Lichtreserve

Es regnet seit Tagen. Über der Insel liegt Novemberdüsternis und fast unbemerkt hat sich der Erste Advent mit seinem Kerzenreigen dazwischengemischt. Auf den nassen Straßen ist niemand. Vereinzelt blakt eine Lichterkette gegen die Dunkelheit an. Viele Häuser sind jetzt wieder unbewohnt, dort leuchtet nichts. Ich selbst habe lange überlegt, ob es sinnvoll ist, überall in der Wohnung an Strom und Heizung zu sparen und dann die menschenleere Inselnacht mit Adventsdekorationen zu illuminieren. Aber dann habe ich doch die Lichterkette aus dem Schrank gekramt und sie mit klammen Fingern durchs Efeu gewoben und um mein pieksendes Wacholderbäumchen gewickelt. Ist mein Wohnviertel ohnehin schon als „Geisterviertel“ verschrien, weil hier im Winter fast niemand wohnt, so will ich zumindest nicht selbst zum Geist werden und trotz physischer Anwesenheit in der Seelenlosigkeit, die die verwaisten Häuser und Ferienwohnungen atmen, untergehen. Jedenfalls leuchtet es jetzt trotzdem bei mir und irgendwelchen Berechnungen zufolge machen die paar LED-Lämpchen das Sparschwein auch nicht viel magerer, als es eh schon ist. Ein komplett lichtloser Advent würde dagegen noch an ganz anderen Reserven zehren. Auch was diese betrifft, ist es zurzeit nicht einfach; die Depression liegt stetig auf der Lauer und lässt sich nur noch schwer einhegen. Medikamente sorgen dafür, dass der schwarze Hund weitgehend eingesperrt bleibt, aber man darf ihn nicht aus den Augen lassen, denn dann schiebt er sofort seine gierigen Krallen unter der Zwingertür hindurch. Die Düsternis auch am Tage, der ewige Regen und eine Dämmerung, die bereits kurz nach 15 Uhr in den grauen Himmel sickert, macht die Sache nicht besser. Und so stelle ich täglich den Wecker, obwohl ich das nicht müsste, um nicht zuviel vom ohnehin spärlichen Tageslicht zu verpassen, setze Seele und Netzhaut dem mit Glück etwas hellerem Lichtstreif überm Meer aus, atme die aerosolhaltige Luft, schaue Möwen, Sanderlingen und Schneeammern zu und versuche, so irgendwie diese dunklen Tage zu überstehen ohne größere Blessuren. Mein Vogelhaus auf dem Balkon beschert mir zwar eine Menge zusätzlicher Putzarbeit (wer frisst, kackt auch ordentlich), bringt aber auch eine Menge wohltuendes Leben auf die Bude. Sogar ein Zaunkönig, über den ich mich immer besonders freue, kommt beinahe täglich vorbei. Dazu Meisen, Spatzen, Rotkehlchen, Drosseln. Ich stehe gerne am Fenster und schaue den Tieren zu. Wie sehr sie sich über das Wenige freuen. Auch wenn es unter ihnen natürlich auch eine Menge Streit um die Knödel gibt.

Streit ist auf der Welt rund ums Vogelhaus noch zur Genüge. Auch das lässt mich nicht wirklich los; es ist immer noch Krieg in der Ukraine, aber die Solidarität und das Mitgefühl nehmen spürbar ab, erschreckenderweise sogar im Bekanntenkreis. Die Ukrainer könnten das doch beenden, wenn sie verhandelten, heißt es. Aber was gibt es bei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu verhandeln? Diese Leute sitzen in ihren warmen Wohnzimmern und ich frage mich, wenn jetzt ein Einbrecher dort einmarschierte, würden diese Leute dann allen Ernstes anfangen zu verhandeln, damit der Überfall schneller vorbei ist? Den Kronleuchter ja, das Bild nein. Nein?
Und hätte ein Einbrecher da überhaupt Interesse dran? Zumindest wohl keiner, dem es um die ganze Immobilie geht und nicht nur ums Porzellan. Ich höre mir diesen Mist meist widerstandslos an, mir fehlt die Kraft, oft bin ich auch einfach feige, weil ich die Leute eigentlich mag oder zumindest mal mochte. „Mit dem Adolf hätten sie damals auch nicht verhandeln können, als er in Polen einfiel“, fällt mir vielleicht noch ein, aber spätestens, wenn sogar dazu noch Relativierungen kommen, hat mein Heldentum ein Ende. Es ist zwecklos.

Dieser Tage fällt es schwer, das Licht des Advents zu entdecken. Natürlich, in der Kirche hängt der Kranz und die Gemeindechefin sorgt auch dafür, dass die Adventskerzen dauerhaft leuchten. Hinzu kommen die Opferkerzen, die noch immer — auch um diese Jahreszeit — in erstaunlich großer Zahl entzündet werden. Im Fürbittbuch herzzerreißende Einträge, viele voll Trauer mit der Bitte um Trost. Etliche kirchliche Nachrichtenportale bemühen sich um frohe Botschaft dieser Tage, betonen die Wichtigkeit von Hoffnung als Kern des Glaubens. Die Hoffnung darauf, dass SEIN Licht immer da ist, auch wenn wir es kaum noch zu erkennen glauben. Ich glaube daran, aber es ist trotzdem manchmal anstrengend, danach Ausschau zu halten, und man muss viel Schutt in der Seele und um sich herum beiseiteräumen, um Zugang zum Licht zu bekommen. Ich weiß, dass es da ist, und dass man jederzeit Herz und Hände daran wärmen kann. Dennoch ist das an manchen Tagen mühsamer als an anderen: Kälte draußen, Kälte in der Gesellschaft. Und irgendwo ganz weit drinnen ein einziges, kleines, aber lebenserhaltendes Licht.

Die vielen Adventsfeiern, die ich beruflich besuchen muss, tun ein Übriges dazu, dass bei mir keine rechte Stimmung aufkommen kann, denn zu sehr verknüpfe ich Glühwein- und Plätzchenduft und dekoriertes Tannengrün inzwischen mit Arbeit. Die Freundin und ich versuchen uns Lichtinseln zu schaffen, in dem wir Kurzurlaube planen; einen Ausflug zum Weihnachtsmarkt auf dem Festland, einen Zoobesuch. Irgendwas, an dem wir uns, die Vorfreude wie ein Tau nutzend, durch die trübe Zeit hangeln können. Wenn mich in der dunklen Umklammerung des Winters die Enge meiner Wohnung zu ersticken droht und klamme Feuchtigkeit in alle Ecken zieht, versuche ich mir vor Augen zu halten, wie verdammt privilegiert ich allein durch das Vorhandensein von fließendem Wasser und Strom, sei er auch noch so teuer, bin; zumindest im Vergleich zur gesamten Weltbevölkerung. Wir jammern hier ja durchaus auf hohem Niveau, das ist schon richtig. Also will ich nicht undankbar sein, denn immerhin, und auch das ist mir beständiger Trost, habe ich ja noch die Weite des Meeres um mich und zumindest Richtung Osten die nahezu unberührte Natur der Dünenlandschaft und der Salzwiesen. Der Wetterbericht verspricht noch wenig Hoffnung auf hellere Tage, aber auch die werden kommen, sie kamen ja immer.

