes anfangen zu verhandeln, damit der Überfall schneller vorbei ist? Den Kronleuchter ja, das Bild nein. Nein?
Und hätte ein Einbrecher da überhaupt Interesse dran? Zumindest wohl keiner, dem es um die ganze Immobilie geht und nicht nur ums Porzellan. Ich höre mir diesen Mist meist widerstandslos an, mir fehlt die Kraft, oft bin ich auch einfach feige, weil ich die Leute eigentlich mag oder zumindest mal mochte. „Mit dem Adolf hätten sie damals auch nicht verhandeln können, als er in Polen einfiel“, fällt mir vielleicht noch ein, aber spätestens, wenn sogar dazu noch Relativierungen kommen, hat mein Heldentum ein Ende. Es ist zwecklos.

Dieser Tage fällt es schwer, das Licht des Advents zu entdecken. Natürlich, in der Kirche hängt der Kranz und die Gemeindechefin sorgt auch dafür, dass die Adventskerzen dauerhaft leuchten. Hinzu kommen die Opferkerzen, die noch immer — auch um diese Jahreszeit — in erstaunlich großer Zahl entzündet werden. Im Fürbittbuch herzzerreißende Einträge, viele voll Trauer mit der Bitte um Trost. Etliche kirchliche Nachrichtenportale bemühen sich um frohe Botschaft dieser Tage, betonen die Wichtigkeit von Hoffnung als Kern des Glaubens. Die Hoffnung darauf, dass SEIN Licht immer da ist, auch wenn wir es kaum noch zu erkennen glauben. Ich glaube daran, aber es ist trotzdem manchmal anstrengend, danach Ausschau zu halten, und man muss viel Schutt in der Seele und um sich herum beiseiteräumen, um Zugang zum Licht zu bekommen. Ich weiß, dass es da ist, und dass man jederzeit Herz und Hände daran wärmen kann. Dennoch ist das an manchen Tagen mühsamer als an anderen: Kälte draußen, Kälte in der Gesellschaft. Und irgendwo ganz weit drinnen ein einziges, kleines, aber lebenserhaltendes Licht.

Die vielen Adventsfeiern, die ich beruflich besuchen muss, tun ein Übriges dazu, dass bei mir keine rechte Stimmung aufkommen kann, denn zu sehr verknüpfe ich Glühwein- und Plätzchenduft und dekoriertes Tannengrün inzwischen mit Arbeit. Die Freundin und ich versuchen uns Lichtinseln zu schaffen, in dem wir Kurzurlaube planen; einen Ausflug zum Weihnachtsmarkt auf dem Festland, einen Zoobesuch. Irgendwas, an dem wir uns, die Vorfreude wie ein Tau nutzend, durch die trübe Zeit hangeln können. Wenn mich in der dunklen Umklammerung des Winters die Enge meiner Wohnung zu ersticken droht und klamme Feuchtigkeit in alle Ecken zieht, versuche ich mir vor Augen zu halten, wie verdammt privilegiert ich allein durch das Vorhandensein von fließendem Wasser und Strom, sei er auch noch so teuer, bin; zumindest im Vergleich zur gesamten Weltbevölkerung. Wir jammern hier ja durchaus auf hohem Niveau, das ist schon richtig. Also will ich nicht undankbar sein, denn immerhin, und auch das ist mir beständiger Trost, habe ich ja noch die Weite des Meeres um mich und zumindest Richtung Osten die nahezu unberührte Natur der Dünenlandschaft und der Salzwiesen. Der Wetterbericht verspricht noch wenig Hoffnung auf hellere Tage, aber auch die werden kommen, sie kamen ja immer.

Wie merkwürdig hingetupft dieser letzte Satz klingt, denke ich. Wie ein unachtsam verprengter Farbklecks. Weil man irgendwann mal gedacht hat, dass die Leute nichts lesen wollen, was nicht zumindest mit irgendeinem Hoffnungsschnipsel endet. Vielleicht sollte man den Leuten aber auch einfach mehr zutrauen. Oder, zumindest manchmal, auch bewusst eine Zumutung sein.

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Allen Leser:innen wünsche ich eine gesegnete Adventszeit mit möglichst vielen Lichtinseln!

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3 Kommentare

  1. Thorti sagt:

    Hey, Danke für den schönen Text, der die aktuelle Zeit gut beschreibt, auch wenn ich nicht auf Langeoog sondern auf dem Festland bin. Ich freue mich aber schon, zum Jahreswechsel wieder dort zu sein und auch an Deiner Lesung in der Kajüte (erneut – letztes Jahr habe ich Dich dort „entdeckt“ 🙂 ) teilzunehmen!
    Liebe Grüße aus Westfalen!
    Thorti

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    1. Das ist ja lieb, vielen Dank! Und herzlichen Willkommen zur Lesung 🙂

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  2. SiNiJu sagt:

    Ich habe mir diesen Sonntag auch bewusst ein paar Stunden Auszeit genommen, dazu gibt es bei uns im Haus auch einige Lichterketten, Wärme und Kerzenschein, denn dieses Wohlbefinden in den eigenen vier Wänden muss gerade einfach sein, um die Akkus nicht komplett zu entladen – dir/euch eine wundervolle Vorweihnachtszeit und ja Auszeiten mit Besuch im Zoo und einem Weihnachtsmarkt an Land hören sich wunderbar an – alles Liebe Gaby

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