Momentaufnahme, Winter

Es ist warm, beinahe frühlingshaft. Und doch ist November.
Kriechkiefern klammern sich an sandige Dünenränder. Entlaubte Brombeerranken strecken sich mit ihren Dornen wie dürre, warzige Finger über den Radweg. Die Sonne wärmt noch immer und taucht die Landschaft am späten Nachmittag in Rot und Gold. Das Gras zu meinen Füßen, über das auch leise schnatternde Graugänse watscheln, hat nichts von seinem sommerlichen Sattgrün eingebüßt: noch nicht.
Es ist ein schöner Tag, und so zieht es mich in die Natur, weil man so ein Wetter nicht umkommen lassen kann, egal ob man in Ausflugslaune ist oder nicht.
Schließlich kann es nun täglich umschlagen, und aus der milden, blaubehimmelten Pracht werden viele Monate kalter, karger Dunkelheit.
Über der Melkhörndüne, Langeoogs höchster Erhebung, ballt sich eine Wolke in reinstem Weiß. Unten, in Richtung Süden, breitet sich die See hinter den Salzwiesen wie ein silberfarbener Spiegel, darüber die Umrisse der Windräder auf dem Festland. Im Norden tost das noch immer sturmbewegte Meer: Von der Melkhörndüne aus sieht man das Wasser zu allen Seiten.

Der Wind weht heute nur frisch; es ist gut auszuhalten hier oben. Die Böen spielen mit meinem Schal, streichen über die Haut, verwirbeln die Haare. Die Natur kennt keine Berührungsängste, und ich wünschte, es wäre mit den Menschen ein wenig anders.
Manchmal, denke ich, hadere ich ja doch damit, maximal noch intellektuell von Interesse zu sein. 
Man lernt damit zu leben, in erotischer Hinsicht tot für den Markt zu sein, aber zuweilen hätte man ja auch als mittelalter Mann noch gerne, dass einen zumindest mal einer in die Arme nimmt. Dass man für irgendjemanden mal Prio A auf dem Stapel ist. Es ist schwer, diese Form von Bedürftigkeit zuzugeben, man schämt sich. Aber so sei es, denke ich. Wenn Gott das will, hat es seinen Sinn, und es ist nicht zu hinterfragen: SEIN Wille geschehe.
Wie hätte ich, als ich mich noch als Agnostiker bezeichnete, getobt über einen solchen Satz! Eine Ausrede für Denkfaule — Denn ist es nicht allzu leicht, sich alles und jedes im Leben mit Gottes Willen zu erklären? Ist das nicht ähnlich unbefriedigend wie damals, als man als Kind auf Fragen nach dem „Warum?“ oft nur ein „Darum!“ als Antwort erhielt? 
Aber es liegt auch viel Beruhigendes darin. Denn auf manche Themen im Leben, so lernt man, gibt es einfach keine Antworten. Vieles im Leben ist und bleibt unerklärlich. Und die Liebe gehört zweifelsohne dazu. Ich werde keine Antwort dafür finden, warum es davon in manchen Leben überreichlich gibt und in anderen Leben zumindest konventionelle Formen von Liebe überhaupt nicht oder nur in hömoopathischen Dosen stattfinden. Also, schlussfolgere ich, kann ich es auch gleich so sehen: Gott will es so. Und dann muss mir SEINE Liebe reichen.

