„Damit, dass Strom und Bäche vom Eise befreit sind, ist wohl zu rechnen“ schreibt mir ein Freund aus seinem Osterurlaub; die Postkarte — er schickt immer Postkarten statt E-Mails — zeigt einen alten, ledernen Reisekoffer, aus dem Frühlingsblumen quellen.
Und recht hat er, denn tatsächlich scheint der Winter seit Wochen schon Lichtjahre entfernt zu sein. Es ist das wärmste und sonnigste Osterfest, an das ich mich auf der Insel erinnere, und ich denke nur ungern an das letzte eisige Frühjahr zurück.
Nach emotional wie beruflich anstrengenden Tagen mache ich mich auf zu einem Abendspaziergang ans Meer. Am Strandübergang fotografieren zahlreiche Menschen mit Smartphones den Sonnenuntergang, und ich muss lächelnd an einen brillanten amerikanischen Comic denken, der eine fluchende Sonne zeigt, die sich darüber aufregt, nie mehr unbehelligt ein Nickerchen machen zu dürfen. Zweifelsohne: Hätte ich irgendeinen Apparat dabei, würde ich ebenfalls ein Foto machen.
So aber halte ich den Anblick nur für einen Moment im Herzen fest: Die silbernen, über die Mondlandschaft des Strandes mäandernden Priele, die im Schlick glänzenden Muscheln, Möwen im Gegenlicht, blaue Umrisse großer Frachtschiffe auf Reede, darüber der tiefrote Sonnenball.
Um diese Zeit verändert sich die Insel, insbesondere der Strand, täglich. Mit routiniertem Bienenfleiß werden neue Strandkörbe herangekarrt, Plankenwege verlegt, Spielgeräte installiert. Mit den frisch verlegten Wegen sieht es nun schon aus wie im Sommer, und im Augenwinkel meiner Erinnerung erscheint mir ein Bild vom letzten August. Der Sand war warm unter den Füßen, neben mir ging der Mann, dessen schöne Figur mir im Gedächtnis blieb, mit seinen perfekt sitzenden Polohemden und Chinohosen, die Sandalen in der Hand. Schlanke Finger, Musikerhände. Es war gut, dass er da war, denn sein Besuch machte das vergangene Frühjahr schon etwas weniger kalt. Er ist auch immer noch da, und also besteht kein Grund für Wehmut. Vielleicht sehe ich ihn sogar wieder, irgendwann. „Komm mal zu mir“, sagt er, aber ich weiß nicht, ob er das wirklich meint; seine Stadt suchte ich dennoch auf der Landkarte.
Die Erinnerung an den Sommer tut wohl. Und doch wird auch diesen Sommer die Insel wieder anders sein; es ist ja jetzt schon alles anders: Das neue Hotel, dessen Dachaufbau je nach Perspektive wie ein Zinksarg aussieht, die offenen Baustellen, die mit Steinen zugeschütteten Vorgärten, die pflegeleicht sein sollen, aber aussehen wie Gräber.
Sogar der schöne Windflüchter, der die Straße zum Strand seit vielen Jahren wie ein Torbogen überspannte, lag die Tage kleingehäckselt neben seinem Stumpf. Er war wohl morsch geworden und stand die letzten Monate schon mit einem Seil ans Haus gebunden, aber schade ist es um ihn doch.
Und so wendet sich, wiewohl ohne Veränderung kein Fortschritt möglich ist, nicht immer alles zum Guten. Auch unter den Menschen auf der Insel liegt zurzeit vieles brach und einige Abgründe offen, in die man lieber nie geblickt hätte.
Wahlen stehen an. Ich betrachte die Muscheln am Strand, wie sie dort liegen, wo sie eben liegen, und denke, dass das im Dorf auch bald wieder wünschenswert wäre: Alle nehmen ihren Platz ein, so gut es eben geht. Einige liegen in Grüppchen, andere einzeln; keiner urteilt. Niemand bringt sich bewusst in Position, niemand drückt einen anderen mutwillig in den Schlick. Einige sind oben, andere unten, und mit der nächsten Welle kann sich das schon wieder ändern. Und zumindest darin, denke ich, ist es mit der Lokalpolitik ja nicht unähnlich: Man muss den Tiden ihren Lauf lassen und sehen, was sie bringen.