Wie merkwürdig hingetupft dieser letzte Satz klingt, denke ich. Wie ein unachtsam verprengter Farbklecks. Weil man irgendwann mal gedacht hat, dass die Leute nichts lesen wollen, was nicht zumindest mit irgendeinem Hoffnungsschnipsel endet. Vielleicht sollte man den Leuten aber auch einfach mehr zutrauen. Oder, zumindest manchmal, auch bewusst eine Zumutung sein.

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Allen Leser:innen wünsche ich eine gesegnete Adventszeit mit möglichst vielen Lichtinseln!

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Blaue Stunde

Die Blaue Stunde kommt früh dieser Tage. Es ist nicht einmal 16 Uhr, als sich eisblaues Licht über die Insel senkt und allem darauf und darum etwas Unnahbares verleiht. So, als betrachte man die Winterdämmerung wie ein Exponat in einer Glasvitrine. Das schwindende Licht lässt alles verwaschen wirken. Die stattliche Brandung mit ihren meterhoch sprühenden Gischtkämmen, die grauen Wolkenwalzen, die wenigen Menschen. Das Leuchtfeuer von Norderney blakt verloren in die viel zu frühe Dunkelheit.
Am Flutsaum sitzt eine Möwe, die sich mit einem glibberigen Happen abquält. Von allen Richtungen nimmt sie das Gebilde in den Schnabel, längs, quer, versucht zu schlucken, spuckt wieder aus … und letztlich hat sie es geschafft: Das Knäuel aus Plastiknetz und Fischresten rutscht die hungrige Kehle hinab, ich kann die Ausbuchtung im Hals von außen sehen. Das war jetzt dumm, Möwe, denke ich. Vermutlich wirst du daran sterben. Zugleich fühle ich mich schlecht, denn ich hätte die Möwe verscheuchen können, als ich durch den Zoom meiner Kamera sah, mit was sie sich da abplagte. Ich habe es nicht getan, ich hätte ein Möwenleben retten können. Sie wäre doch eh sofort wiedergekommen, versuche ich meine Schuldgefühle zu besänftigen. Sie hätte um jeden Preis versucht, das zu essen. Und wenn nicht das, dann den nächsten Plastikmüll. Trotzdem war es falsch, denke ich, ich hätte sie retten können, und sei es auch nur für die nächsten paar Minuten.
Es wird schon zuviel gestorben in diesem November.

In meinem Lieblingsorden musste einer der Mönche viel zu früh heim zum HERRN, Leukämie, entsetzliche Sache. Und täglich sterben Unzählige an Corona; die vierte Welle ist über das Land gebrochen, so kalt und unbarmherzig wie diese Winterdämmerung. In den asozialen Medien sind binnen weniger Minuten Lachsmileys unter solchen Meldungen, Relativierungen und jede Menge anderer Zerebraldurchfall, dabei kann Merkel nicht einmal mehr alles Schuld sein, weil Merkel in Kürze nach 16 Jahren a.D. ist, noch etwas, was dieses Jahr prägt, und natürlich auch mich. Zweifelsohne bin ich ein Kind der Kohl-Ära, ich wuchs mit Birnenwitzen auf. Als Merkel Kanzlerin wurde, eilte ich gerade durch irgendeinen Münchner U-Bahnhof, eine Boulevard-Zeitung titelte: „Es ist ein Mädchen!“ Der Duden schuf unverzüglich Platz für das Wort „Bundeskanzlerin“, „Kapitänin“ folgte ungefähr zeitgleich. Und mittlerweile gibt es wohl Kinder, die fragen, ob auch ein Mann Bundeskanzlerin werden kann. Es war mitnichten alles schlecht.

Nun aber ist endgültig Schicht am Schacht für unsere Bundesphysikerin, die ich aufgrund ihrer uneitlen Unaufgeregtheit meistens mochte, wenn auch nicht ihre Partei. Auf jeden Fall gibt mir auch dieses Ereignis das Gefühl, dass dieses Jahr nur so an mir vorbeigerast ist — in einem Tempo, wie ich es mir von der Deutschen Bahn so manches Mal gewünscht hätte. Kein außerplanmäßiger Halt nirgends, kein Stillstand auf freier Strecke.

Übermorgen ist der Erste Advent. Ich texte die Freundin an, ob sie mir am Strand entgegenkommen möchte, denn auf einmal möchte ich nicht mehr allein sein unter dieser eisblauen Winterglocke, aus der bald alles Licht abgesogen sein wird. Sie hat gerade Feierabend und heute auch noch kein Tageslicht gesehen; seelisch dürstend strecken wir unsere Gesichter den letzten paar Lux vom Himmel entgegen und atmen noch ein paar Lungenvoll klare Meeresluft. Bald setzt nadelspitzer Eisregen ein.

Ich habe der Freundin ein paar Hausschuhe gekauft und sehe auf diese winzigen grünen Filzschläppchen, als ich meine sandverkrusteten Stiefel daneben ausziehe. Vielleicht ist doch nicht alles nur an mir vorbeigerast dieses Jahr, denke ich. Es gibt da ja doch noch etwas, das sich mit einer wärmenden, aber nie anmaßenden Selbstverständlichkeit in meinem Leben ausgebreitet hat; so wie die Wärme, die sich nun über den eingeschalteten Heizkörper in den klammen Zimmerecken verteilt.
Wir haben nun beide zwei Zuhause auf Langeoog, und das ist für mich ein sehr angenehmes Maß von Nähe, die weder besitzt noch einengt, auf die aber dennoch Verlass ist. Ich wusste nicht, ob wir das schaffen. Oder besser: Ob ich das schaffe. In einem großen Areal meiner Seele werde ich wohl immer ein Einzelgänger sein, aber es tut auch gut, dass die wenigen Gesellschaftsräume meines Herzens nun nicht mehr ganz unbewohnt vor sich hinstauben, mit blinden Spiegeln und fadenscheinigen Tüchern über allem darin. Nun aber, nach fast zwei Jahren, wächst das Vertrauen auf etwas, bei dem man zwangsläufig noch einmal an die scheidende Bundeskanzlerin erinnern muss: „Wir schaffen das.“