Ein paar Regentropfen fallen plötzlich wie aus dem Nichts aus dem Himmel, in Ostfriesland ist das oft so. Sie versickern im sandigen Untergrund, kaum, dass sie fielen, ein paar glänzen noch Sekundenbruchteile in Zweigen wie eilig drapierter Weihnachtsschmuck: Auch dieses Fest ist jetzt nicht mehr weit.
Ich denke, dass Liebesglück meist ist wie diese kurzen Regengüsse: Da ist dann plötzlich dieses Gefühl von Geborgenheit, ein beiderseitiges Vertrauen, das man seit Ewig vermisste, diese Zärtlichkeit zwischen den Zeilen, ein hauchfeines Klingen von Zuneigung, ein Schimmer Hoffnung auf Ewigkeit oder zumindest viele Jahre. 
Für einen Moment wäscht dieses Glück einem dann den Dreck ab, löst die Krusten alter Verletzungen, enthüllt neue, rosige Haut, heilt, füllt, polstert. Und dann ist man eine Weile immun gegen all die kleinen Betrübnisse des Alltags, weil man ja seine Arme hat oder zumindest die warme Umarmung seines Trostes, die Stärkung seiner Worte am Telefon oder im Brief. 
Aber immer ist es zu schnell vorbei, aufgebraucht, verlebt, zerlebt, und das Glück versickert. Der Lieblingsmensch geht, empfindet nur Freundschaft oder liebt einen anderen, und man leidet, weil er nicht mehr da ist — oder zumindest nicht in der Form, in der man ihn gerne hätte.
Erneut wird Brachland aus der Liebe, durchsetzt von brackigen Tümpeln, von denen man wünschte, sie wären aus Tränen, aber Weinen kann schon Jahre nicht mehr.
Die Dürre bringt dann die Furchen zurück — in das noch gerade lächelnde Gesicht, in den Acker. Die zarten Hälmchen der Setzlinge, in deren kümmerlicher Gestalt man schon die prachtvollen Pflanzen des nächsten Jahres erkannt hatte und von deren Früchten man träumte, sinken zurück in die Erde, untergepflügt mit der nächsten Fuhre idiotisch-naiver Hoffnung. Und erneut erblödet man sich zu meinen, dass daraus mal irgendetwas wachsen könnte, obwohl man längst weiß, dass dieses ausgedörrte Stück Land einen niemals ernähren wird.

Die Aussichtsdüne füllt sich, die Leute wollen sich den Sonnenuntergang anschauen. Ich mache mich an den Abstieg: Zuviel Romantik für einen desillusionierten alten Mann.

Über Dreebargen ziehen Weißwangengänse. Ich denke an ein Lied von Robert Wyatt, in dem es übersetzt heißt:

Wir fühlen die Wärme Eures Atems nicht
an den eisigen Rändern der Erde
Ihr hört nicht den Rythmus unserer Rufe
in dem wir um Frühling beten

Auf dem Rückweg halte ich an der Kirche, um für einen erträglichen Winter zu beten. Fast alle Opferkerzenplätze sind besetzt; ein verglimmender Kerzenrest, angezündet für irgendjemanden, tropft laut in die Stille. 
Es ist kalt geworden mit Einbruch der Dunkelheit. Aber ich denke, dass es gut ist, dass ich jetzt friere. Denn so wird mir die Wärme meiner Wohnung willkommen genug sein: Willkommen genug, um kurz das Sehnen nach einer Art von Wärme zu vergessen, die ich mir selbst zu spenden nicht in der Lage bin.

Momentaufnahme, Freigelegt

Während sich im Nordosten der Insel noch persilweiße Cumulusberge auf strahlendem Blau türmen, wälzt sich von Westen her eine graue Regenwand heran. Es ist frühlingshaft mild, und nach all den endlosen Wochen des Sturms weht der Wind nur noch in mäßig frischen Böen. Ein guter Tag zum Draußensein, denke ich, als ich zum Flutsaum hinunterlaufe, und unzählige andere tun es mir gleich: Die Insel füllt sich früh dieses Jahr.

Es ist Anfang März. In wenigen Tagen werde ich 41. Das vierte Jahr auf Langeoog. Ich bin froh über jedes Jahr hier und über jedes Mehr an Lebenserfahrung. Und ich möchte, auf Langeoog wie auch im Leben, weder die Sonnenstunden, noch die Regenwolken und Stürme missen. Denn im Grunde waren es doch immer die Stürme, die Wolkenbrüche, die Umbruchphasen und vermeintlichen Katastrophen, welche das im Verborgen liegende Schöne freilegten — eine neue und bessere Zukunft, die sich letzlich wie ein Edelstein aus all dem Chaos schälte. So war es in meinem Leben schon oft.

Und doch gibt es etwas, mit dem ich hadere. Es brauchte einiges an Zeit und viele Gespräche mit anderen Männern, bis ich das zugeben konnte, ohne meine Identität in Frage gestellt zu sehen, aber tatsächlich ist die Sache wohl alles andere als geschlechtsspezifisch. Männer und Frauen hadern damit, genderfluide Personen vermutlich auch, Singles ebenso wie Menschen in Beziehungen, sogar katholische Priester hadern damit, obwohl man als solcher auf dem Fleischmarkt ja nicht einmal mehr in der Auslage sitzt. Es ist die Zeit, die am Äußeren nagt: Der Verlust von Schönheit und Jugend.

