Momentaufnahme, Seltsam

Auf dem Balkon sitzend, warte ich auf den Regen. Es sind luxuriöse Minuten der Stille. Oder, besser gesagt: seltene Augenblicke der Abwesenheit von Menschenlärm. Denn zu hören gibt es dennoch reichlich. 
Ich höre das Rollen der Brandung und den Wind, der durch die üppig ergrünte Hecke auf dem Nachbargrundstück streicht. Holunderholz knarzt leise unter dem Gewicht schwerer Blütendolden; im Entwässerungsgraben quakt eine Ente, ihr Gründeln erzeugt silbriges Plätschern. Von Süden her kommt erstes, leises Donnergrollen.
Über all dem liegt warmer Dunst. Endlich, möchte ich sagen, denn es war ein denkwürdig kaltes Frühjahr. Von „heiß“ sind wir auch jetzt noch Meilen entfernt, aber dieser Tag war, für Langeooger Verhältnisse, schon annähernd tropisch.
Nun bricht die Dunkelheit herein. Eine schwarze Wolkenwand schiebt sich über die letzten Reste des Sonnenuntergangs. Das Donnern wird nun deutlicher und bald fällt der Regen in warmen, lotrechten Schnüren vom Himmel. Im Lampenlicht, das aus meiner Wohnung in die Inselnacht strahlt, sehe ich die Tropfen funkeln. Wind weht kaum, sodass ich das Naturschauspiel unter dem Balkondach genießen kann, ohne selbst nass zu werden.
Ein letzter Radfahrer rast die Straße entlang; alle anderen Menschen sind wohl in ihre Häuser oder Ferienunterkünfte geflüchtet. Von meinen Balkonpflanzen perlen dicke, silbrige Tropfen lebensspendenden Wassers und ich rieche den moosigen Duft feuchter Erde.

Ich freue mich nicht über die Kälte der vergangenen Wochen, aber mich erleichtert, dass die Sonne dadurch auch weniger verheerende Kraft entfalten konnte. Und ich bin glücklich, weil es nun wieder mehr regnet. Nur ungern erinnere ich die braunen, vertrockneten Deiche des Vorjahres, die sich bis zum Herbst kaum erholten. Auch die Straßenrandbegrünung wich einer sandigen Wüste, in der sogar die robusten Kartoffelrosen schlappmachten. Dieses Jahr aber ist das Gras fast überall noch grün; die Rosen stehen in voller Kraft und überziehen die Dünentäler mit einem pinkfarbenen, duftenden Blütenteppich. Es ist ein seltsamer Sommer: Nicht nur wegen des Virus.

Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Ich weiß, wer es ist, aber trotzdem verlasse ich meinen wildromantischen Logenplatz im Regen, um ihr entgegenzugehen. Die Freundin steht in meinem Flur und strahlt mich an; mit diesem Lächeln, als sei ich ein Scheck über eine Million Euro und nicht ein eigenbrötlerischer, menschenscheuer Mittvierziger mit fliehendem Haaransatz und Schlafhosen. Wassertropfen perlen von dem gelben Ostfriesennerz, der an ihr ganz entzückend aussieht, und von ihrer Haut, über deren Beschaffenheit ich nichts dichten könnte, was unterhalb der Kitschgrenze bliebe. Eine nasse Haarsträhne klebt an ihrer Wange. Sie streicht sie fort und folgt mir auf den Balkon, um sich in schönstem Schweigen mit mir den Regen anzusehen.
Es ist ein ganz eigener Frieden mit ihr, aber auch das ist noch immer seltsam. So viele Jahre gab es in meinem Liebesleben nichts, das nicht mit mannigfaltigen Nuancen von „Es-ist-kompliziert“ durchsetzt gewesen wäre; von Unmöglichkeiten, Mauern und Schmerz; von gesellschaftlicher oder kirchlicher Ächtung.
Die einzige Liebe, die mir in den letzten Jahren beständig Quelle von Trost, Kraft, Hoffnung und Zuversicht gewesen war, war die Liebe zu Gott. Und eigentlich hatte mir diese Liebe auch gereicht. Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, dass mir Derartiges auch noch einmal von einem Menschen geschenkt werden würde. Doch nun ist sie da, die Liebe. Im Himmel wie auf Erden.