Ankommen ist eine schöne Sache. Auf dem Bett steht der Karton mit der Adventsdeko, mit der ich die Ankunft des HERRN in diesem Jahr zelebrieren möchte. Etliches habe ich nicht wiedergefunden, denn was Advents- oder Osterdeko angeht, bin ich ein Eichhörnchen: In dieser Kiste fnde ich es ganz sicher wieder. Dieser Platz ist idiotensicher. Ordentlich weggepackt, steht das Zeug dort den Rest des Jahres nicht im Weg herum. Ja, und dann ist der Advent immer wieder zu schnell da und die Kisten sind weg.
Ich wühle in dem, was noch da ist, und schalte die Lichterkette an. Warmweiße Sterne strahlen, die Batterie hat durchgehalten. Im Regal steht die Krippe, ein sehr geliebtes Geschenk meiner Eltern. Maria, Josef mit der Laterne, das Baby, die Schäfchen. Alle haben treu gewartet, alle haben eine Schicht Staub angesetzt, die ich mit einem Mikrofaserlappen vorsichtig abwische.
Deine Welt, HERR, ist ziemlich kaputt, denke ich, als ich den Stall wieder häuslich herrichte. Der Stern am Dachgiebel fällt zwei Mal herunter, als ich den winzigen Holzpin ins Gebälk zu drücken versuche. Aber dann sitzt er: Das Licht wird kommen.
Draußen ist schwarze Nacht.

Adventsleuchten

Im Fährhaus sitzt ein Mann mit einem Dinosaurier im Arm. Es ist ein großer Plüschdinosaurier, der aus aufgestickten blauen Augen in die Kälte der leeren Halle lächelt. Vermutlich wartet der Mann hier auf seine Familie, oder er hat den Saurier als Geschenk gekauft und bringt ihn jetzt heim zu seinen Lieben. Weihnachten naht: Das Fest, das man so sehr mit Wärme verbindet, mit Zusammensein, mit Geborgenheit und Freude. Das Fest, an dem man weiche Plüschtiere in erwartungsvoll ausgestreckte Ärmchen drückt, ohne sich dabei um Abstand und Infektionsrisiken Gedanken zu machen. Dieses Jahr wird Weihnachten anders sein.
Langeoog befindet sich inmitten des zweiten Lockdowns; die Infektionszahlen sind bundesweit furchterregend. In anderen Jahren wäre der Advent am Anleger längst spürbar gewesen. Aufgeregte Familien mit großen Taschen voller Pakete. Leuchtende Dekorationen, leuchtende Augen. Menschen, die die klammen Finger an Heißgetränken in der Fährhaus-Gastronomie wärmen und selig aufs dunkle Wasser schauen; die Konturen der Insel bereits erahnend.
Jetzt aber hat die Gastronomie geschlossen. Der Zugang zum Restaurant ist abgesperrt mit Stühlen und Barrikaden. Es ist ungemütlich. Durch die zum Lüften geöffnete Tür ziehen die Nikotinschwaden der Rauchergruppen; feuchte Kälte im Geleit.
Von Urlaubsstimmung ist nichts zu spüren, was aber nicht weiter verwundert: Schließlich sind gar keine Touristen da. Abgesehen von Tagesgästen, ArbeiterInnen und Zweitwohnungsbesitzenden sind die Inselbewohnenden ein zweites Mal in diesem Jahr unter sich.
Der Mann mit dem Saurier hat nun auch seine Frau wiedergefunden. Sie trägt eine große Tasche mit Einkäufen. Beide schauen müde aus ihren gefütterten Krägen und verziehen sich schnell zum Ausruhen unter Deck.
Die meisten hier kennen sich; geredet wird dennoch nicht viel. Die Monitore mit den Reiseinformationen sind ausgeblendet, aber immerhin der Bordkiosk hat geöffnet.
Ich blicke dankbar in einen heißen Becher mit Kaffee, den mir ein unbeirrt freundlicher Mitarbeiter der Schifffahrt über seinen Tresen schiebt. Die sanften Schiffsbewegungen lassen die dunkle Oberfläche erzittern, in der sich die Deckenlampen spiegeln.

Licht. Auch dafür steht Weihnachten, denke ich: Licht. Und zum Glück gibt es auch noch etliche Geschäftstreibende und Privatleute auf Langeoog, die ihre Weihnachtsdeko nicht nur für die Gäste herauskramen, sondern auch für ihre MitinsulanerInnen. Und für sich selbst vermutlich. Auf diese Weise büßt die Insel zumindest optisch nicht viel vom gewohnten vorweihnachtlichen Glanz ein. Irgendeine gute Seele hat sogar die als Solitär wachsende Tanne unweit des Dünenfriedhofs geschmückt — eine Geste, die mich auf eigenartige Weise tief berührte. Auch ich habe meinen Balkon illuminiert, obwohl in meinem Viertel zurzeit so gut wie niemand wohnt. Aber ich mag es, wenn mich die warmen Lichter beim Heimkommen begrüßen und ich mag das warmweiße Flimmern, das ich von innen durch das Balkonfenster sehen kann.

Die Tage sind kurz. Nach einem grauverregneten Tag hat es zum Sonnenuntergang hin noch einmal aufgeklart. Ich nehme die Freundin mit zum Strand und wir beobachten, wie der Himmel zu glühen beginnt. Wie ein Fingerzeig Gottes dringen goldene Sonnenstrahlen zur Erde und zum Meer. Die Strahlen quellen aus bedrohlich-dunklen Wolken, und ich denke, dass man den Sieg des Lichts über die Dunkelheit nicht schöner illustrieren könnte. Jetzt spiegelt sich die Farbe des Abendhimmels auch in den Prielen und in den nassglänzenden Flächen am Flutsaum. Ein einzelner Sanderling flitzt emsig darin hin- und her. Wir wundern uns darüber, weil die kleinen Vögelchen, die nicht grundlos auf Plattdüütsch „Keen Tied“ heißen, sonst immer in Gruppen auftreten. Aber es sind weit und breit keine anderen Sanderlinge zu sehen. „Guck mal, der macht auch social distancing“, sage ich zur Freundin. Es sind seltsame Zeiten. Und ich bin froh, dass da noch jemand ist, dem ich nah sein darf.

In anderen Zeiten hätte man sich jetzt schon gnadenlos an Spekulatius überfressen. In anderen Zeiten hätte ich dienstlich schon so viele Adventsfeiern besuchen müssen, dass ich mich nach einer Stillen Nacht gesehnt hätte. In anderen Zeiten wäre die Kirche so voll gewesen wie die Leute am Glühweinstand und Scharen von Kindern hätten sich dem als Nikolaus verkleideten Kurpriester begeistert ans Gewand gehängt.
In diesem Jahr aber kam sogar ich in den Genuss eines Schokoladen-Bischofs, weil so wenig Kinder da waren, dass der Nikolausdarsteller auch für alle Erwachsenen noch etwas aus dem Sack kramte.
Der Glühweinstand ist verboten wie der Rest an Gastronomie auch. Mancherorts kann man noch Essen mitnehmen. Alles andere geschieht im Privaten. Das öffentliche Leben pausiert.

