Momentaufnahme, Sand

Wie im letzten Jahr, war auch jetzt die Zierkirsche hinterm Bahnhof der erste Baum in Blüte. Es war entsetzliches Wetter, als ich sein Aufblühen bemerkte; ich fotografierte die zarte Pracht unter schiefergrauem Himmel. Zuhause löschte ich die Bilder wieder, denn auf die Linse war, von mir unbemerkt, Sprühregen gefallen. Inzwischen haben sich der Zierkirsche noch etliche andere Bäume angeschlossen und bald wird die Insel von herabgefallenen Blütenblättern überzuckert sein wie vor wenigen Wochen noch vom Schnee.
Auch das miese Wetter ist einmal mehr Geschichte: Eine sonnige Woche steht bevor. Die Ostertage sind nah und Langeoog füllt sich.

An das letzte Osterfest kann ich mich kaum erinnern. Von meinen Eltern kam wohl ein Päckchen, und auch in der Kirche bin ich gewesen, das weiß ich. Ich beichtete die Sache mit dem Mann bei einem Priester, der mir nicht besonders sympathisch war. Das nahm zwar nichts von der Peinlichkeit, das Desaster auf den kerzenbeschienenen Tisch zwischen uns zu packen, verringerte aber andererseits die Furcht davor, was der Priester danach über mich dachte, weil es mir schlicht egal war. Ich sah auf die violette Stola mit den Kreuzen; sein Gesicht erinnere ich nicht. 
Der Priester hörte sich die Sache regungslos an, gab mir irgendetwas auf Latein zur Buße und erteilte die Absolution. Vor dem Beichtzimmer scharrte das nächste reuige Schäfchen mit den Hufen.
Ich saß danach noch eine Weile in der Bank, klamüserte mir das Latein aus dem Gotteslob zusammen und sah in den leeren Altarraum. Der Mann sollte verschwinden. 
Tabula rasa.
Und nun blicke ich ein Jahr zurück und stelle nicht ohne ein Quäntchen Stolz fest, dass ich es tatsächlich geschafft habe, ihm nicht nenneswert nachzutrauern.
„Gott, nimm das von mir.“ Ich wurde erhört.

Es ist ein schönes Gefühl, niemanden zu vermissen. Und ein noch schöneres Gefühl, sich in Liebesdingen mit nichts zu quälen. Es ist schön, frei zu sein.
Wieviel mehr gelingt mir doch der Blick auf die Welt, denke ich, wenn ihn kein Mensch mehr verstellt? Wenn nur noch das weiche Licht platonischer Verhältnisse das Alltagsgrau erhellt anstelle der gleißenden Verblendung oder der Höllenschwärze einer erotisch-romantisch konnotierten Verbindung, je nach aktuellem Grad des „Es-ist-kompliziert“? In den aktuellen Diskussionen wird der Zölibat immer als große Qual hingestellt, als etwas, das nur Probleme schafft. Als etwas, das nur nimmt. 
Mir nimmt ein zölibatäres Leben vor allem Last.
Know your enemy.

