Widersprüche

Es ist ein Inselfrühling wie aus dem Bilderbuch. Wie in einer Werbeanzeige für irgendeine Familienversicherung sitze ich im Innenhof in der Sonne und putze mein schönes, neues, zitronenfaltergelbes Fahrrad, dessen fröhliche Farbe alles Wintergrau vertreibt. Meine zukünftige Ehefrau trägt eine salbeigrüne Bluse mit Tulpenmotiv, darüber ein zartes Strickjäckchen in Petrolblau und strahlt; schön wie Nachbars Schneeglöckchen in ihrem Sonnenfleck. Es weht kaum Wind; Möwen kreisen im Himmelsblau und man hört die Austernfischer vom Dach, die ihre Brutplätze beziehen.
Ein paar hundert Kilometer weiter liegt jemandes Ehefrau auf dem Asphalt, zerrissen von Granatsplittern. Die beiden Kinder ebenfalls, alle sind tot, sie haben die Flucht über eine Brücke nahe Kiew nicht geschafft. In den Redaktionen gab es lange Streit darum, ob man solche Bilder zeigen darf, aber der Ehemann und Vater, jetzt Witwer, hat zugestimmt. Man sollte das sehen.
In Europa ist Krieg und meine älteren Verwandten, die das schon mindestens einmal durchhaben, werden von ihren Erinnerungen heimgesucht; 90jährige, die nicht gedacht hätten, dass ihnen das Grauen noch einmal so nahe käme.
Ich habe keine Ahnung von Osteuropa; weder von Russland noch von der Ukraine, vom Üblichen an historischer und kultureller Allgemeinbildung einmal abgesehen. Aber dass es noch nie eine gute Idee war, irgendwo einzumarschieren, sollte sich doch nun wirklich inzwischen herumgesprochen haben. Und dass dabei immer die am meisten leiden, die am wenigstens Schuld tragen.
Und so schaue ich, wie alle anderen auch, mit Entsetzen, Trauer und Fassungslosigkeit auf zerbombte Häuser, Tote, Verletzte und Flüchtlingsströme. Ebenso mit einem warmen Gefühl im Herzen auf eine ungeheure Welle der Hilfsbereitschaft. Dennoch: Es zerreißt einen förmlich, es ist so nah, und man merkt einmal mehr, wie unglaublich fragil dieses Konstrukt „Frieden“ ist und dass es immer neu verhandelt und ausgehandelt werden muss, ebenso wie Demokratie. Sonst schlägt früher oder später immer die Stunde der Despotinnen und Despoten und jenes Teils des Volkes, der einfach nur regiert werden will, egal wie. Der Teil des Volkes, der noch schweigt, wenn es um Minderheitenrechte geht und sich dann wundert, wenn plötzlich jeder in seinen Rechten beschnitten wird, denn so fängt es nunmal an: Menschenrechte sind kein Luxusgut und kein Almosen, das eine Gesellschaft netterweise auch den Randfiguren hinwirft, wenn’s gerade mal läuft. Man kann diese Menschenrechte auch nicht einfach jederzeit wieder einsammeln, wenn man mal wieder Sündenböcke braucht oder Testkaninchen dafür, was das Volk so alles schluckt, solange es nicht die eigene Gruppierung trifft. Und doch geschieht genau das immer wieder.

Nun sitze ich hier in meinem kleinen nestwarmen Inselglück und weiß nicht, ob man das jetzt einfach noch so darf, kann, sollte: Glücklich sein. „Den anderen geht es nicht besser, wenn man jetzt keine Feste mehr feiert oder sich freut“, sagte mir eine liebe Bekannte dieser Tage, und natürlich: Das Unglück macht vor niemandem Halt, das Glück aber auch nicht. Und oft genug hat beides einen denkbar seltsamen Zeitpunkt. Mein Vater wurde 1942 bei Bombenalarm geboren, und zugleich mit der Angst, dass die neue Familie gleich zusammen mit dem Krankenhaus in Trümmern liegen könnte, wird bei Opa O. sicher dennoch auch eine Schnapsflasche oder Zigarrenbox gekreist sein oder womit auch immer man damals die Geburt von so einem Würmchen mitten im Krieg feierte. Vielleicht hat sogar noch jemand Blumen verkauft für die werdende Mutter, irgendwo zwischen dem Schutt einer zerbombten, grauen Stadt.

