Momentaufnahme, Alpha

Die Menschheit überfordert mich. Zuweilen beschleicht mich der Eindruck, dass die Sozialnormen, mit denen ich groß wurde, keine Gültigkeit mehr haben und dass es kein Gemeinschaftsgefühl mehr außerhalb des eigenen Mikrokosmos gibt. Man sieht die eigene Familie, die eigene Komfortzone, und dahinter ist: Feindesland. Oder auch einfach gar nichts. Natürlich spielt dabei auch die Digitalisierung eine Rolle: Wenn man sogar unterwegs noch via Smartphone ununterbrochen in seiner Filterblase bleiben kann, erübrigt es sich, ein Gespräch an der Bushaltestelle anzufangen, und sei es nur aus Langeweile. Und was früher als Hilfsbereitschaft gegolten hätte, wird heute wohl gleich als Dienstleistung eingestuft: Bewertung inklusive.
Die Fälle mehren sich, und ich bin ihrer überdrüssig. Ich ertrage diese Rechthaberei nicht mehr, diese Aggression, diese Nehmermentalität. Und ja, es gibt auch all die anderen; es gibt die Menschen, die Frieden bringen und zusammenführen statt trennen, aber so, wie der Lärm einiger Menschen den Gesang der Vögel und das Meeresrauschen übertönt, so macht es das Gebaren einiger Mitbürger schwer, den Blick fokussiert zu lassen und auf die Grandiosität der Schöpfung zu schauen statt in deren Schmuddelecken.

Heute ist der Gedenktag des heiligen Maximilian Kolbe; ein Märtyrer, der für mich das Ideal christlicher Nächstenliebe verkörpert wie kaum ein zweiter. Man kann nur voll Ehrfurcht auf sein Wirken zurückschauen und auf seinen grausamen Tod, den er als Liebesdienst an einem Mitmenschen auf sich nahm: Ermordet von den Nazis, um einen anderen Mann zu retten. Und wie zynisch ist es, dass man den heiligen Maximilian, in dessen reines Herz nie das Gift menschlicher Niedertracht vorgedrungen war, ausgerechnet durch eine Giftspritze in selbiges tötete?
Es fällt schwer, aus der Erinnerung an diese dunkle Zeit mit diesem unermesslichen Leid und ihren Grausamkeiten wieder zum profanen Alltagsärger zurückzukehren, aber tatsächlich hatte mich dieser heute wieder schneller in den Fängen, als ich ahnen konnte.

Auch in der Kirche gedachten wir des heiligen Maximilians; ich war sogar vorrangig deswegen hingegangen, weil ich diesen Heiligen sehr verehre. Aber die Konzentration fiel mir schwer. Ich dachte mehr darüber nach, dass der Priester die Albe nicht korrekt zugenöpft hatte und dass seine Stola verrutscht war, als dass ich das WORT reflektierte. Ich kniete, saß und stand auf Stichworte hin wie ein Automat, die Worte des Vaterunsers sprach ich und dachte dabei an irgendetwas anderes. Ich kam nicht zur Ruhe und fühlte mich schuldig deswegen. Verdiente nicht wenigstens ER die ungeteilte Aufmerksamkeit?
Warum nahm ich statt des Wunders der Eucharistie solche Oberflächlichkeiten zur Kenntnis? Der Priester hatte das mit der Stola überdies längst selbst bemerkt und zupfte sie zurecht, bevor er mit der Hand zum Segen ansetzte. Ich fühlte mich unwohl, als ich die Kirche verließ, als nichts Halbes und nichts Ganzes.