Dabei kenne ich so viele Menschen, denen das Altern steht. Die früher vielleicht hübsch waren, aber jenseits der 40 erst sexy wurden, weil sie an Charisma gewannen, an Ecken und Kanten, die ihnen das Leben aufgestempelt hatte. Ich finde doch so viele ältere Menschen schön!
Und selbst wenn man früher, nach allgemeinen Maßstäben betrachtet, schöner war — war das denn ein Garant für Glück?
Was hatte es mir damals genutzt, zwar auf den ersten Blick begehrenswert, aber letztlich doch nie mehr als die beseelte Gummipuppe irgendwelcher frustrierter Mittvierziger gewesen zu sein, die Vampirismus an meinen Träumen betrieben mit all ihren hohlen Verheißungen und all dem Sirup, der mir ins damals noch naive und zunehmend waidwunde Herz gekippt wurde? Nichts, denke ich. Außer dem Wissen, was für eine Art von Mittvierziger ich nie werden wollte.
Und jetzt bin ich selbst bald Mitte Vierzig, aber Gottseidank tatsächlich frei vom Begehren, mir irgendetwas Junges zur Egopolitur halten zu wollen, in dessen Weichheit man all die schroffen Felsen, über welche einen das Leben so zieht, zumindest stundenweise vergisst, während die oder der gesellschaftstauglich Angetraute bei irgendeiner Charityscheiße oder sonstwo aushäusig weilt.

Dennoch setzt mir das Altern zu. An mir selbst (wenn auch nicht an anderen) stören mich die sich zunehmend eingrabenden Falten, selbst wenn es nur solche sind, die durch den Blick in die Sonne und das Lachen entstehen, und mitnichten aus Kummer oder Zorn. Die nächste Praxis für Botox und Filler ist übrigens in Aurich: Verzweifelte Menschen googlen so etwas.

Der Wind greift in die mühsam zurechtgekämmten Haare, deren zunehmenden Verlust an Masse ich beim besten Willen nicht mehr verleugnen kann, stellt die mit Haarspray über die Kahlheit gelegte Strähne steil und lässt mich den Rest des Tages mit einer albernen Antenne herumlaufen, die ich erst beim Nachhausekommen bemerke. Karma!, denke ich, denn wie sehr hatten wir beim Konfirmandenunterricht damals gelacht, als den Pastor in der Zugluft der Kirchentür dasselbe Schicksal ereilte und er, sich des Haardesasters nicht bewusst, den Gottesdienst mit einem Fühler moderierte.

Umso erleichterter schaue ich jetzt um mich, denn jeder Mensch, der mir hier am Strand entgegentapst, ist auf irgendeine Weise erst einmal ein zerzaustes, rotnasiges Etwas, so als mache uns der ostfriesische Himmel auf eine angenehme Weise gleich; und zwar so, dass alle Standes- und Schönheitsgefälle für eine Weile verschwinden.
Es sind zuvörderst erst einmal alles Menschen, die das Meer lieben. Und ich liebe es, dieses eine, spezielle Lächeln zu entdecken, wenn jemand den Strandübergang betritt und das erste Mal auf das große, weite Blau vor sich blickt, den endlosen Strand, die glitzernden Priele. Dieses Lächeln auf dem Gesicht macht jeden Menschen schön. Auch ich erwische mich noch bei diesem Lächeln, immer noch, obwohl mir das Meer längst Alltag sein sollte, aber das ist es nicht. Sein Anblick ist immer noch der Frühjahrsputz für meine Seele, unabhängig von der Jahreszeit.
Es ist, als zöge die Schönheit der Insel für einen Moment all das Schlechte und Anstrengende von uns ab, all die Wunden des Lebens, das Altern und all die mühsam zurechtgezurrten Fassaden, welche wir im Alltag so brauchen oder zu brauchen meinen.

Dabei sind die meisten Menschen so viel schöner ohne Fassade. Und oft genug sind es doch gerade die kleinen Blessuren und Makel, die uns liebenswert oder überhaupt erst interessant machen.
Ich erinnere ein Gespräch, das ich die Tage mit einem Geschäftsmann führte, der mit seinem jungenhaften, rotwangigen Charme immer wie frisch gebadet wirkt, obwohl auch er schon Mitte Vierzig ist. Dieser, nun wirklich immer sehr kultiviert und seriös wirkende Mensch, erzählte mir dann, wie er letztens einmal, nach einem Bierchen zu viel, auf allen Vieren neben eine tote Ratte in die Dünen gekotzt hatte — eine unsäglich entwürdigende Vorstellung, auch wenn er zur Ehrenrettung noch anzumerken hatte, dass die Ratte schon vorher tot gewesen sei.
Dennoch beschädigte diese Geschichte mein Bild von dem Geschäftsmann nicht; ganz im Gegenteil: Die Offenheit machte ihn menschlich und damit sympathisch. Und zumindest mir erscheinen Menschen grundsätzlich um einiges aufrechter, wenn sie auch zugeben können, schon einmal am Boden herumgekrochen zu sein.