Dennoch brummt das schlechte Gewissen mit, wenn man sich dieser Tage freut; man spendet und hilft im Rahmen seiner Möglichkeiten, man schaut mit Angst auf all die Prophezeiungen bezüglich Preissteigerung, nährt seine Existenzangst damit, fürchtet sich vor kalten Wintern mit Heizkörpern nicht über 16°C, obwohl es einem doch immer noch so gottverdammt gut geht, weil man überhaupt noch ein Zuhause hat, das man heizen kann und darf und weil man Dreckflecken vom Fahrrad wischt anstatt Blut von den Wänden.

Vermutlich muss ich diesen Widerspruch einfach aushalten: Hinter mir liegt der schönste Jahresbeginn, an den ich mich erinnern kann. Wundervolle Urlaube, ein ewiges Versprechen im denkbar schönsten Setting, dazu dann — endlich — eine seelenstreichelnde Reihe milder Sonnentage auf der Insel und das stete Glück eines Zuhause am Meer. Für unser armes Europa, für die Menschen in der Ukraine ist es ein furchtbarer Frühling. Der Blick in die Welt tut weh.

Momentaufnahme, Start

Von der Wohnung, die nicht meine ist, schaue ich über nebelumhüllte Straßen. In der Nacht muss es geregnet haben; das rote Dach glänzt vor Nässe, die Pollen und Staub des vergangenen Frühlingstages sind weggespült. Es ist noch früh; die Morgensonne hat sich als milchiger Ball gerade erst über den Horizont erhoben.
Die Austernfischer lassen seit Stunden ihr Trillern ertönen, auch der Fasan meckerte zeitig in den Dünen. Nun stimmen auch die Stare ein, die Lerchen, Amseln und Rotkehlchen. Ein neuer Tag in dieser unwirklichen Zeit.

Die Freundin verabschiedet sich zur Arbeit. Ich trinke ihren Kaffee am Fenster und sehe zu, wie der Nebel die Insel Stück für Stück verschluckt. Aber es wird nicht lange dauern, dann wird er all die Schönheit des Weltnaturerbes wieder den Blicken preisgeben; unter einem wolkenlosen Himmel in all ihrer Frühlingspracht.
Die Natur lässt sich von keiner Corona-Krise aufhalten. Und die Liebe wohl auch nicht.

Sehr viel ist ein wenig unwirklich in diesen Tagen. T-Shirtwetter, und dennoch ein menschenleerer Strand. Ein leergefegtes Inseldorf mit verschlossenen Läden. Eine leere Kirche, kurz vor den Ostertagen; eine einzelne Kerzenflamme flackert unter der Gottesmutter durch den Luftzug der offenstehenden Tür. Porta patet, cor magis.
Ich stelle eine weitere dazu und weiß nicht, was ich Gott erzählen soll. Aber ich bin da. Und ER ist es auch.

Sehr viel ist neu in diesen Tagen, und man wagt sich auf fast vergessenes Terrain, unsicher wie als Kind mit Schlittschuhen auf dem Eis. 
„Und was ist, wenn es nicht funktioniert?“ „Wenn man es nicht versucht, kann man es nicht wissen.“ So ist das wohl.
Irgendwann stolperte ich beim Schlittschuhlaufen über einen halb aus dem Eis ragenden Ast; ich schlug der Länge nach hin und hatte ein blaues Auge. Auf dem Kemnader Stausee war das, und dennoch hörte ich nicht auf, das Schlittschuhlaufen zu mögen. Und auch der See ist mir ein alter Freund. 
Die Freundin kennt den See; wir teilen eine Heimatregion. Und so verbindet uns auch eine Mentalität und vieles, das keine Worte braucht.

Der erste wirklich warme Tag liegt hinter uns. Die ersten LangeoogerInnen tummelten sich in Badekleidung am Strand, einige wagten sich sogar in die noch kalte Nordsee. Die Gemeinde hat einige Strandkörbe zur freien Verfügung aufgestellt; vor allem zum Sonnenuntergang sitzen dankbare Inselbewohner darin, um einen weiteren Tag im Corona-Wahnsinn zu verabschieden. Einen weiteren Tag, an dem nichts mehr normal scheint. Aber was ist schon normal? — Eine uralte Frage, deren Antwort mich aber tatsächlich noch nie interessiert hat.