Während der Messe hatte es erneut leicht geregnet; auch der Himmel sah unschlüssig aus und schien sich nicht zwischen Drama und Nonchalance entscheiden zu können. Eine Familie stand vor der Kirche und rätselte über die Form des Kirchturms. Ich hörte Ihnen zwangsläufig zu, als ich mein Fahrrad aufschloss und beschloss, zu helfen. „Das stellt den griechischen Buchstaben Alpha da“, sagte ich, „Alpha und Omega, aus der Offenbarung des Johannes.“ „Ach!“, fuhr die Frau mich in verächtlichem Tonfall an, „Dann zeigen sie mir doch auch noch die Omega-Kirche dazu!“ Ich sah sie verdutzt an ob dieses Aggressionsausbruchs. „Nie im Leben ist das ein Alpha, ein A ist das, aber kein Alpha!“ Sie schrie es fast; in meine Richtung flog Speichel.
Ich hätte ihr sagen können, dass ich ein Jahr lang Führungen durch diesen Sakralbau gemacht hatte. Ich hätte ihr sagen können, dass ich dafür 3 Monate lang Architekturzeichnungen und Artikel zusammengesucht und akribisch studiert hatte. Ich hätte ihr sagen können, dass ich mit dem Architekten darüber gesprochen hatte, der die Kirche samt des Turms kannte wie seine Sakkotasche. Ich hätte ihr sagen können, das unsere Gemeindeleitung ihre wunderbaren Monatsimpulse im Kirchenblättchen immer mit A… beginnen ließ: Des Anfangs wegen, Alpha.
Ich sagte ihr nichts von alledem, ich nahm mein Fahrrad und fuhr davon. Wenn es ihr so wichtig war, Recht zu haben, sollte sie halt Recht haben. Ich mochte diese Kirche. Sie war für mich viel mehr als ein profaner Buchstabe A, und ich hatte viel Lebenszeit investiert, um den Bau zu verstehen und ihn anderen Menschen nahezubringen. Aber es wäre sinnlos gewesen, hier darauf hinzuweisen, und ich wollte nicht eitel sein. Zumal es mich ja im Grunde auch nichts mehr anging, da ich keine Kirchenführungen mehr machte.
Ich hörte die Frau noch eine Weile zetern, das „Alpha!“ausspuckend wie bitteres Essen. Der arme Kirchturm streckte sich einsam in den grauen Langeooger Himmel: Auch seine Botschaft kam nicht gleich bei jedem an, offensichtlich.

Eigentlich hatte ich nur helfen wollen. Ich hatte gedacht, die Menschen würden sich vielleicht freuen, wenn ihnen jemand, der gerade aus dieser Kirche kam, bei der Lösung ihres Rätsels half. Ich hatte mich geirrt, und ich bereute umgehend, mich in das Gespräch eingemischt zu haben. Wieder einmal hatte ich nicht verstanden, wie Menschen funktionieren.
Und es war nicht der erste Fall dieser Art. Kürzlich sprachen mich zwei Frauen an, sie waren auf der Suche nach ihrer Ferienwohnung. Ich kannte die Straße und nannte ihnen die Richtung. „Das kann nicht sein, das muss irgendwo anders sein“, keifte mich eine der beiden Touristinnen an, „der Vermieter hat am Telefon nämlich was anderes gesagt als Sie, das ist da nicht!“ Ich starrte sie verdutzt an und wusste nicht, was ich sagen sollte. Warum hatte sie dann überhaupt gefragt?
Aber es war ohnehin zu spät, um noch etwas zu erwidern, denn die Frau hatte ihre Begleitung längst beim Ellenbogen gepackt und zerrte sie dank- und grußlos in die Gegenrichtung. „Gern geschehen“ murmelte ich und fügte noch ein „viel Spaß am Ostende“ in Gedanken hinzu, denn genau dahin waren die beiden nun schnurstracks in der Dunkelheit unterwegs. Auch hier hätte ich sagen können, dass ich seit 5 Jahren auf Langeoog wohne, dass ich die gesuchte Straße fast täglich passiere und man mir das deshalb ruhig glauben könne. Aber auch hier tat ich nichts von alledem, sondern ging weg und ärgerte mich.

Ich hatte noch nie ein besonderes Talent für Sozialleben und zeitlebens auch kein ausgeprägtes Verlangen danach; seit frühester Kindheit schöpfe ich vor allem Kraft aus dem Alleinsein. Zuweilen versuche ich mich trotzdem noch daran, mit anderen eine Kommunikationsebene zu finden, aber Situationen wie diese zeigen mir vor allem eins: Ich schaffe es nicht. Ich verstehe Menschen nicht, und ich verstehe sie immer weniger. Es bleibt ein Gefühl der Ratlosigkeit, das nicht selten in Resignation mündet. Ich möchte aufgeben, es gar nicht mehr versuchen, mich zurückziehen von allem und aus allem. Es macht mich so unendlich müde.
Ich verstehe jeden Eremiten, der sich irgendwann nur noch mit GOTT unterhält, mit dem Flüstern des Windes und dem Rauschen der See. Manchmal wäre mir sehr danach: Keine Menschen, keine Probleme.
Aber natürlich wäre das unfair gegenüber den paar tapferen Freundinnen und Freunden, die meine Sprache verstehen und auch meine Sprachlosigkeit. Die mein Hadern mit der Welt aushalten. Die mich aushalten. Ich weiß, dass sie da sind. Und dass sie zuhören.