Zweifelsohne sind all diese Maßnahmen gut und richtig, und es gibt keinen Tag, an dem ich nicht Gott dafür danke, bisher von dem Virus verschont geblieben zu sein. Auch meine Eltern sind nicht erkrankt; ebensowenig wie die Liebste. Aber ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist: Die Einschläge kommen näher; im Freundeskreis gibt es Tote zu beweinen. Ein liebgewordener Bekannter liegt auf der Intensivstation.

Nun mag es schwer erscheinen, in all diesem Leid, in dieser Dunkelheit und dieser Vereinzelung noch Weihnachten zu finden. Freilich, da ist der Adventskranz auf dem Tisch. Da ist die Pastoralreferentin, die schön und klar von der Menschwerdung Christi singt. Da sind die Kerzen und Lichter, die trotz allem an Fenstern und Fassaden drapiert wurden, obwohl sie meistenteils leere Straßen beleuchten. Da sind die in Tüten und Kartons bereitstehenden Geschenke, die bunten Papierrollen und glänzenden Bänder, die festlichen Weihnachtskarten. Und plötzlich frage ich mich, ob genau darin eigentlich nicht noch mehr Weihnachten liegt als sonst.
Denn beinhaltet die Adventszeit nicht die Aussicht auf Erlösung? Die freudige Erwartung besserer Zeiten? Ist der Advent, ist Weihnachten nicht pure, wärmende, wundervolle Hoffnung?
Und Hoffnung gibt es.
Denn auch im Pandemiegeschehen tut sich etwas: Ein Impfstoff ist in Kürze verfügbar; erste Impfzentren werden eingerichtet. Vielleicht naht also auch hier die Erlösung. Vielleicht können wir also auch hier bald besseren Zeiten entgegengehen. Und vielleicht tun wir das sogar mit demütigeren, dankbareren Herzen als zuvor. Weil uns genau das Weihnachten, was so anders war, gezeigt hat, was Weihnachten eigentlich ist.
Und selbst wenn man diese wahrlich frohe Botschaft außer Acht ließe — ist es nicht allein schon tröstlich, dass auch in diesem Jahr Weihnachten ist? Eine herzwärmende Konstante, deren Flamme keine Pandemie, kein Krieg, kein persönliches Leid vernichten kann. Weihnachten ist. Und Weihnachten wird sein.

Absurderweise wird ausgerechnet im Pandemiejahr das erste Weihnachtsfest seit Langem sein, das ich nicht alleine verbringe. Gottes Humor in dieser Angelegenheit verstehe ich zwar manchmal immer noch nicht ganz, aber sicher ist, dass sie ein großes Geschenk war — und noch immer ist mir die Liebe ein tägliches kleines Wunder.
Am späten Abend mache ich mich auf zur Freundin. In nur wenigen Häusern brennt noch Licht; auch die raren Straßenlaternen vermögen kaum die Wege zu erhellen. Vor meiner Fahrradlampe tanzen erste Schneeflöckchen. In einem Baum hat sich ein Schwarm Finken zum Schlafen niedergelassen. Mit ihrem aufgeplusterten Gefieder sitzen sie in den kahlen Zweigen wie Christbaumkugeln. Und am Ende der Straße ist jemand, der auf mich wartet.

Momentaufnahme, Ende

Nach einem sehr warmen Dezember hat nun der Winter Einzug gehalten auf Langeoog. Das Jahr hat nur noch wenige Tage. Die Nacht umrahmt ein so prachtvoller Sternenhimmel, wie ihn nur winterliche Inseldunkelheit hervorbringt. Ich stehe am Fahrrad und kratze Eis vom Sattel; das erste Mal in diesem Jahr. Ich weiß nicht, wo die letzten Wochen, der ganze letzte Monat geblieben sind. Selbst Weihnachten passierte dergestalt nebenbei, wie es eigentlich nicht passieren sollte. Es gab unzählige Adventsfeiern und -veranstaltungen, die ich dienstlich besuchte; dazu die ein oder andere dem Tag abgerungene Werktagsmesse; an den Sonntagen konnte ich nicht. Am ersten Weihnachtstag war frei. Ich erinnere mich an einen wohligen Kokon aus Nichtsmüssen, in Ruhe gekochtem Essen und nochmaliger Lektüre unzähliger Postkarten und Briefe, die mich in den Tagen zuvor erreicht hatten; soviel Liebe zwischen den Zeilen. Und dann war auch das Fest schon wieder vorbei.

Für viele meiner Freundinnen und Freunde oder Menschen im weiteren Bekanntenkreis war es kein frohes Fest. Sehr viele Elternteile verstarben dieses Jahr oder erkrankten schwer; teils wurden auch junge Menschen aus dem Leben gerissen. Langjährig treue Haustiere mussten für immer verabschiedet werden. Es wurde sich zerstritten oder getrennt, Babys wurden verloren und Arbeitsplätze. Dann sah man diese Menschen an, um deren Schicksal man wusste, und ahnte die Tapferkeit, die sie aufbringen mussten, um reihum „fröhliche Weihnachten“ zu wünschen, weil man das eben so machte. „Gesegnete Festtage“ sagte ich, der Neutralität halber, denn damit litt es sich hoffentlich etwas weniger.
Ich wurde mir des Luxus bewusst, meine Eltern wenigstens noch am Telefon bei mir haben zu können an Weihnachten, denn etliche meiner Freundinnen und Freunde konnten das nicht mehr. Reihum sah man, wie teils Ü50jährige im Freundeskreis wieder zu Kindern wurden und über Weihnachten heimfuhren zu Eltern, sonstiger Familie, Gans und Baum. Dann schliefen sie in ihren alten Kinderzimmern, fanden Erinnerungen wieder und Fotoalben. Und dann gab es jene, in deren Elternhaus nun Planen über den Möbeln lagen und durch dessen Zimmer Fremde als potentielle Käufer schritten. Und jene, deren Elternhaus bereits abgerissen worden war. Und jene, die nie eins hatten.
Auf der anderen Seite: Die Selbstverständlichkeit, mit der allerorten „Frohe Festtage im Kreise Ihrer Familien“, „schöne Weihnachten im Beisein Eurer Lieben“ und so fort gewünscht wird, als sei ein Alleinsein an Weihnachten oder die Abwesenheit einer Familie, sei es durch traumatische Erlebnisse oder den Tod, vollkommen ausgeschlossen. Oder eines der letzten Tabus unserer Zeit. Ich fürchte, Letzteres.
Ich versuchte, über die Weihnachtstage so viele Bekannte wie möglich zu kontaktieren, von denen ich wusste, dass sie unter irgendeiner Form von Verlust und Ausgeschlossensein litten. Nicht aus Mitleid. Sondern weil ich wusste, wie es war, in dieser Gesellschaft unsichtbar zu sein.