„Bist du jetzt heterosexuell?“ Nein. Denn Schubladen interessieren mich auch nicht, und dieser Mensch, der noch so neu in meinem Leben ist, mich aber aus irgendwelchen Gründen tatsächlich zu lieben scheint, sieht das genauso.

Ich kann nicht behaupten, dass mir das nicht gefällt, oder dass es nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber manchmal sind einem auch schöne Dinge erst einmal noch fremd und man beobachtet sie mitunter staunend, als wäre man selbst nicht beteiligt.

Auch die ganz ungewohnte Dimension der Unkompliziertheit lässt mich noch etwas ungläubig an die Sache herantreten. Plötzlich riskiert man keine angewiderten Blicke mehr. Man muss sich nicht mehr vorsichtig umschauen, bevor man es wagt, den anderen zu berühren. Es gibt plötzlich keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Und auch keine moralischen Hindernisse: Kein Ehering, kein Priesterkragen.
Freilich, da gibt es den Inselklatsch. „Ich wünschte, ich könnte dich vor den dämlichen Sprüchen der nächsten Zeit beschützen“, sage ich. Aber da müssen wir jetzt beide allein durch, denn selbst wenn man sich an einer künftigen Gemeinsamkeit versucht, ist das Ja zum anderen doch jeweils eine einsame Entscheidung, mit all ihren Konsequenzen.

Es ist sehr still am Strand. Zwar sind fast alle Strandkörbe besetzt, aber aufgrund der Hygienebestimmungen sind die meisten Menschen nur allein oder zu zweit unterwegs; es gibt keine lärmenden Gruppen, wie sie sonst um diese Zeit schon die Insel bevölkern würden. Alle unterhalten sich leise oder lauschen reglos, die Gesichter von der tiefstehenden Sonne vergoldet. In die Rufe der Seevögel und das leise Rauschen des Windes im Dünengras mischt sich das gleichmäßige, einschläfernde Atmen der See. Es ist ungewohnt, nun wieder einen anderen Menschen neben mir atmen zu hören, nach all den Jahren der Angst: Der Angst vor Nähe, der Angst vor dem Entdecktwerden, der Angst vor Höllenstrafen. Der Angst vor den eigenen Gefühlen. Der Angst vor der Verantwortung für das Glück und Leid eines anderen, der einem vertraut und sich so gewissermaßen ausliefert, so wie man sich immer in Liebe ausliefert. 
„I don’t know where we’re going, but God, it’s a start“ heißt es in einem Lied von Tom Rosenthal, und das trifft den status quo wohl ziemlich genau. Aber es ist schön, in diesen Tagen der Distanz eine Entscheidung für Nähe getroffen zu haben. Und in dieser Zeit, wo alles Gewohnte auseinanderzubrechen scheint, plötzlich jemanden zu haben, der in unerschütterlichem Heldinnenmut irgendetwas mit „für immer“ plant.