„Nicht müde werden, / sondern dem Wunder / leise wie einem Vogel / die Hand hinhalten“ dichtete Hilde Domin 1992 — Und ich hoffe, dass ich es schaffen werde, mich dem neuen Wunder in meinem Leben mit der hier so filigran beschriebenen Zutraulichkeit und Neugier zu nähern.

Der Regen lässt nach. In der Wohnung über uns brüllt ein Baby; auch das Austernfischerpaar, das auf einem der Flachdächer nebenan brütet, macht sich mit Rufen bemerkbar. Das Leben um uns herum erwacht noch einmal, bevor es sich endgültig zur Nachtruhe bettet.

Auch wir ziehen uns zurück und ich wundere mich einmal mehr darüber, wie schnell man sich wieder an einen Menschen an seiner Seite gewöhnen kann. Dieser Tage ertappte ich mich sogar dabei, wie ich gedankenversunken zwei Teetassen füllte, obwohl meine Freundin erst Stunden später zu Besuch kommen wollte. Wenn ich nachts ihre Hand berühre und sie dann im Halbschlaf ihre Finger um meine schließt, berührt mich diese Geste des Vertrauens und der Hingabe auf eine Weise, für die ich mir erst wieder Vokabular zurechtlegen muss.
 „Sie haben jetzt auch für diesen Menschen Verantwortung“, wetterte jüngst der Beichtvater, als ich von meinen Unsicherheiten und Ängsten erzählte, und natürlich weiß ich, dass er Recht hat. Es sind jetzt nicht mehr nur meine Unsicherheiten und Ängste. Es sind auch ihre.

Und so wird die Liebe wohl immer eine Herausforderung sein: die zu den Menschen, aber auch die Liebe zu Gott. Zugleich ist beides ein großes Geschenk, das es verdient, mit der gebührenden Achtung angenommen zu werden.
Ich will es versuchen.

Bildschirmfoto 2020-06-16 um 18.02.05

 

Momentaufnahme, Regenluft

Ich beobachte den Regen durch den aufsteigenden Dampf aus meiner Teetasse. Die aufs Dachfenster fallenden Tropfen verweben sich zu einem sanft ineinanderfließenden Muster, bevor sie die Schwerkraft Richtung Dachrinne befördert. Auf dem Dachfirst gegenüber sitzt reglos ein kleiner Vogel. Er könnte sich verstecken, wie viele seiner Artgenossen irgendwo im Geäst verkriechen, aber er thront dort wie eine Gallionsfigur, stolz und erhaben. Vielleicht aber auch einfach nur stoisch den Schauer ertragend; vielleicht sogar stumm genießend.
Der geliebte Mensch sitzt neben mir; auch wir müssen uns nicht mehr verstecken, dem Herrn sei Dank. Beide sind wir still, aber es ist keine Stille, bei der man sich nichts mehr zu sagen hat. Es ist wortlose Geborgenheit und eine Vertrautheit, die eigentlich in keinem Verhältnis zur Dauer unseres Kennens steht. Das Prasseln des Regens und die Wärme ihrer Nähe ist mir genug Versicherung meines Daseins. Es bedarf keiner Worte.

