Momentaufnahme, Festhängen

Die Temperaturen halten sich kontinuierlich um 10°C, aber Urlaubswetter sieht anders aus. Es ist grau und regnet seit Tagen, doch der Winter kommt einfach nicht. Die Zeit scheint festzuhängen; anhand des Wetters zumindest lässt sich keinerlei Jahreszeit festmachen und auch die Vegetation ist nicht zwingend ein sicheres Indiz. Durch die Wärme sprießt zartes Frühlingsgrün an den Bäumen; die Feuchtigkeit lockt dagegen herbstlich anmutende Pilze aus dem weichem Moos in den Dünentälern.
Und doch schreitet die Zeit unerbittlich voran. Der Wandkalender mit Vogelportraits, den mir eine talentierte Freundin jedes Jahr zusammenstellt, zeigt auf dem Januarbild einen Bartkauz, der durch Wintergeäst lugt. Ich schlage das Blatt um; das nächste Bild zeigt Basstölpel beim Nestbau, in den Schnäbeln Teek, kein Plastikmüll, immerhin. Es ist Februar und das Jahr hat bereits eine Menge Unschuld eingebüßt.
Großbritannien hat die Europäische Union verlassen, in Frankfurt zerfleddert sich die katholische Kirche beim Synodalen Weg, Trump wird der Welt vermutlich noch eine zweite Amtszeit lang mit täglichem Morallimbo beweisen, dass man auch ohne Bildung, Anstand und Würde viel erreichen kann. Im Netz toben unverändert Hass, Häme und Hysterie, und von „Hierzulande“ fange ich in Sachen Politik und Alltagswahnsinn besser gar nicht erst an. 
Der gefühlte Stillstand der Zeit beim Blick aus dem Fenster nervt mich; das rastlose Kreiseln der Welt aber auch. Mich ermüdet das eine, das andere verursacht Übelkeit.
Nun kann sich der Pessimist in mir darin verloren fühlen; der Optimist hingegen sieht weitere 11 Monate voller Chancen, Pläne und schöner Dinge; sieht kommende Reisen, Blumen und Sonnentage. Vielleicht ein Wiedersehen mit liebgewonnenen Menschen. Und vielleicht mal wieder eine richtige Jahreszeit. Ich bin bemüht, nur Letzterem Raum zu geben.

Der Brexit zumindest motiviert mich immerhin dazu, das Thema „Reisen“ in der Zukunft wieder etwas größer zu schreiben, auch wenn ich nicht mehr gern unterwegs bin. Man hat ja kaum noch darüber nachgedacht, wie komfortabel die EU das Reisen gestaltet. Keine Grenzkontrollen, kein Geldwechsel. Wenn es irgendwo schön ist, kann man dort sogar arbeiten und bleiben. Freiheit ist ein fragiles Gebilde. Und eigentlich habe ich noch viel zu wenig von Europa gesehen.
Mit meinem Vater werde ich mir in Kürze die Heimat unserer Vorfahren ansehen: mit Siegfried Lenz’ „Suleyken“, Gräfin Dönhoffs Kindheitserinnerungen und einem Bildband über die masurischen Seen träume ich mich bereits jetzt in den ostpreußischen Frühling. Es wird mich über den Winter retten — bzw. über diese gesichtslosen Tage, die dem Monat nach der diesjährige Winter sein sollen.

 

Momentaufnahme, Pfade

Zum Strand hinab führt ein neuer Plankenweg. An den Stellen, wo die Maisonne den Morgenregen noch nicht ganz aus den Bohlen gesogen hat, duftet er noch nach Holz.
Wo der Dünenfuß endet, gabelt er sich. Er wurde erst heute verlegt, eine frische Treckerspur führt von ihm weg zum nächsten Dünenübergang.
Über leuchtend grünem Strandhafer spannt sich ein preußischblauer Himmel, an dem bauschige Wolken treiben.
Die Weggabelung, die frischen Spuren im Sand — all das erinnert mich an die Modelleisenbahn, die ich einst hatte; die kleine Landschaft aus Wegen und Weichen, die alte Dampflok mit ihren grünen Waggons. Ich war sehr glücklich, als ich sie bekommen hatte und spielte gerne damit. Mein Vater hatte die Gleise zum Kreis um den Weihnachtsbaum gelegt, später half er mir, ein Bahnhofsgebäude dazu zu bauen, die filigranen Details klebte er mit chirurgischer Präzision zusammen: Ich hatte dafür weniger Talent. Auch einen mit grünem Kunstgras beflockten Hügel gab es; ein Tunnel darin, in den die Bahn fauchend und stampfend einfuhr. Für den kleinen, blauen See aus Kunstharz machte ich winzige Schwäne aus Knetmasse.
Die Weichen verstellte man mit einem kleinen Hebel. Ab und zu entgleiste die Lok. Ich nahm sie dann immer in den Arm, tröstete und tätschelte sie und setzte sie behutsam wieder aufs Gleis. Als könne eine Lok aus Gusseisen weinen.