Dieser Tage sah ich ein Bild von jungen Novizen in einem Klostergarten; auch dort blühten die Bäume und ich beneidete die Männer um ihre Jugend, den schönen weißen Habit und die sichere Zukunft, die vor ihnen lag. Ich hätte mich in diesem Alter nicht zu einem solchen Leben entscheiden können. Ich hätte die Klostermauern als Einsperren gesehen, als Beschneidung von Freiheit. Nicht als Schutzraum, in dessen festen Grenzen man sich zu einer ganz besonderen, heiligen Form von Freiheit aufschwingen konnte. Ich hätte nicht geglaubt, dass einem die Liebe zu Gott, wenn man sie erst einmal im Herzen genährt und großgezogen hat, tatsächlich reichen kann. Und nun muss ich mir eingestehen, dass all die Freiheiten, die ich stattdessen draußen gesucht hatte, keine waren. Und das, was ich für Liebe hielt, auch keine Liebe. Ich werde in diesem Leben wohl kein Mönch mehr, aber ich hoffe, die jungen Männer halten durch.
Auf meinem täglichen Weg zum Strand sehe ich mich um und sinne, angesichts der Weite des Meeres und des Himmels über mir, noch einmal über den Begriff der Freiheit nach.
Nein, denke ich. Es waren nicht alle Freiheiten, die ich mir suchte und schuf, eine Illusion oder gar destruktiv. Diese hier, beispielsweise, war gut. Den Traum zu haben, ans Meer zu ziehen, und dann zu entscheiden: Ich mach das jetzt. Es ist das fünfte Jahr, und ich bereue nichts. 
Und nur hier, denke ich, während ich, von Frieden erfüllt, meine Spuren in den Sand setze, konnte ich überhaupt die andere Freiheit finden. Und die andere Liebe. Ohne das vorherige Verlorensein, ohne das Einschlagen des neuen Weges hätte ich Gott wohl nie gefunden, so wie man auch das Licht eines Leuchtturmes nicht wirklich sieht, solange man an dessen Fuße sitzt. 
Aus kirchenrechtlicher Sicht mag ich ein wandelndes Weihehindernis sein, aber es tut dennoch gut, Gott ein Versprechen zu geben: In aller Freiheit. Und für die Freiheit.

Ich denke an den Mann und versuche, irgendetwas von den Gefühlen wieder hervorzuholen. Ich höre all die traurigen Liebeslieder in meiner Playlist, aber ich kann diese Verzweiflung nicht mehr fühlen, dieses Obsessive und Verzehrende. Und auch nicht die Euphorie. Ich kann nicht mehr auf diese Weise lieben, zumindest ihn nicht. Da ist nichts mehr. 
Vielleicht noch eine diffuse Zärtlichkeit, wenn ich an die guten und schönen Dinge denke, die er für mich getan hatte. Wie er meinem Hund half oder per Express einen Adventskalender schickte, als ich am 1. Dezember in einem Nebensatz erwähnte, dass ich gerne einen hätte. Dieser Tage fand ich den Adventskalender wieder. Er war ein bisschen verbogen, weil ich ihn ganz hinten im Schrank vergraben hatte, damit ich ihn nicht ohne Weiteres wiederfinde; aber wegwerfen wollte ich ihn auch nicht. Ich zog ihn hervor, und als ich ihn glättete und wieder ins Fach zurückschob, klebte Glitzer an meinen Fingern. Ich sah ratlos auf meine glitzernen Fingerkuppen; sie glitzerten wie damals noch jeder Gedanke an ihn geglitzert hatte, und nun blieb davon nur ein verbogenes Stück Pappe mit frommen Sprüchlein hinter halb abgerissenen Türen.

Gedankenverloren nehme ich etwas Sand in die Hand und lasse ihn durch die Finger rinnen. Im Licht des verblassenden Tages beginnen auch die Sandkörner zu glitzern. Ich werfe eine faustvoll davon ins Meer. Dann gehe ich weiter.

Momentaufnahme, Allein

Es ist ein einsamer Moment, wenn man erkennt, dass ein Freund kein Freund mehr ist. Vor einem liegt noch das Bilderbuch sonniger Tage ausgebreitet, alles ist warm, vertraut und schön. Das geteilte Leid, der gemeinsame Zorn, die Freude am Glück des anderen, der Stolz auf dessen Erfolge. Das verständnisvolle Lächeln, wenn er über die Strenge schlug, die Nachsicht und das Vergeben, wenn er Mist machte. Das warme, befreiende Gefühl, wenn auch er vergab. Wenn er einem Kritik nicht nur nicht krumm nahm, sondern sich sogar dafür dankbar zeigte. All das war so lange so selbstverständlich, so einfach. Nie hätte man gedacht, dass es so trostlos enden würde.