Nun ist die Zeit angebrochen, die etwas mysteriös als „die Zeit zwischen den Jahren“ bezeichnet wird. Eine Zeit, in der man einerseits noch hektisch Dinge zuende bringen will, es sich andererseits aber auch noch nicht wirklich lohnt, etwas Neues anzufangen — denn waren dafür nicht erst die Neujahrsvorsätze gut? Es ist eine Zeit, in der viele Menschen Bilanz ziehen. Auch ich tue das.
Über mein Jahr kann ich nicht klagen. „Still a pretty good year“ höre ich im Geiste Tori Amos singen; eine Frau, die mich in meiner Jugend mit ihrer keltisch-ätherischen Schönheit, ihrem Talent, ihrer Verletzlichkeit, dem Stolz in ihrer Nacktheit und der Anmut in ihrer Wut geradezu hypnotisierte. Inzwischen hat die plastische Chirurgie ihr leider eine Menge Seele aus dem Gesicht geraubt — aber die Faszination ist geblieben.
Auf jeden Fall habe ich keinen Grund zum Hadern; alles, wovor ich Angst hatte, ging gut aus oder ist in stabile Bahnen gelenkt. Es gibt keinen Verlust zu beklagen, der rückblickend nicht unumgänglich oder gar begrüßenswert gewesen wäre. Und alles, was ich liebe, ist noch da. Mehr, denke ich, kann man von so einem Jahr eigentlich nicht verlangen.

Ich erahne bereits den Horizont. Mit der Morgendämmerung glitzern gefrorene Reifenspuren auf dem Backsteinpflaster meiner Straße. In meinen Träumen glitzert der Wienerwald im Winterkleid, rattert der Nachtzug bereits einer niederösterreichischen Morgendämmerung entgegen. 
Dem Wetterbericht nach wird es in Wirklichkeit zwar nichts mit Schnee im Wald, aber das ist mir jetzt reichlich egal, denn die nahende Reise hilft mir, das alte Jahr erwartungsfroh und ohne Sentimentalitäten hinter mir zu lassen. Der Wanderrucksack steht längst gepackt in der Zimmerecke.
Er ist, trotz mehrfachen Umpackens und Neusortierens, ziemlich schwer, aber ganz ohne Gepäck geht es halt nicht hinüber: Weder ins neue Jahr, noch in den Wienerwald.
Beim Anblick des Rucksacks muss ich wieder an die Freundinnen und Freunde denken, welche in diesem Jahr mit wirklich schwerer Last neu starten müssen. Mit der Last von Krankheit, Angst, Trauer, Armut oder Hoffnungslosigkeit. Mit Streit, Mobbing oder Verachtung. Ich hoffe, dass sie Erleichterung finden. Und dass ihnen Gott tragen hilft.

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Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich einen guten Übergang ins Jahr 2020 — mit Freude, Gesundheit und Geborgenheit in allem Kommenden.

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Momentaufnahme, Knotenpunkt

Nun gibt es ja Menschen, die der Ansicht sind, Katholiken wären alle nicht mehr ganz dicht, oder, um es der Jahreszeit angemessen auszudrücken: Hätten nicht alle Kerzen auf dem Adventskranz. Und angesichts dreier Gestalten, die, lediglich von dem Motto „Das Licht des Herrn leuchte uns“ beschienen, in völliger Dunkelheit am Strand entlang durch den Sand stapfen, scheint das gar nicht so abwegig.
„Da verbinden sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns …“ singen sie; dann marschieren sie weiter, verschluckt von der Schwärze der Inselnacht, am Vorabend des ersten Advent.
Eine der drei Gestalten bin ich.
Ein nächtlicher „Adventsgang“ war angekündigt und ich rechnete mit einem kurzen Marsch um die Kirche, mit einigen Stationen des Innehaltens, Singens, Hinein- und Hinaushorchens; zumal wenige Minuten vor Beginn noch ein gewaltiger Wolkenbruch auf die Insel niedergegangen war.
Nun ist der Beginn einer Bußzeit aber offensichtlich nichts für Verweichlichte, und so wurde die alte Seenotbeobachtungsstelle als Ziel angegeben; eine Dreiviertelstunde Marsch von der katholischen Kirche entfernt. In völliger Dunkelheit, mit nichts ausgestattet außer mit dem Vertrauen auf den, der alle Wege kennt.

Ich bin nachtblind. Ich erkenne im Dunkeln maximal noch starke Kontraste, und generell mag ich die Dunkelheit nicht. Ich schließe niemals die Rollläden ganz und kaufe auch keine Gardinen, die jedes Licht fernhalten. Mein Vertrauen auf Gott wuchs mit den Jahren, ich bin froh darüber — aber mein Vertrauen in die Menschheit und in die Nacht bleibt wohl noch länger ausbaufähig. Nun aber muss ich vertrauen. Auf meinen Körper, meinen Gleichgewichtssinn, mein Gehör, meine Erinnerung an die im Hellen so oft beschrittenen Wege, die nun kaum mehr als fleckige Schatten links und rechts von mir sind. Und vor mir liegt nichts als Dunkelheit.

Die Ansammlungen von Teek am Strand sehen bei Nacht aus wie Krallenhiebe eines gigantischen Ungeheuers. Am Horizont blinken die roten Lichter der Windparks, dazu leuchten all die riesigen Frachter auf Reede. Im Nordosten gleitet der Schein des Leuchtfeuers von Helgoland über die schwarze See, im Westen blinkt das von Norderney. In erschreckendem Maße wird mir dabei bewusst, wie sehr die Deutsche Bucht schon zum Verkehrsknotenpunkt der internationalen Schifffahrt geworden ist; wie dicht gedrängt hier die Container von A nach B gefahren werden, obwohl sie, wie etliche Stürme bereits zeigten, in B zum Teil nicht einmal ankommen werden. Und dann liegen die Container für wer weiß wie lange auf dem Grund des Meeres, neben Tausenden toten Soldaten und anderen glücklosen Seelen, welche sich die See im Laufe der Jahrhunderte einverleibte. Und all der über Bord gespülte Müll von Kreuzfahrtriesen, Konsumgier und Berufsschifffahrt wird noch Jahrzehnte später an Strände gespült, schlimmstenfalls mit einem qualvoll verendeten Tier drumherum. 
„Macht euch die Erde untertan“ heißt es in der Bibel, aber in diesem Moment denke ich einmal mehr, dass es die Menschheit damit schon gewaltig übertrieben hat.