Momentaufnahme, Orkan

Am Tag danach tut die See, als sei nie etwas gewesen. Letzte dunkle Wolken ziehen sich vom Horizont zurück und enthüllen ein hellblaues Band aus weichem Licht. Darunter glänzt silbrig das Meer. Doch an den Übergängen türmen sich meterhohe Sandverwehungen; im Osten ist kein Strand mehr vorm Dünenfuß. Im Dorf liegen abgerissene Äste auf allen Wegen, dazwischen große Pfützen, in denen sich der Regen gesammelt hat. Doch das Wasser in den Pfützen steht heute still, und man kann endlich wieder Fahrrad fahren.
Am Tage nach dem Sturm sieht die Insel aus, als habe kurz jemand die Pausentaste gedrückt, um Mensch und Natur etwas Linderung zu verschaffen. Auch ich hatte diesen Sturm unterschätzt. Fast drei volle Tage war die Insel von der Außenwelt abgeschnitten; keine Fähre fuhr und auch keine Frachtschiffe. Das bedeutete: Keine Post und ausgedünnte Regale im Supermarkt. Kein Arztbesuch auf dem Festland trotz entzündeter Ohren. Und der Mensch auf dem Kontinent, dem eine heimliche Sehnsucht gilt, schien noch viel unerreichbarer als sonst.
Es ist ein seltsames Gefühl, nicht nur aus Zeit- und Geldgründen nicht an Land zu kommen, sondern weil es schlichtweg unmöglich ist. Weil die Anleger unter Wasser stehen und weil Orkanböen von 12 Beaufort ein Anlegen ohnehin zu gefährlich machen. Die Macht des Windes spürt man bereits zu Fuß. Am Strand zwingt der Sturm einen in die Knie, als wolle der Herr mit aller Macht Demut vor seiner Schöpfung lehren. Auf den Straßen läuft man Diagonalen, als sei man betrunken; auf dem Fahrrad wirft es einen schlicht um, sofern man überhaupt einen Millimeter voran kommt.
Jeder Meter ein Kampf. Aber die Natur siegt; der Mensch hat sich unterzuordnen.
Und so trägt man das Schicksal mit größtmöglicher Gelassenheit. Verharmlost den Ernst der Lage nicht, gerät aber auch nicht in Panik. Betet natürlich: Dass die Dünenkette hält. Dass niemand dringend ins Krankenhaus muss. Selbst Sankt Nikolaus ist an einigen der Tage für mich unerreichbar, und als ich es doch hinschaffe, keuche und schwitze ich wie nach einem Marathonlauf: Es herrschte ununterbrochen Gegenwind. Aber selbst der Rückenwind holt einen von den Füßen, es ist aussichtslos. 
Viel zu Hause bleiben kann ich dennoch nicht, denn berufliche Verpflichtungen bestehen fort und die Kundschaft verlangt Bilder von Strand, Zerstörung und brüllendem Meer. Also gehe ich raus, robbe mich bäuchlings zur Abbruchkante, die Kamera wie ein Baby in die Jacke geknöpft, Sand und Gischt in jeder Körperöffnung. Ab und zu sind ein paar andere Leute da: Manche als Katastrophentouristen, manche aus echter Sorge um die Insel, manche auf der Suche nach einem perfekten Foto, manche ebenso dienstlich unterwegs wie ich. Zweifelsohne gehört bei diesem Wetter aber nicht einmal ein Hund vor die Tür, und die meisten Herrchen und Frauchen lassen die Gassirunden wohl auch eher kurz ausfallen dieser Tage.
Die Erholung nach dem Sturm tut gut. Endlich braucht man für Wege nicht mehr dreimal so lang, endlich kann man wieder Festlandspläne machen und sogar Pläne für die Balkonbegrünung im Frühjahr.
Ich denke über diese kurze Phase der totalen Isolation nach, abgeschnitten vom Kontinent. Einzelne Fährausfälle oder mal einen Tag ohne Schiffe habe ich auf Langeoog schon erlebt, ebenso wie einige Stürme. Aber nicht mehrere Tage in Folge. Auch eingesessenere Langeooger erzählen, dass dies eher selten vorkommt; die Älteren erinnern sich noch an einige Winter, in denen die Insel von Eis umschlossen war, da kam man dann ebenfalls nicht weg, aber auch das ist schon länger her. Und so war dieser Orkan wohl doch kein ganz harmloser.
Es ist ein bisschen wie mit dem Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit, denke ich. Einsamkeit ist ein Wollen ohne Können: Man möchte gerne Menschen sehen, hat aber niemanden. Einsamkeit ist die Insel im Sturm: Man möchte raus, aber kann nicht, weil es kein Schiff gibt. Alleinsein ist dagegen nur eine Nichtwahrnehmung von Optionen, ein Können ohne Wollen: Man könnte Menschen sehen, aber man will nicht. Man könnte die Insel verlassen, entscheidet sich aber dagegen. Die Option des Könnens aber besteht.
Morgen aber hat die geografische Einsamkeit ein Ende: Die Schiffe fahren nach Plan und ich werde auf dem ersten davon sitzen.
Dazwischen ist ein Telefonhörer die „Rettungsschnur“, wie es schon die wunderbare Ulla Meinecke besang: Ein Funksignal, das einem das geliebte Lachen über hunderte Kilometer ans Ohr spült. Oder es ist ein Mensch, der ebenfalls auf dieser Insel eingeschlossen ist und der mit mir gemeinsam nach draußen schaut: In Richtung Horizont, an dem es nun schon viel heller geworden ist.

 

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