Irgendwann mache ich mich auf den Heimweg; die Arbeit ruft, der eigene Hausstand. Es zieht mich automatisch auf einen Umweg ans Meer. Dieser erste, lang ersehnte Regen nach einer schier endlosen Trockenperiode überflutet meine Sinne, kaum dass ich das Straßenpflaster betreten habe. Alles duftet nach Leben. Erdig, sinnlich. Zugleich so rein und klar und voller Unschuld. Wassertropfen perlen aus gerade eröffneten Blütenkelchen und setzen den Duft der Inselrosen frei; die Blätter sehen aus wie frisch lackiert. Zum Strand führt eine einzige Möwenspur im Sand. Kein menschlicher Laut ist zu hören; kein Mensch zu sehen. 
Am Horizont zeichnet sich ein roter Krabbenkutter ab; davor schlägt eine ruhige See weiche, bleigraue Wellen. Luft. Wie einen die Bedrohung durch eine neue Lungenkrankheit noch einmal ganz neu den eigenen Atem spüren lässt, denke ich und mache ein paar tiefe, bewusste Züge. In Zeiten, wo die Birken ihre Pollen über Langeoog verteilen, als gäbe es kein Morgen, ist das auch für einen Allergiker mit chronischem Asthma schon keine Selbstverständlichkeit. Aber nun, in dieser herrlichen Luft nach dem Regen, fühlt es sich leicht an. Man darf nichts für selbstverständlich halten, erkenne ich einmal mehr, gar nichts. Egal ob Erfolg, Geld, Sicherheit oder irdische Formen der Liebe.
Ewig, unerschöpflich und immer da ist nur die Liebe, Gnade und Treue des Herrn — aber auch über Gott denke ich viel nach dieser Tage. Genauer: Über katholische Sexualmoral, um es einmal ohne Umschweife auszudrücken. Denn natürlich habe ich nicht vergessen, welches Geschenk es sein kann und welche Freiheiten es bietet, sich zur Gänze nur Christus hinzugeben, selbst wenn man, wie ich, aus biografischen Gründen kein Diakon, Ordensmann oder Priester werden darf. Keuschheit um der Lehre willen und um dem Geheimnis zölibatären Lebens auf den Grund zu gehen; um frei von erotisch-konnotierter Zuneigung, die mich oft zu sehr fremdbestimmte, wirklich unverstellt auf mein eigenes Leben schauen zu können, auf meine Beziehung zu Gott, auf mein Wollen, auf mein Verhältnis zu Mitmenschen. 5 Jahre lang war dies mein Leben, und es war schön, zu erfahren, dass man wirklich so leben kann, ohne dass etwas fehlt. Im Gegenteil: Ich bin dankbar für diese Zeit, in der ich u.a. lernte, dass sich Liebe, Sinnlichkeit und Nähe auch auf unzähligen anderen Ebenen jenseits von Sexualität erfahren lassen. Möglicherweise hat mich dieses halbe Jahrzehnt in Enthaltsamkeit sogar erst Lieben lernen lassen, ich weiß es nicht.
Und ich weiß auch nicht, ob es richtig ist, diese Zeit nun zu beenden — aber dann betrachte ich einmal mehr dieses kleine Wunder, die schöne Seele dieses Menschen, der mich auf eine Weise liebt, die ich kaum je zu erhoffen gewagt hätte, und denke, dass auch dieses Geschenk irgendetwas mit Gott zu tun haben muss. Und dass es vielleicht nicht falsch ist.

Ich gehe oft mit meiner Freundin in die Kirche, auch wenn zurzeit keine Gottesdienste stattfinden. Wenn sie sich bekreuzigt und dann still in der Bank sitzt, liegt darin irgendetwas, das mich zu Tränen rührt. Weil ich weiß, dass wir füreinander beten, auch wenn wir es nicht sagen, und ich bete dann: Lieber Gott, wenn irgendetwas daran falsch ist, dann lass es mich bitte wissen. Lass mich wissen, was richtig ist. Aber ich höre nichts. Ich fühle nur tiefen Frieden. Aller Widrigkeiten zum Trotz.

Es gibt viel nachzudenken dieser Tage, aber heute möchte ich, dass nur der Frieden bleibt. Der Regen hilft mir dabei. Denn so, wie ich zusehe, wie die Tropfen auf dem Dachfenster ineinanderlaufen, abfließen und die Natur frischgebadet, rein und duftend enthüllen, so möchte ich mein Leben jetzt freigespült und frischgebadet betrachten können: Ohne Sorgen, Unsicherheiten und Theorien, von denen mich eine konfuser zurücklässt als die andere.

Vielleicht bin ich wirklich an einem Punkt, an dem ich Liebe ganz neu lernen muss. Zurück in meiner Wohnung finde ich schon etliche Zeugnisse ihrer Anwesenheit. Ein buntes Kosmetiktäschchen im Bad, ihre Zahnbürste in meinem Becher, ein weiches Nachtkleid in meinem Bett. Früher hätte mich das wahnsinnig gemacht. Ich hasste es, wenn andere Leute Sachen bei mir verteilten, weil es mein Interieur-Konzept sprengte, weil es Schlieren in mein Bild perfekter Ordnung zog; weil es neue Dinge waren, die sich in meine vertraute Umgebung noch nicht einfügten, weil sie fremd waren und ursprünglich nicht von mir gewollt; weil ich sie nicht selbst gekauft und nicht selbst dorthin gelegt hatte. Sie machten mir Angst, denn sie trugen die latente Bedrohung von Fremdbestimmtwerden in sich, von Kontrollverlust, von Territorialanspruch.
Bei ihr ist es anders. Der Anblick ihrer Sachen lässt mich lächeln, weil sie mich ihrer Existenz versichern, ihrer Ernsthaftigkeit und ihres „Ich komme wieder“. Nähme sie diese Dinge wieder mit, wäre für mich dort keine wiederhergestellte Ordnung mehr. Sondern ein ein Ort, an dem etwas fehlt.