Vor der Weggabelung, an der ich jetzt stehe, liegt statt eines Kunstharzsees der Priel. Brandenten gründeln darin. Es ist kurz vor Sonnenuntergang und sehr friedlich: An einem schönen Maitag eine Kostbarkeit.
Außer mir sind nur wenige Menschen da. Ein älteres Paar redet leise im Strandkorb, ein Hund jagt japsend an mir vorbei.

Ich bin dankbar, hier zuhause zu sein. Und dennoch macht mich das Betrachten der Pfade ein wenig nachdenklich.
In Kürze wird mich mein Weg wieder zurück ins Kloster führen. Ich freue mich sehr auf den Konvent. Die Stille, die Einfachheit und Klarheit eines streng geregelten Lebens. Die Mönche, von denen einer inzwischen zum Freund wurde. Die fremd-vertrauten Wälder und Seen meiner Kindheit.
Ich bin erschöpft.
Es ist doch so wunderschön hier, sage ich mir, die glänzende Meeresoberfläche betrachtend, unzählige Menschen lassen einen Riesenhaufen Geld auf der Insel, um sich genau dort zu erholen, wo ich täglich sein darf. Warum, frage ich mich, muss ich dann ins Ruhrgebiet, um wieder Kraft zu finden?
Ich habe den schönstmöglichen Alltag, den ich mir vorstellen kann, und dennoch brauche ich Urlaub von alledem. Was stimmt da nicht?
Vermutlich genau das: Es ist Alltag. Trotz aller Dankbarkeit. Trotz aller Schönheit. Trotz aller Liebe. Und wäre ich Mönch und dauerhaft im Kloster, würde ich stattdessen wohl genau das hier vermissen.

Ich denke zurück an die Modelleisenbahn und wie es war, alle Pfade und Weichen in den Händen zu haben, sogar die Tunnel, die Berge und Seen. Im Leben geht das nicht. Es ist viel Unruhe in der Welt zurzeit.
In wenigen Tagen ist Europawahl und ich empfand diese Staatengemeinschaft, die ich von Anfang an befürwortet hatte, nie zuvor als so fragil wie heute. Fast möchte ich mein entgleistes Europa wie damals die Lok in die Arme nehmen, tätscheln, trösten und dann zurück aufs Gleis setzen — und zwar auf eines, das in die richtige Richtung führt. Aber welche ist das?

Mein Weg führt zurück in den Ort. Über die vergoldeten Dünenkuppen erhebt sich der Turm von St. Nikolaus. Meine Kirche, meine Konstante. Oder? Aber selbst diese jahrhundertealte Institution steht zurzeit auf tönernen Füßen und an allen Ecken und Enden wird daran gekaut und gezerrt. Dieser Tage war eine Gruppe Aktivistinnen hier, die sich unter anderem für ein Frauenpriestertum stark machen, den Zölibat ablehnen und die katholische Kirche an vielen Stellen zu modernisieren planen. Etliches davon hatte vor einigen Jahrhunderten bereits ein entlaufener Augustinermönch umgesetzt, dem wir einige sehr schöne Kirchenlieder, eine beeindruckende Bibelübersetzung ins Deutsche, aber eben auch eine Kirchenspaltung verdanken. Ich ging zu einer von diesen Frauen gestalteten Andacht und verließ sie ob des liturgischen Wildwuchses erschüttert: Nicht einmal das Vaterunser hatte man unangetastet gelassen; es war durch eine seltsam unmelodische, aus verschiedenen modernen Übersetzungen und Eigeninterpretationen zusammengeflickte Version ersetzt worden.
Nun sind Reformbemühen ja keinesfalls per se etwas Schlechtes, aber warum, frage ich mich, geht heutzutage eigentlich alles nur noch mit dem Vorschlaghammer vonstatten?
Es ist, als würde man einen Barocksessel, von dem man eigentlich nur einige nicht mehr zeitgemäße Schnörkel abschleifen will, statt dessen in Benzin tränken und abfackeln. Dann hat man aber keine erneuerte Kirche, sondern eine neue Kirche. Will man das?

Und so ist es ja nicht nur mit der katholischen Kirche. Betrachtet man zum Beispiel den Brexit, so wird auch hier etwas lange gewachsenes einfach in Stücke gehauen, ohne einen Plan für das Danach zu haben. Gleiches gilt auch für andere politische oder gesellschaftliche Hauruck-Aktionen: Mit der Konsequenz, dass das trotzig-rabiate Wollen und Fordern von Wenigen zum Wegfall vertrauter Wege, zum Verlust von Heimat und Rückzugsraum für viele führt, schlimmstenfalls sogar zum Identitätsverlust ganzer Nationen. Mir macht das Angst. Ich möchte kein zerstörtes Europa. Egal, von wem die Zerstörung ausgeht. Und leider kommt die Bedrohung aus vielen Richtungen.

Ein Fasan sonnt sich vor dem Wasserturm. Sein Gefieder glänzt kupferfarben im Licht. Ich sehne mich aus tiefstem Herzen nach Frieden. Nach Stabilität in einer unruhigen, instabilen Welt. Nach heiligen Ritualen, deren Ablauf ich kenne. Nach Schönheit und Stille.
Es ist Zeit für Urlaub.
P.S.: GEHT WÄHLEN.