Außer der Insel-Seelsorgerin, die die Andacht leitet, ist nur der Kurpriester zum Adventsgang gekommen; beide sind mir sympathisch, was beim Bezwingen der Angst vor dem Dunkeln hilft. Niemand schwätzt; der verheißene Gang in Stille wird wirklich ein Gang in Stille. Meine beiden Weggefährten sind so ruhig, dass ich sie nicht einmal atmen höre; nur ihre leisen Schritte im Sand bieten mir Orientierung. Ungefähr alle 500 Meter bleiben wir stehen, beten und singen ein kurzes Lied. 
In einiger Entfernung rühren sich Seevögel, aber es ist keine übermäßige Unruhe im Schwarm; ich hoffe, wir haben sie nicht gestört.
Die Sicht wird nicht besser: Nachtblind ist nachtblind. Aber ich stelle fest, dass mir die Beschaffenheit des Sandes unter meinen Füßen bereits Aufschluss darüber gibt, an welchem Strandabschnitt wir uns ungefähr befinden mögen und es ist ein herzwärmendes Gefühl, doch schon so sehr mit der Insel verwachsen zu sein. Der dunkle Dünenfuß zu meiner Rechten ist mein Ariadnefaden, meine Schritte werden mehr und mehr sicher; irgendwo hinter mir sind meine Begleiter. Ich merkte nicht einmal, dass ich sie überholte.

Wir verlassen den Strand an einem mir sehr vertrauten Überweg. Durch schwarze Dünentäler geht es auf kurvenreichen Pfaden hinauf, hinab und wieder hinauf zur Aussichtsplattform. Dann sind wir oben, und es beginnt erneut zu regnen. Aber der Regen macht mir nichts, denn längst haben sich der Frieden und das Wunder dieses Nachtganges in mein Herz gegossen, das am Tage noch unruhig und angstvoll gewesen ist. Ich lernte: Es tut gut, zu vertrauen. Es lohnt sich, auch einmal die Kontrolle abzugeben. Es ist ein großartiges Gefühl, zu wissen, dass sich sogar ein beherzter Schritt in die Dunkelheit lohnen kann. Und dass es sich lohnt, sich seinen Ängsten zu stellen.

Der Priester hat einen Schirm dabei, er hält ihn väterlich über die Seelsorgerin und mich. „Es kommt ein Schiff geladen“, singen wir. Ich mag das Lied; nicht nur, weil es so gut an die Küste passt. Ich mag seine Bilder, und die getragene Melodie mag ich auch. 
„Das Schiff geht still im Triebe / es trägt ein’ teure Last / das Segel ist die Liebe /der Heilig’ Geist der Mast.“

Wieder zuhause, kommen die Sorgen des Tages zurück. Aber es ist schon weniger schwarz am Horizont.
*** Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern einen gesegneten 1. Advent ***


 

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Momentaufnahme, Goldenes Handwerk

Der volle Mond wirft seinen Lichtschein durch eine dünne Schicht kleiner Schäfchenwolken, die sich um den Erdtrabanten drängen wie eine Wärme suchende Herde. Das Licht bricht sich an den zirkulierenden Eiskristallen der Atmosphäre in bunten Spektralfarben.
Einige Luftschichten tiefer, auf der Erde, ist es für Dezember recht warm.
In zwei Tagen ist Heiligabend.

Die Insel füllt sich; viele verwaiste Ferienwohnungen sind nun abends wieder beleuchtet. Auch in den Regalen der Lebensmittelmärkte wurde erneut aufgerüstet. Für die Angestellten auf Langeoog zieht der Stress nun wieder an, aber dennoch scheint die Welt kurz vor Weihnachten immer auf eine wundersame Weise stillzustehen.

Der Advent ist, wenn auch für die meisten nicht mehr als Bußzeit, so doch als Wartezeit erspürbar. Zumindest, wenn man sich, wie ich, relativ geruhsam auf die Feiertage vorbereiten kann.

Auf den Baustellen wurde die Arbeit jetzt niedergelegt. Etliche Gerüste wurden abgebaut; Halbfertiges festgezurrt und abgesperrt. Letzte Handwerker machen sich mit ihren Werkzeugkoffern auf zur Fähre, während die Welt die Ankunft des wohl bekanntesten Zimmermanns erwartet.

Ich denke an die historisch ziemlich unbeleuchteten, jungen Erwachsenenjahre Jesu — bevor er als Wanderprediger bekannt wurde — und frage mich, wie es IHM heute als Zimmermann auf Langeoog wohl ergehen würde. Würde man ihn mit Respekt behandeln, pünktlich bezahlen, würde ein Kollege vielleicht seine Pausenration mit ihm teilen, ein Bauherr ihm bei Schietwedder mal einen Kaffee zum Wärmen der Finger ausgeben? Würde er eine bezahlbare Bleibe finden?

Ich frage mich, wie es ihm wohl wirklich ergangen ist, damals in Galiläa. Vielleicht hatte er einen Esel dabei, um Baumaterial, Lot, Wasserwaage und Werkzeug zu den Baustellen zu transportieren. Vielleicht hatte er einen Handkarren, vielleicht auch nur eine Schulterkiepe. Ein Stück Stoff mit eingewickeltem Proviant: Brot, Obst, Trockenfleisch oder -fisch. Einen Wasserkrug. „Jesus war in Allem Mensch, außer in der Sünde“ las ich einmal irgendwo.

Ich stelle mir den Heiland vor, wie er in der Arbeitspause auf einem niedrigen Mäuerchen sitzt. Seine Kollegen werden Zoten gerissen haben, wie auf allen Baustellen Zoten gerissen werden, möglicherweise gab es auch Bier oder dünnen Wein. Jesus schalt sie aber sicher nicht dafür, solange es nicht bösartig wurde, denke ich, vermutlich saß er einfach nur dabei und lächelte nachsichtig. Aber wenn es gemein wurde, dann griff er mit Sicherheit ein.

Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit an einen Kindergottesdienst, bei dem ein Kind gefragt hat, ob Jesus auch aufs Klo gegangen sei. Und noch deutlicher erinnere ich, wie die anwesenden Erwachsenen bei dieser Frage scharf die Luft einsogen. Nervöses Stottern war die Folge. 
„Getrunken und gegessen hat er“, presste schließlich jemand mutig hervor, „Das steht zumindest recht eindeutig in der Bibel.“ Und dass man sich den Rest dann wohl denken könne.
Heute denke ich, dass es doch irgendwie schön ist, wie unbefangen sich Kinder der Materie nähern. Für Kinder gibt es noch keine ungehörigen Fragen. Und auch ich fand die Frage damals eigentlich nicht schlimm.
Im Gegenteil: Ich fand es als junger Mensch immer schön, Jesus als echten Freund zu sehen. Als Gott zum Anfassen. Den man immer hatte, auch wenn man niemanden sonst hatte. Der verstand, verzieh und niemals petzte. Der einen so sah, wie man von Gott gemeint war.
Den Heiligen Geist, GOTT, die Dreifaltigkeit: All das begriff ich erst später. Aber dass Jesus Mensch war wie wir, nur ohne miese Eigenschaften — das hingegen verstand ich sofort.