Beim Einkaufen treffe ich gleich zwei Menschen, die ich gerne mag. Beide haben zurzeit sehr viel Stress — wie fast jeder, der hier im Sommer einer abhängigen Beschäftigung nachgeht. Aber beide strahlen stets eine natürliche Freundlichkeit aus, die niemals aufgesetzt wirkt. Es sind zwei schöne, stille Seen inmitten eines lauten, unablässigen blubbernden Freizeitwasserparks. Hier ein leises Raunen im Schilf, ein Eisvogel, der mit den Flügeln schlägt, ein feiner Geruch nach Erdreich und moosiger Kühle — dort das Kreischen von der Plastikrutsche und ein Schwall chlorigen Pisswassers, der in der Nase brennt.

Inzwischen ist die Nacht angebrochen, die Tage werden wieder merklich kürzer. Mir ist das Recht, denn die Nacht ist mein Freund. Sie lässt die laute Welt still werden, macht aus den Ärgernissen des Tages Vergangenheit und gibt Kraft und Zuversicht für das Kommende.
Das hoffnungsstiftende Alpha unseres Kirchturms hilft mir dabei, denn es erinnert daran, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, immer wieder diesen Neuanfang geschenkt zu bekommen. Himmelswärts strebend weist es auch gleich die Richtung, in die wir gehen müssen. Es tut gut, so viel Klarheit darin zu finden; eine solch eindeutige Botschaft in all dem Kommunikationsdickicht, im Flickenteppich dieser zerfaserten, ruhelosen Gesellschaft. Ich halte mich daran fest wie an einem Rettungsring.

 

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Momentaufnahme, Bestand

Es ist voll geworden auf der Insel. Die Aggressionen mehren sich. In den Geschäften lange Schlangen und leere Regale, Fahrradstaus und Auffahrunfälle an jeder Ecke, wüstes Geklingel, Beschimpfungen. „Die sind aber unhöflich hier“, sagt ein Kind, „Sie stehen mitten auf der Straße!“ ruft ein Handwerker zornig in eine Gruppe, die ihre Urlaubsplanung auf der Fahrbahn ausdiskutiert, während die Kleinsten mit Stützrädern drumherum Schlangenlinien fahren. Der Mann hat Mühe, seinen beladenen Anhänger von A nach B zu bekommen, wobei ihn in B vermutlich ebenfalls entnervte Menschen empfangen, die Probleme mit der Spülung haben, dem Internet, der klemmenden Tür. „Wir haben das Gefühl, die Einheimischen wollen nur noch unser Geld und sonst interessiert die hier gar nichts mehr“, erzählt traurig ein Gast, der seit Jahrzehnten herkommt. Derweil schreit ein anderer Gast einen armen Kellner an, weil dieser um kurz nach Fünf nicht mehr die komplette Kuchenauswahl bieten kann: „Sie haben das in der Karte, also will ich das essen!“ Der Kellner sieht müde aus. „Tut mir Leid“ sagt er.
Mir tut es auch Leid, dass Leute so sind, denke ich. Ich weiß, was er durchmacht.
Die Gäste sind unzufrieden, die Insulaner kaputtgeschuftet, und es ist noch nicht einmal August. In einigen Restaurants kosten Hauptgerichte mittlerweile um 35 Euro, Vollzeit-Angestellte im Housekeeping gehen in vielen Betrieben dagegen noch immer mit 900 Euro netto heim und wohnen in Verschlägen, die nicht einmal ein Tierheim als adäquat durchgehen ließe.