Vielleicht ist auch dieser Mensch ein später Frühlingsregen, denke ich. Der die Krusten alter Verwundungen und Neurosen fortspült, und, wie die weichen runden Tropfen an der Fensterscheibe, die Dinge sanft zu einem neuen Muster webt. Die Dinge werden sich klären, so wie der Regen Staub und Pollen von den Pflanzen wäscht. Und auch der Wind wird da sein: Dieser wunderbar sanfte, warme Hauch vom Meer. Erdig, salzig, sinnlich. Und zugleich so voller Unschuld. Es wird wohl Zeit für ein paar tiefe Atemzüge.

 

Momentaufnahme, Start

Von der Wohnung, die nicht meine ist, schaue ich über nebelumhüllte Straßen. In der Nacht muss es geregnet haben; das rote Dach glänzt vor Nässe, die Pollen und Staub des vergangenen Frühlingstages sind weggespült. Es ist noch früh; die Morgensonne hat sich als milchiger Ball gerade erst über den Horizont erhoben.
Die Austernfischer lassen seit Stunden ihr Trillern ertönen, auch der Fasan meckerte zeitig in den Dünen. Nun stimmen auch die Stare ein, die Lerchen, Amseln und Rotkehlchen. Ein neuer Tag in dieser unwirklichen Zeit.

Die Freundin verabschiedet sich zur Arbeit. Ich trinke ihren Kaffee am Fenster und sehe zu, wie der Nebel die Insel Stück für Stück verschluckt. Aber es wird nicht lange dauern, dann wird er all die Schönheit des Weltnaturerbes wieder den Blicken preisgeben; unter einem wolkenlosen Himmel in all ihrer Frühlingspracht.
Die Natur lässt sich von keiner Corona-Krise aufhalten. Und die Liebe wohl auch nicht.

Sehr viel ist ein wenig unwirklich in diesen Tagen. T-Shirtwetter, und dennoch ein menschenleerer Strand. Ein leergefegtes Inseldorf mit verschlossenen Läden. Eine leere Kirche, kurz vor den Ostertagen; eine einzelne Kerzenflamme flackert unter der Gottesmutter durch den Luftzug der offenstehenden Tür. Porta patet, cor magis.
Ich stelle eine weitere dazu und weiß nicht, was ich Gott erzählen soll. Aber ich bin da. Und ER ist es auch.

Sehr viel ist neu in diesen Tagen, und man wagt sich auf fast vergessenes Terrain, unsicher wie als Kind mit Schlittschuhen auf dem Eis. 
„Und was ist, wenn es nicht funktioniert?“ „Wenn man es nicht versucht, kann man es nicht wissen.“ So ist das wohl.
Irgendwann stolperte ich beim Schlittschuhlaufen über einen halb aus dem Eis ragenden Ast; ich schlug der Länge nach hin und hatte ein blaues Auge. Auf dem Kemnader Stausee war das, und dennoch hörte ich nicht auf, das Schlittschuhlaufen zu mögen. Und auch der See ist mir ein alter Freund. 
Die Freundin kennt den See; wir teilen eine Heimatregion. Und so verbindet uns auch eine Mentalität und vieles, das keine Worte braucht.

Der erste wirklich warme Tag liegt hinter uns. Die ersten LangeoogerInnen tummelten sich in Badekleidung am Strand, einige wagten sich sogar in die noch kalte Nordsee. Die Gemeinde hat einige Strandkörbe zur freien Verfügung aufgestellt; vor allem zum Sonnenuntergang sitzen dankbare Inselbewohner darin, um einen weiteren Tag im Corona-Wahnsinn zu verabschieden. Einen weiteren Tag, an dem nichts mehr normal scheint. Aber was ist schon normal? — Eine uralte Frage, deren Antwort mich aber tatsächlich noch nie interessiert hat.

„Bist du jetzt heterosexuell?“ Nein. Denn Schubladen interessieren mich auch nicht, und dieser Mensch, der noch so neu in meinem Leben ist, mich aber aus irgendwelchen Gründen tatsächlich zu lieben scheint, sieht das genauso.