Kommen wir zu Donald Trump. Die Überleitung von der toten Ratte zu Donald Trump schreibt sich ja quasi von selbst, da nämlicher bekanntlich so ein Tier — in Wasserstoffperoxid gebleicht — auf dem Haupte zu tragen pflegt. Ich lege keinen Wert darauf, dass der POTUS unsere Insel mit einem Besuch beehrt, aber ein wenig reizt mich ja doch die Vorstellung, dass unser wunderbarer Nordseewind ihm jenes Tier vom Kopfe weht und ihn so zumindest von außen einmal so kahl und spärlich ausgestattet zeigt, wie er im Inneren wohl schon lange ist.
Mich ängstigt der Raubbau an Werten wie Ehrlichkeit, Freiheit, Bildung und Mitgefühl, der sich in der Politik dieses Menschen, aber auch in der vieler seiner Gesinnungsgenossen und -genossinnen in Europa zeigt. Ich bin immer für Wandel, ohne Wandel bewegt sich nichts, aber dieser Wandel beunruhigt mich, und er gibt mir — immerhin — einen weiteren Grund, mich mit dem Altern zu versöhnen: Ich muss die schlimmsten Nachwehen dieser sich abzeichnenden Entwicklung wohl nicht mehr erleben. Und zum Glück habe ich auch keine Kinder, denen ich diese Scheiße erklären muss.

Ich denke zurück an das selige Lächeln der Menschen, die das erste Mal den Strand sehen, und weiß, wie leicht es einem hier fällt, all das da draußen für ein Schauspiel zu halten; mal mehr und mal weniger schlecht.  Es rettet mich jeden Tag.
Die Wolkenberge ziehen im beachtlichen Tempo vorüber; offenbaren immer neue Lücken und Formen im Blau. Alles bewegt sich, denke ich besänftigt, und doch gibt es einem Halt und Heimat.

Und letztendlich bin ich auch froh über die Zeit, die verstreicht, allem körperlichen Unbill zum Trotz: Zeit, die heilt. Zeit, die reifen lässt. Zeit, die vergessen macht. Zeit, die befreit. Ich bin dankbar für die Jahreszeiten im Leben, die Stürme, das Hoch- und Niedrigwasser.

Viele Menschen träumen von einem Leben, in dem immer nur Sommer ist. Aber ich denke, dass ich das gar nicht so möchte. Ich möchte ein Leben, das dem ostfriesischen Himmel gleicht. Nicht monoton dahinplätschernd, sondern ein facettenreiches Farbenspiel, in wechselnden Tempi, mal strahlend, mal dramatisch, mit stets überraschenden Wendungen; nur schwer prognostizierbar und dennoch, alles in allem, einfach nur unbegreiflich schön.

Und ich will diese unermessliche Freiheit, wie sie nur der Inselhimmel verheißt. Tatsächlich, denke ich in einem Anflug von Überraschung, bin ich zurzeit so frei wie nie zuvor. Nicht nur, weil ich endlich flexible Arbeitszeiten habe, sondern vor allem auch, weil ich gerade mal wirklich niemanden liebe.
Das mag zunächst erbärmlich klingen, und natürlich umfasst das nicht die Liebe, die ich für Freunde, Eltern oder Tiere empfinde. Aber ich bin frei von der Fremdbestimmung durch ein mehr oder weniger unglückliches Verliebtsein oder den traurigen Nachhall einer Liebe.
Der schöne Seemannssohn, mit dem die Ära Langeoog begann, ist zu lange her, um noch Gegenwart zu sein, und dessen potentieller Nachfolger war nie lange genug Gegenwart, um sich einen Platz in meiner Erinnerung zu sichern. Es ist wahr: Zum ersten Mal im Leben bin ich nicht verliebt. Es ist ein bisschen seltsam. Aber vielleicht gehört auch diese Erfahrung zum Älterwerden.

Der Wind flaut ab. Ich betrachte die nun ruhiger dahinziehenden Wolken, deren Ränder sich bereits im Farbspektrum der Dämmerung verfärben. Im Nachbarsgarten baden dicht an dicht die Schneeglöckchen im letzten Licht des Tages; die Köpfchen gesenkt in ihrem so unschuldigen, reinen Weiß.