Wie war Jesus als Teenager? Bestimmt auch mal aufsässig oder unmotiviert. Aber er mobbte oder versetzte mit Sicherheit niemanden. Wie war Jesus als Schüler? Vielleicht nur mittelprächtig. Und doch verstand er mehr als jeder andere. Und als Arbeiter, als Zimmermann? Ich stelle ihn mir sehr zuverlässig vor, sehr gründlich. Aber niemals verbissen. Und kein Karrierist. Ich denke, wenn Jesus einfache Tische und Bänke für eine Taverne zimmerte, nahm er den Auftrag genauso ernst wie den, einen Palast auszubauen. Freundlich wird er gewesen sein, bescheiden, aber bestimmt. Jemand, der nichts und niemanden ausnutzte, der sich aber auch nicht ausnutzen ließ. Ein Vorbild durch alle Zeit, bis heute.

Und nun feiern rund 2,2 Milliarden Christinnen und Christen in zwei Tagen seine Geburt, weltweit: Seine heutigen Handwerkskollegen feiern ihn, der Papst feiert ihn, arme Menschen und reiche, manche allein, andere in Gesellschaft. Es gibt Darstellungen, die das Christuskind in Königsgewändern zeigen, mit allem Prunk und Gold. Es gibt Darstellungen, die das Christuskind in absoluter Armut zeigen: Im Stall, mit einem Lumpen als Windel; seine Eltern als einfache Leute, ohne Gold, ohne Heiligenschein. Und tatsächlich mag ich beide Betrachtungsweisen.
Ich finde es schön, in dem armen Kind den Himmelskönig zu sehen. Und in dem König das arme Kind.

Ich bin kein Theologe. Ich weiß mich nicht besonders schlau zu Weihnachten zu äußern, tatsächlich bin ich nicht einmal besonders bibelfest und schnorre mir mein Wissen bislang bedarfsweise bei befreundeten Theologen zusammen. Aber das Schöne an genau diesem Weihnachten ist, dass ich es vielleicht nicht besser verstehe, aber doch mehr fühle als alle anderen Weihnachtsfeste zuvor. Es liegt so etwas Beruhigendes darin, so ein Frieden. Ja: Ich fühle mich weihnachtlich.
Ich fühle die Hoffnung, die dieses arme Kindlein uns immer wieder aufs Neue bringt. Das arme Kind, dass damals für so viele ein Nichts gewesen ist. Und das heute für so viele Alles ist. Ich fühle die Erlösung, die Gnade und Vergebung, die uns das Fest verheißt: Gott ist barmherzig, auch wenn es die Menschen nicht sind. Und Weihnachten bringt auch dem Traurigsten, der an die Botschaft glaubt, einen Grund zur Freude, denn niemand ist allein, der Jesus einen Platz frei hält. Nicht einmal die eigene arme Hütte muss einen da beschämen — denn diesbezüglich ist ER, der sein Leben in einer Krippe begann, ja nun wirklich alles gewohnt. Was sollte IHN da eine billig möblierte Einzimmerwohnung stören oder ein Würstchen mit Kartoffelsalat statt Festmenü?

Vielleicht ist meine Vorstellung von Jesus noch immer kindlich. Aber ich glaube daran, dass er dort gerne einkehrt, wo er willkommen ist und wo man ihn freundlich empfängt. Und ich mag die zentrale Botschaft Christi, die radikale Nächstenliebe, selbst wenn ich oft weit davon entfernt bin.
Tatsächlich finden auch etliche meiner eher kirchenfernen Freunde — sogar jene, die sich als Atheisten bezeichnen würden — : Dieser Jesus, das war ein Guter.
Vermutlich hätten sie ihm, damals auf der Baustelle, auch mal einen ausgegeben.Bildschirmfoto 2018-12-22 um 20.42.20

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, allen Freundinnen und Freunden gesegnete Weihnachtstage und einen gesunden Start ins neue Jahr!

Lesungs-Nachlese

Lesungs-Nachlese: Vielen Dank für einen sehr stimmungsvollen Abend in gemütlicher Atmosphäre. Der Gulfhof Friedrichsgroden ist eine wunderschöne Location gleich hinterm Deich … unweit der Friedrichschleuse und des historischen Hafens in Carolinensiel. Ich danke meinen aufmerksamen und interessierten Zuhörerinnen und Zuhörern, für die ich nicht nur gelesen habe — Alle zusammen sangen wir auch Weihnachtslieder, denn schließlich fand die Lesung im Rahmen des „Lebendigen Adventskalenders“ des Kirchenkreises Harlingerland statt. Eine tolle Aktion!

12.Dez.: Lesung in Carolinensiel

Im Rahmen des „Lebendigen Adventskalenders“ des ev. Kirchenkreises Harlingerland habe ich die Ehre, am 12. Dezember auch im wunderschönen Gulfhof Friedrichsgroden in Carolinensiel lesen zu dürfen. Etwa eine Stunde lang wird es ausgewählte Geschichten mit winterlicher (Insel-)atmosphäre oder Glaubensthemen geben. Ich freue mich sehr und danke herzlich Joke&Romy vom fabelhaften Wattwanderzentrum Ostfriesland für die Einladung!

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Wunderschöne Location — Bilder (C)Gulfhof, mit bestem Dank für die Erlaubnis zum Zeigen!

Momentaufnahme, Gefährte

Es ist eine sternenklare, kalte Nacht. Auf den Straßen ist es dunkel und absolut still. Um diese Zeit ist kaum ein Haus bewohnt, nur ab und an sieht man einen Lichtschein aus einem der Fenster: Feriengäste, welche die Einsamkeit des Inselwinters schätzen oder einer der wenigen Dauerbewohner in meinem Viertel. 
„Geisterviertel“ werde es von einigen auch genannt, verplapperte sich mir gegenüber einst eine Insulanerin, weil dort gar niemand wohne im Winter.
Mir mache das nichts, sagte ich damals, es sei schön das Haus mal für sich zu haben; die Straßen, den Strand. Ohne das ständige Kommen und Gehen, ohne das zwangsläufige Mitanhören von fremdem Streit und Geplänkel.


Aber manchmal ist es schon ein bisschen unheimlich in diesen Winternächten, mit dieser gewaltigen Schwärze der Nacht über und um einem, welche die winzigen Lichtkegel der spärlich gesääten Straßenlaternen nicht zu durchbrechen vermögen. Am Himmel Myriaden von Sternen, die Milchstraße und einzelne Wolkenbänder wie silbrige Flüsse in der Dunkelheit. Still ist es. Nichts hört man außer dem Wind, dem eigenen Atem und dem leisen Aneinanderschaben der Kleidungsschichten bei jedem Schritt. Beim Fahrradverleih um die Ecke singt ein Fahnenmast, ein einzuholen vergessenes Werbebanner aus Segeltuch knattert mit jedem Angriff der Böen. 
Irgendwas hat die Gänse geweckt, die zu Hunderten weit hinten in der Nähe des Deiches rasten. Ein Rufen und Schnattern geht durch die Nacht, dann kehrt erneut Ruhe ein. 