Ich kann nicht behaupten, dass mir das nicht gefällt, oder dass es nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber manchmal sind einem auch schöne Dinge erst einmal noch fremd und man beobachtet sie mitunter staunend, als wäre man selbst nicht beteiligt.

Auch die ganz ungewohnte Dimension der Unkompliziertheit lässt mich noch etwas ungläubig an die Sache herantreten. Plötzlich riskiert man keine angewiderten Blicke mehr. Man muss sich nicht mehr vorsichtig umschauen, bevor man es wagt, den anderen zu berühren. Es gibt plötzlich keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Und auch keine moralischen Hindernisse: Kein Ehering, kein Priesterkragen.
Freilich, da gibt es den Inselklatsch. „Ich wünschte, ich könnte dich vor den dämlichen Sprüchen der nächsten Zeit beschützen“, sage ich. Aber da müssen wir jetzt beide allein durch, denn selbst wenn man sich an einer künftigen Gemeinsamkeit versucht, ist das Ja zum anderen doch jeweils eine einsame Entscheidung, mit all ihren Konsequenzen.

Es ist sehr still am Strand. Zwar sind fast alle Strandkörbe besetzt, aber aufgrund der Hygienebestimmungen sind die meisten Menschen nur allein oder zu zweit unterwegs; es gibt keine lärmenden Gruppen, wie sie sonst um diese Zeit schon die Insel bevölkern würden. Alle unterhalten sich leise oder lauschen reglos, die Gesichter von der tiefstehenden Sonne vergoldet. In die Rufe der Seevögel und das leise Rauschen des Windes im Dünengras mischt sich das gleichmäßige, einschläfernde Atmen der See. Es ist ungewohnt, nun wieder einen anderen Menschen neben mir atmen zu hören, nach all den Jahren der Angst: Der Angst vor Nähe, der Angst vor dem Entdecktwerden, der Angst vor Höllenstrafen. Der Angst vor den eigenen Gefühlen. Der Angst vor der Verantwortung für das Glück und Leid eines anderen, der einem vertraut und sich so gewissermaßen ausliefert, so wie man sich immer in Liebe ausliefert. 
„I don’t know where we’re going, but God, it’s a start“ heißt es in einem Lied von Tom Rosenthal, und das trifft den status quo wohl ziemlich genau. Aber es ist schön, in diesen Tagen der Distanz eine Entscheidung für Nähe getroffen zu haben. Und in dieser Zeit, wo alles Gewohnte auseinanderzubrechen scheint, plötzlich jemanden zu haben, der in unerschütterlichem Heldinnenmut irgendetwas mit „für immer“ plant.

Momentaufnahme, Aufräumen

Am Tag nach dem Sturm liegt tiefer Frieden über der Insel. Der Himmel, der sich gestern noch wie eine graue Betondecke über Langeoog gewälzt und ein bedrohliches Ächtzen und Stöhnen von sich gegeben hatte, zeigt sich bereits am Morgen in nahezu absurdem Blau. Ich erwache zum Trillern der Austernfischer und dem geschäftigen Geschwätz der Finken und Spatzen; die noch regennassen Primeln auf meinem Balkon sehen, von der Sonne beschienen, aus, als hätte sie jemand mit Strasssteinen beklebt.
Mit Freude ziehe ich den Vorhang beiseite, in der Geborgenheit meines kleinen Refugiums, mit dem Blick in die Welt.
Letztes Jahr stapelten sich Anfang März noch die Eisschollen am Strand. Der Balkon war eine graubraune Ödnis aus entlaubten Stauden und dunkler, hartgefrorener Erde in leeren Kästen. Nun aber ist jeder Frost in weiter Ferne; die Temperaturen halten sich seit Wochen zweistellig und es ist kein Ende in Sicht.
Ich bin froh darüber, die Blumen jetzt schon gepflanzt zu haben. Froh über jeden Farbtupfer in meiner Welt, froh über alles, das mich von all den Dingen ablenkt, die den letzten Winter nicht überlebten.

Die neuen Miteigentümer sanieren zurzeit, was die Wände hergeben, und da zwei Bohrmaschinen nicht schlimmer sind als eine, entschloss ich mich dieser Tage, ebenfalls zu renovieren, Möbel umzustellen, ein neues Farbkonzept zu entwerfen und ein paar neue Teile zu bauen. An Ruhe war tagsüber ja ohnehin nicht zu denken.