Wir hatten doch für alles Worte, denke ich, warum dann nicht für uns selbst? 
Verdient nicht auch eine Freundschaft irgendeine Form von „Schlussmachen“, mit der sich eben genau das machen lässt: Nämlich Schluss? Schluss mit Grübeln, Nachdenken, dem Drehen und Wenden von Erinnerungen. 
Was, in all den Jahren, war nun Lüge, was war Wahrheit? Früher hätte sich diese Frage gar nicht gestellt. Ich war sein Freund, weil ich glaubte, was er sagte.

Und dann steht man da und weiß plötzlich gar nichts mehr. Und es ist nicht einmal die physische Abwesenheit, die nach einem solchen Nicht-Ende am meisten schmerzt. Vielmehr ist mit dem erklärungslosen Verschwinden plötzlich alles in Frage gestellt, weil mit diesem kalten und einsamen Ausblutenlassen der Freundschaft plötzlich auch die Erinnerungen davonfließen, und alles, was man über den anderen zu wissen glaubte. Das Vermissen ist grässlich.

Plötzlich lodert Wut. Über die Chuzpe, mit der er diese Schneise der Verwüstung in den sorgsam gehegten, schönen, dichten Wald unserer Verbundenheit fräste; wie er quasi im Vorbeigehen Geborgenheit und Vertrauen in Trümmer legte, als wischte man Krümel vom Tischtuch. Und was, tobe ich innerlich, macht diesen Menschen eigentlich so sicher, dass ich mich nicht für diesen schnöden Abgang räche?
Die Antwort ist so schlicht wie endgültig: Weil ich sowas nicht mache. Weil für mich Denunzieren das Hinterallerletzte ist. Und weil er das weiß.
Für eine Sekunde bringt das das warme Gefühl der Verbundenheit zurück: Er kennt mich eben doch.

Aber ich könnte, oh wie ich könnte! Schau — in erneutem Aufwallen von Rage fliegen die Finger über die Tasten: Unwürdig. Unreif. Unchristlich. Unverschämt. Unbeherrscht, unverfroren, un-, un-, un- — Nein!
Ungeschehen. Das ist doch eigentlich alles, was ich will. Mach es ungeschehen. Alles auf Anfang. Dorthin, wo der Weg sich gabelte.

Komm zurück.
Mit der Delete-Taste gebe ich dem Blatt seine Unschuld zurück, während ich zusehe, wie sich die Zeilen rückwärts selbst fressen: Undone. Auf facebook kreist der Finger über „Unfriend“; ein entsetzliches neues Verb, dass es dieses Jahr sogar in den Duden schaffte: Entfreunden. 
Aber ich kann es nicht. Und ich will auch nicht.
Ich bin dein Freund.

„Ich will diesen Zorn nicht. Ich will der Sünde des Zorns nicht anheimfallen!“
Der Beichtvater nickt. „Der Zorn ist menschlich“, sagt er. „Auch die Rachephantasien. Ich habe sowas auch manchmal“, sagt der Mann, der müde an seiner Stola zupft und so gar nichts von einem Choleriker hat. „Jeder hat das. Beten Sie, wenn sie in dieses Gefühl fallen“, sagt er, „lesen Sie die Psalmen.“ „Ich hab ja nichts umgesetzt“, ergänze ich leise. „Dann sehe ich keine Sünde“, sagt der Pater. Plötzlich kommt es mir dumm vor, damit zur Beichte gegangen zu sein. Und den Einleitungssatz mit der Reue und Demut hatte ich auch vergessen.
„War’s das?“ fragt der Geistliche schließlich, schon halb von seinem Platz erhoben, als stünde ich in der Bäckerschlange und hätte nicht soeben das Elends-Scrabble meines Herzens vor ihn auf den Tisch geleert. „Glaub schon“, sage ich, während ich die Rippen der Heizung fixiere. 
Er spricht mich los und ich bin wieder allein mit alledem.
In der Kirche verspricht das schwachrot flackernde Licht die Anwesenheit Gottes. An der Westwand leidet der Heiland an seinem Kreuz.
Es tut weh.

 

14SEpt183