There’s something rotten in the state of Langeoog. Und ja, es gibt die positiven Gegenbeispiele. Aber die Tendenz ist da. Und sie stimmt mich traurig. 6 Jahre sind keine Zeit auf einer Insel, aber dennoch ahnt man nach rund 2000 Tagen wohl, was natürliche Schwankungen sind — und was die Zukunft bringen wird, sofern niemand gegensteuert.
Die Leute sind frustriert; viele würden lieber früher als heute alles einreißen und komplett neu angehen; nicht zuletzt die Bürgermeisterwahl mit ihrem Ergebnis ganz offensichtlicher Verzweiflung hat dies gezeigt. Was es bringen wird? Ich halte nichts von Kaffeesatzleserei und ziehe es vor, zu schweigen. Aber Strukturen sind schwer zu durchbrechen. Meistens verbiegen sich die Leute letztendlich ja doch oder lassen sich mit Geld und schönen Versprechungen zurechtbiegen, um hineinzupassen. Egal, mit welch aufrechtem Gang sie meinten, hineinzumarschieren. Oder sie verenden darin, sofern sie nicht vorher von selbst flüchten.

Dieser Tage hatte ich einen PR-Menschen zu Gast. Exaltiert, wie etliche PR-Menschen nun einmal sind, machte er angesichts seines allerersten Besuchs auf der Insel gleich wort- und lautstark hehre Pläne. „Wenn ich hier etwas zu sagen hätte, ich würde die Insel komplett umkrempeln! Dann wäre hier nichts mehr wiederzuerkennen!“ Es folgte eine Auflistung möglicher Events und Kampagnen, um Langeoog mehr Profil zu geben und neue Zielgruppen zu erschließen — einige davon sogar recht spannend. Dennoch hatte ich den unmittelbaren Impuls, mich mit ausgebreiteten Armen schützend vor mein Langeoog zu stellen und, ihn an Lautstärke noch übertönend, mit Nachdruck „Finger weg!“ zu rufen.
Ich möchte keine umgekrempelte Insel. Ich liebe alles, was hier Bestand hat. Und ich glaube an die Vernunft, an das Gute, und daran, dass beides sich irgendwann durchsetzt, wenn — ja wenn — nur endlich einmal jemand zuhört. Es gibt sie auch im Dorf, die leisen, aber verständigen Töne. Die Intelligenz, die Kreativität, die Nachsicht und Liebenswürdigkeit. Den Respekt und die Augenhöhe; unter Gästen wie Insulanern, unter Arbeitgebenden wie Angestellten. Langeoog ist nicht verloren. Und außerhalb des Dorfes — in meiner geliebten Natur — soll bitteschön alles so bleiben, wie es ist.

Denn es ist schier unglaublich, wie schnell die atemberaubende Dünenlandschaft all dieses würdelose Klein-Klein unter den Menschen vergessen macht. 10 Jahre Auszeichnung als UNESCO-Weltnaturerbe feiert das Niedersächsische Wattenmeer in diesem Jahr und es ist ein Gottesgeschenk, hier leben zu dürfen.
Das Meer empfängt mich mit an diesem Tage mit märchenhaft schöner Brandung, es ist Flut. In der Nacht hatte es gestürmt, nun aber ist der Himmel aufgeklart und die hohen Wellenberge sprühen ihre Wasserjuwelen in den blauen Himmel. Am Horizont ballen sich letzte Regenwolken zu einer Decke, die ausssehen aus wie ein hastig zurückgeschlagenes, hellgraues Federbett.
Und so wie jemand am Morgen energiegeladen die Decke zurückwirft und aus dem Bett springt, fühle ich mich durch den Anblick plötzlich wundersam belebt.

Hier, genau jetzt und vor mir, ist alles, weswegen ich hier bin. Sogar die vielen Menschen verteilen sich dergestalt über den Strand, dass man auch jetzt noch Ruhe findet. Dass man zumindest minutenweise allein ist mit dem Geschrei der Möwen, dem raschelnden Dünengras, dem Wind in den Ohren und dem Flattern der Volants an den Dächern der Strandkörbe.
Die Strandkörbe wiederum stehen noch krumm und schief auf ihren Plätzen, zum Teil hat sie der Sturm fast eingegraben. Einige hat es ganz umgehauen, sodass die bunt gestreifte Kolonie wirkt wie ein Häuflein bezechter Dorffestheimkehrer.
Es sieht lustig aus, und viele Menschen machen lachend Fotos mit den torkelnden Körben. Hier wohnt sie also, die unbeschwerte Urlaubsfreude, denke ich erleichtert, als ich um mich blicke. Ein Pärchen, das ich zufällig dabei ansehe, lächelt sogar und grüßt, obwohl ich die beiden nicht kenne. Ich biete ihnen an, ein Bild zu machen, und sie strahlen wie glückliche Kinder. 
Der Stress im Dorf ist schon vergessen.