Die Wohnung sieht nun anders aus als vor einem Jahr; sogar neue Stühle habe ich, und dennoch fällt es schwer, sich nicht zu erinnern.
Ich streiche gedankenverloren über die Lehne des Stuhls, der dort steht, wo er damals saß, und kurz ist mir, als spürte ich die Maschen seines blauen Marinepullovers unter den Fingern, die Rundung seiner Schultern, das kurzgeschnittene braune Haar im Nacken und all das Entfremdete und Erforene in uns und zwischen uns.

Die Sonne lockt mich ins Freie. Weg von ihm, weg von allem, das mich bindet. Zu irgendwelchen Eitelkeiten treibt es mich indes nicht: Ich ziehe lediglich Gummistiefel und Parka über meine Schlafsachen und verlasse das Haus. Ein Mann mit einem eleganten Windhund an der Leine kreuzt meinen Weg. Mit leichter Wehmut schaue ich ihm hinterher. Irgendwann, denke ich, hätte ich auch gerne wieder einen Hund. Aber nicht jetzt.
Heilung braucht Zeit.

Die Blessuren, die der Sturm der Insel zugefügt hat, sind indes längst beseitigt. Kein abgerissener Ast, kein herabgefallener Dachziegel trübt mehr das Bild der Urlaubsidylle. Die Knospen der Narzissen längs der Straße sind so prall, als sei es nur noch eine Frage von Minuten, bis sie ihre gelben Köpfchen dem Licht entgegenstrecken. Auch die See steht überraschend still, verglichen mit dem stahlgrauen Ungetüm, zu dem sie sich gestern noch aufgetürmt hatte.

An der Kirche nisten bereits wieder die Turmfalken. Der neue Kurpriester ist ein freundlicher Professor, der zugleich Ruhe und Intellektualität ausstrahlt, mit der natürlichen Souveränität eines erfahrenen Geistlichen. Morgen ist der Beginn der Buß- und Fastenzeit, und ich bin froh, mich auf diesem Überweg nicht unbegleitet zu wissen.

In der Sonne setze ich mich auf eine Bank. Sie steht an keiner besonders sehenswerten Stelle; der Blick richtet sich lediglich auf struppige Braundünen. Aber sie steht da, wo ich sein will: Inmitten des Meeres, auf einer Insel. In der Wärme der Sonnenstrahlen richte ich den Blick himmelwärts und sehe den Gänsen nach.

Neujahrssonne

Neujahrssonne

Mit blutendem Herzen
sitzt das Rotkehlchen
In seiner Kapelle
aus Dornen
und Zweigen
unter denen sich
knospend der
Frühling
wölbt

  1. Januar 2019

 

Ich wünsche meinen Leserinnen und Lesern ein gesegnetes und gesundes neues Jahr.

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Momentaufnahme, Türspalt

Vor dem Busfenster schält sich Landschaft aus dem Grau. Über dem Feld steht eine Möwe in der Luft, obwohl kaum Wind weht. Aus dem Fenster sieht ein Mensch ohne Hund. Bald zeigt sich ein kleiner Kanal zur Linken; auch das Wasser darin steht still, es ist brackig und trüb. Eine Ente rudert unbeeindruckt mit den Füßen darin, aber man sieht die Füße nicht, weil das Wasser so schlammig ist, man sieht nur die kleinen Wellen, die sie schlagen.
Der Windmühle von 1775, die der Bus als nächstes passiert, fehlen schon lange die Flügel. In der Ferne das erste Hochhaus, danach graue Industriegebiete, die sich wie Tentakeln in die hässliche Stadtperipherie haken. Nach dem Überqueren der Weser plötzlich eine andere Welt: Ein kurzes Aufgleißen hanseatischer Eleganz, die schicken Neubauten mit Eigentumswohnungen und Wasserblick im Stephaniviertel, die Masten der Alexander von Humboldt. Erinnerungen an leichte, unbeschwerte Abende an Bord, an Maienwärme und Bier mit meinem Vater.