Es ist kalt geworden. Hinter mir höre ich das leise Tapsen von vier Pfoten. Ein Hund folgt mir, und wenn ich stehen bleibe, bleibt er auch stehen. Manchmal überholt er mich auch ein Stück, aber dann dreht er irgendwann um und sieht mich fragend aus großen, treuherzigen, braunen Augen an. Es ist mein Hund. Und ich sehe diesen kleinen, treuen Gefährten ebenfalls an und mich erstaunt täglich aufs Neue, mit welcher Intensität man ein Tier lieben kann.


Er nervt mich, wenn ich morgens noch im Tiefschlaf bin und er dann fiepend am Bett steht, weil er raus will. Er nervt, wenn ich für meine Arbeit fotografieren muss und er dann ins Bild rennt oder an der Leine zerrt, sodass alles verwackelt. Er nervt, wenn ich beschäftigt bin und er seine Nase zwischen meinen Arm und meinen Körper oder unter meine Hand drängelt, weil er gestreichelt werden möchte. Und noch immer kämpfe ich gegen Würgereiz an, wenn ich diese unsägliche Tüte über meine Hand stülpe und die Finger, nur durch hauchdünnes Plastik getrennt, um eine noch körperwarme Wurst Scheiße schließen muss, die dann langsam darin erkaltet, während ich verzweifelt nach einem Mülleimer suche — und dabei hoffe, unterwegs niemanden zu treffen, der mir zu Begrüßung die Hand reichen möchte.

Es nervt, wenn man für einfachste Wege plötzlich Ewigkeiten braucht, weil Monsieur jedem Grashalm untersucht, als sei er im früheren Leben Botanikprofessor gewesen, und es nervt, wenn ich nicht mehr gedankenlos mit dem Bürostuhl zurückrollen kann, weil der Hund natürlich immer genau dort liegt, wo man ihn versehentlich touchiert.
Und was mich bei kleinen Kindern schon tangiert — dieses wortlose, minutenlange Anstarren — das bringt so ein Hund erst zur Meisterschaft!

Aber dann sehe ich ihn zusammengerollt irgendwo schlafen, in seiner herrlich beruhigenden, animalischen Schlichtheit, mit der er im Schlaf schmatzt und leise „wuff“ macht, und bin einfach froh, dass er da ist.



Klar, mag man sagen, so ein Hund liebt jeden, der ihm zu fressen gibt, ein warmes Zuhause und der ihn nicht schlägt. Und dennoch bin ich überwältigt davon, wie loyal so ein Tier wirklich ist. Jeden Morgen freut er sich schwanzwedelnd über meine Ansprache, obwohl ich ihn innerlich für die Uhrzeit verfluche, und wenn ich fort war, freut er sich beim Heimkommen, als sei ich Monate weg gewesen. Er sucht meine Nähe, als wäre ich das gütigste Wesen auf dem Planeten, allein dafür, dass er hier leben darf. 
Selbst wenn ich ihn zurechtweise, weil er fremde Hunde nicht angehen soll oder aufs Bett springen, hat er mich Sekunden später wieder lieb, als sei nie etwas gewesen.

Ich hatte schon öfter einen Hund, aber das waren immer nur Pflegehunde, zur Urlaubsvertretung, die wussten, wo sie hingehörten. Und ich wusste das auch. Wir mochten uns, sonst hätte ich die Hunde nicht beherbergt, aber es war ein eher höfliches Verhältnis: Eine Freundschaft und Wohngemeinschaft auf Zeit.
Das hier indes, scheint mir, ist deutlich mehr, und alle wissen das: Es ist Familie.



„Hast Du Platz für einen Pflegehund?“, schrieb eine tierliebe Freundin, „Wir wissen kaum etwas über ihn, und auch nicht, wann oder ob sein Besitzer jemals zurückkommt. Klar ist ist nur: Er braucht ein Zuhause. Und zwar jetzt.“
Im Anhang ein Foto: ich schrieb mein JA, bevor ich es denken konnte. Das war mein Hund, schon auf den ersten Blick.

Eine Stunde später drückte er sich ängstlich um die Beine der Freundin in meinem Hauseingang herum, traute sich kaum die Treppen hinab zu meiner Wohnung. Aber irgendwann war er dann drin, die Freundin ging, und ich saß da und hatte einen Hund.



„Gott fügt und fügt, ich freue mich so sehr für Dich“, schrieb mir der Lieblingsmensch aus der Ferne, bevor mir selbst klar werden konnte, ob ich all das hier wirklich wollte. Aber offenkundig nahm mir Gott die Entscheidung ab, und auch der Freund weiß, wie sehr ich Tiere mag.

Ich wollte ja immer einen Hund, aber es gab auch immer irgendeinen Grund dagegen. Aber nun galt es, den Hund um die Gründe herumzudrapieren, bis sie klein und nichtig wurden oder bis sich eine Alternative fand. Es ging ja nicht anders, das Tier brauchte mich.



Was ein aufregendes Jahr, denke ich, noch immer in ungläubigem Erstaunen. Aber mein Kontoauszug zeigt die abgebuchte Hundesteuer, die Tierhaftpflichtversicherung, das Honorar des Tierarztes: Der Hund ist real, und, im Gegensatz zu vielen Menschen in diesem Jahr, wird er bleiben. Er wird geduldig sein und anspruchslos, er wird verzeihen und mir treu ergeben sein. Er wird meinen Hygiene- und Ordnungssinn vor neue Herausforderungen stellen und mir irgendwann auf den Teppich kotzen. Er wird mich zu Unzeiten aus dem Bett fiepen, meine Freiheit einschränken und meinen Kontostand mit Regelmäßigkeit erröten lassen. Aber ich werde für ihn da sein und ich werde ihn lieben, weil ich nicht anders kann und er niemanden sonst hat.

Ich bin seine Heimat und sein Hafen. Das ist eine große Verantwortung. Man kann mit Hunden ja keine demokratischen Entscheidungen treffen. Ich muss autoritär sein, ihm gegenüber und gegenüber mir selbst: Jeden einzelnen Tag.



Der Hund ahnt nicht, was ich über ihn denke. Er schläft arg- und sorglos zu meinen Füßen, und es ist schön, ihn in dieser Geborgenheit zu wissen; mit diesem Urvertrauen.
Draußen dämmert ein neuer Tag auf der Insel, auf der im Winter für viele die Zeit stehenzubleiben scheint. Um uns herum tost das uralte, ewige Meer.

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