Bremen Hauptbahnhof. Aber ich habe keine Zeit für einen Abstecher in die Altstadt mit ihren schönen Läden und ihrem Flair, ich muss weiter nach Osnabrück. Bis zum Zug sind es noch 20 Minuten, ich sollte etwas essen. Nutz die Gelegenheit, sage ich mir, der Bahnhof quillt über vor Delikatessen, die man auf Langeoog nicht bekommt. Sushi. Börek. Pelmeni. Vindaloo. Antipasti. Aber ich kann mich nicht entscheiden. Die Warenfülle erschlägt mich, alles schreit „Hier bin ich! Hier!“, dazu all diese Menschen. Vor der Tür eine Kette Polizeibeamter, lautes Gejohle dahinter: Irgendein Fußballspiel. Bloß weg! Ich habe auf alles Appetit und zugleich auf nichts; ich kaufe ein trockenes Brötchen und schwarzen Kaffee, dann ziehe ich weiter zum Gleis. Ich würde kaputt gehen in einer Stadt, denke ich. Es ist mir nicht mehr erträglich. 
Ich denke an den Hund und bin froh, dass ich ihn nicht hier durchzerren muss, durch das Gewühl, all die Gerüche und den Lärm. Ich ließ ihn bei einem Freund: Wir müssen Abschied lernen. Unsere gemeinsamen Tage sind gezählt.
In all dem Lärm des Bahnhofs stehe ich da und denke an die Stille, die fast fühlbar war, als ich am Morgen der Reise erwachte und keine Pfoten ans Bett trippelten, keine Nase sich zwischen einen angelehnten Türspalt schob, kein Napf gefüllt werden musste. So wird es sein: Gewöhn dich dran.
„Sie können das Haustier von der Rechnung streichen“, erzähle ich dem Hotelangestellten am Telefon, „ich bringe den Hund doch nicht mit“. Unbekümmert sollte das klingen. Aber es ist ein Ende.

In Osnabrück naht ein Anfang: Ich muss zum Bischof, meine Firmung ist bald. Seine Exzellenz wird die Einwilligung geben und einen Festgottesdienst zelebrieren. Es ist eine Ehre, und es sollte ein Freudenfest sein.

Im Hotel angekommen, suche ich im Zimmer nach einem guten Platz für den Hund, bis mir einfällt, dass er nicht da ist. 
Das Haus ist fürchterlich in die Jahre gekommen. Durchs Fenster fällt der Blick auf den Dom mit seinem wunderschönen Kreuzgang und das Dach des Priesterseminars: Ebenfalls ein hübscher, altehrwürdiger Bau mit hohen Decken und langen, hellen Gängen. Gepflegte Grünpflanzen stehen vor weißen Fensterkreuzen. Hier hätte ich eigentlich wohnen sollen. Aber dort hätte ich den Hund nicht mitnehmen können, und so stehe ich nun im Ausweichquartier zwischen abgewetzten Holzvertäfelungen und ockerfarbenem Rauputz und bin trotzdem ohne das Tier.
„Die Weisung des Herrn ist vollkommen“ erinnere ich mich an ein Bibelwort, und mit dem Blick auf den Dom kann ich ja gar nicht anders, als daran zu glauben.


Mit dem Näherrücken der Feier steigt die Aufregung. Ich habe noch nie einen echten Bischof gesehen. Alle anderen Firmlinge sind mit Familie da, aber ich stehe allein an einem Tisch und warte auf Seine Exzellenz, weshalb ein älterer Herr sich mit mir vergesellschaftet und zu ausführlichen autobiografischen Erzählungen ansetzt. Derweil mischt sich der Bischof unters Volk, ich sehe, wie er den Raum betritt, sofort umringt von Menschen. Die Nervosität steigt mit jedem Tisch, an dem er die neuen Schäfchen seiner Kirche einzeln begrüßt; ich kann dem redseligen Senior neben mir kaum noch folgen. Schließlich steht der hochrangige Geistliche auch an meinem Tisch und begrüßt mich mit festem, forschenden Blick und langem Händedruck. Seine Augen sind dunkelbraun und von nicht einzuordnendem Ausdruck.
„So“, sagt er. „Sie kommen also von einer Insel, Langeoog.“ „Ja, Exzellenz.“ „Was machen Sie denn da?“ Ich nenne meinen Beruf ohne jede Ausschmückung und mustere derweil die Soutane mit den magentafarbenen Paspeln und Knöpfen, den Römischen Kragen, das Bischofskreuz, den Ring und frage mich, wie dieses kleine Satinkäppchen wohl hält, das er auf dem Kopf trägt. Während der Bischof noch etwas sagt, suche ich in seinem Haar nach einer Nadel oder irgendeiner anderen Form der Befestigung: Klassische Übersprungshandlung.
Reiß dich zusammen!, schimpfe ich mit mir selbst, jetzt hast du einmal im Leben die Chance, mit einem echten Bischof zu reden und du suchst allen Ernstes nach einer Nadel in seinen Haaren und begutachtest seine Knöpfe? Aber es nützt nichts, ich bin zu nervös. Ich antworte wie ein Automat. Irgendwann gleitet das Gespräch auf eine hinzugetretene Braut Christi über. An die Verabschiedung vom Bischof erinnere ich mich nicht. 
Aber dann heißt es auch schon Aufstellen zum Einzug.


Die Domkantorin singt schön wie ein Engel. Vor uns wabert Weihrauch, ich hefte den Blick auf das prachtvolle Goldkreuz, das man durch den Mittelgang vor uns herträgt. Es ist sehr würdevoll und wunderschön. 
Festlich können Katholiken, werde ich später denken, als ich die Messe nicht mehr wie einen von Nervositätsdunst vernebelten Film wahrnehme, und ich bin froh, bald dazuzugehören. Durch diesen großartigen Dom schreiten und dabei denken zu können: Das ist auch meine Kirche. Ich bin hier nicht bloß zu Besuch.


Irgendwann geht es zum Altar. „Bloß nicht fallen“, denke ich, als ich die unzählig erscheinenden Stufen erklimme, Jahrhunderte unter den Füßen.
Unsere kleine Inselkirche hat eine einzige Stufe zum Altar. Das Lied, welches wir oben im von Messdienern diskret zurechtdirigierten Halbrund singen, kenne ich zum Glück: Magnificat. Ich sang es als Teenager in Taizé. Den Blick in die Gemeinde vermeide ich.
Wir bekennen unseren Willen; die Empfehlungsschreiben unserer Heimatgemeinden liegen gerollt und mit Bändchen verschnürt in Körben auf der Altarplatte. Der Bischof schreitet das Halbrund ab, nimmt unsere Hände, sagt etwas und segnet. Ich putze die schweißfeuchten Hände noch schnell an meiner Hose ab. Die seiner Exzellenz sind trocken; er ist ja auch nicht nervös, erkennt aber vermutlich die Nervosität seiner Firmanwärter. „So“ sagt er dann auch mit der Betonung von „Jetzt haben Sie’s geschafft!“, als er vor mir steht, und ich erwidere seinen Blick, so standhaft wie möglich. Dann folgt der rituelle Spruch, der Segen, das Kreuz auf meine Stirn: So.
Wieder ist ein Wegstück gegangen; es geht heimwärts.
Vom Kreuzgang aus sieht man die Gräber im Innenhof und ich werde mir meiner Endlichkeit bewusst, die heute jedoch wieder etwas näher an die Unendlichkeit gerückt wurde und an das Ewige Leben. Nun werde ich nicht mehr als Heide sterben, denke ich, sondern als Katholik wie ihr. Es ist ein schönes Gefühl.

Irgendwann stehe ich auf der Straße vorm Dom. Sterne leuchten. Das Bild, dass der Bischof jedem von uns schenkte, halte ich im Arm. Es zeigt einen Türgriff des Doms, die Tür ist angelehnt: Sie hat sich für uns geöffnet. 

Der Hund fehlt mir. Ich würde ihm das Bild gern zeigen. „Du wirst ihn nie aus den Augen verlieren“, schreibt mir der Besitzer, an den ich ihn bald zurückgeben muss, „du kannst ihn sehen, so oft du willst.“ Ich glaube es ihm. Aber dennoch ist diese eine, diese besondere Tür, hinter der er mein Hund war, für uns nun geschlossen: Er ist nicht mein Hund. Er wird es nicht werden.

Beim Streifen durch die Altstadt quält mich erneut das Ausmaß der Wahlfreiheit. Man könnte überall und alles essen, überall bummeln und verweilen, man muss ja nicht einmal fragen, ob Hunde dort erwünscht sind. 
Ich gehe in ein Café am Kirchplatz, das wie alle Cafés an Kirchplätzen aussieht und esse den Kuchen, den ich auch auf Langeoog immer esse.

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