Frühlingshauch

Schon am Morgen ist die Insel von einem prächtigen Blau überwölbt. Ein klarer, sonniger Tag steht bevor, und es ist so mild, dass ich endlich wieder meinen geliebten Übergangsmantel anziehen kann anstelle der voluminösen Winterdaunen. In der Straße nebenan turnen Schwanzmeisen an herabhängenden Erlenzweigen; erste Kätzchen stehen kurz vor der Blüte. Und auch das Jelängerjelieber, das sich durch nahezu sämtlichen Dünenbewuchs und viele Hecken der Insel rankt, reckt erste hellgrüne Blätter und zahlreiche Knospen in die Sonne.

Über den Wiesen und Weiden treiben jetzt kleine Quellwolken im Blau. Die Wintersonne hat links und rechts blasse Nebensonnen ausgebildet; eine Folge der Eiskristalle in der Luft. Ich weiß, dass es in Kürze wieder Schneien wird, aber noch erscheint das vollkommen unwirklich. Denn es liegt bereits eine Menge Frühling in der Luft.
Auf der Weide tummeln sich eine Menge taubengroßer Vögel, und obwohl sie von Weitem noch nicht genau zu erkennen sind, lässt ihr charakteristisches, akrobatisches Flugbild keinen Zweifel: Die Kiebitze sind wieder da. Dutzende; wenn nicht gar über Hundert der hübschen Häubchenträger. Sie plantschen in den Tauwasserseen, die sich nach dem letzten Schneefall in den Ackermulden gesammelt haben und durchforsten das saftige Grün nach Insekten.
Ich sehe ihnen eine Weile fasziniert zu; nur selten muss ich dabei anderen Menschen Platz machen. Ich denke an den letzten Frühling; das erste vollkommen stille Osterfest im Lockdown und die soeben erblühte Liebe, die nun auch schon ein Jahr währt. Und nun steht der nächste Frühling unmissverständlich vor der Tür. Zugleich ist mir klar, dass ein Frühling im Januar nicht mehr sein kann als eine schöne Vorahnung, oder vielmehr: Eine Erinnerung. Daran, dass jeder Winter endlich ist. Und jede Dunkelheit und Kälte auch.
Ich sehe mich an dem leuchtenden Blau des Himmels, den Kiebitzen, den friedlich grasenden Rindern und den Schwärmen von Grau- und Weißwangengänsen noch eine Weile satt; dann fahre ich heim und warte auf den Schnee.

Der Schnee kommt nicht sanft. Ich erwache davon, dass grober Eisregen hart gegen die Fensterscheiben klatscht und Sturmböen am Haus rütteln. Erst ganz allmählich werden die Laute sanfter. Ich habe mich noch nicht überwunden, aus dem Fenster zu sehen, aber dem Geräusch nach sind es jetzt wohl nur noch große Schneeflocken, die der Wind an die Fenster treibt. Letztlich öffne ich doch die Vorhänge: Der kräftige Südostwind schickt gerade eine große Ladung Schnee vom Dach gegenüber direkt auf meinen Balkon. Wäre die Tür geöffnet gewesen, hatte ich die Schneewehe wohl voll ins Gesicht bekommen. Eine Amsel macht sich über das am Vortag ausgelegte Fettfutter her. Sie ist so hungrig, dass sie sich weder von mir noch von den Windböen beim Fressen stören lässt. Einige Handwerker kämpfen sich fluchend mit Rädern, Anhängern und Handkarren durch die ansonsten einsamen Straßen. In der Nähe meiner Wohnung kratzt eine Schneeschaufel gegen den ununterbrochenen Schneefall an. Eine Sisyphosarbeit.

„Raus!“ sage ich mir irgenwann mit aller Vehemenz, „Raus!“ Denn auch ich muss arbeiten. Die Fotos für den Wetterbericht müssen gemacht werden; das ist nicht delegierbar. Und in zwei Stunden würde es wieder dunkel. Ich steige in die Thermounterwäsche, in Jeans, Pullover, Mütze und Handschuhe; in dicke Socken und Trekkingschuhe, dazu den Kunstdaunenmantel, in den ich die Kamera einknöpfe wie einen Säugling.
Der Schnee vor meinem Haus ist noch vollkommen jungfräulich, obwohl es bereits auf zwei Uhr zugeht. Die Zweitwohnungsbesitzenden, die trotz aller Warnungen der Bundesregierung in den letzten Wochen noch im Haus gewesen waren, sind offenkundig doch wieder abgereist. Die ersten Fußspuren, die sich an diesem Tag in den Schnee vorm Haus graben, sind meine.

Mich führt der Weg zum Dünenfriedhof. Tief verschneit habe ich den Friedhof noch nie betreten, aber heute zieht es mich vor Allem wegen der Nadelbäume hin. Es gibt für mich kaum etwas Schöneres als den Anblick und den Geruch schneebedeckter Kiefern und Tannen. Das Gräberfeld liegt ruhig und weit unter der weißen Decke, und mir fällt plötzlich das Gedicht Kurt Tucholskys über den wunderschönen jüdischen Friedhof in Weißensee ein:

„ (…) Es tickt die Uhr. Dein Grab hat Zeit,
drei Meter lang, ein Meter breit.
Du siehst noch drei, vier fremde Städte,
du siehst noch eine nackte Grete,
noch zwanzig–, dreißigmal den Schnee –
Und dann:
Feld P.“

So ist das Leben. Es hat nichts Beängstigendes in diesem Augenblick, daran zu denken, dass die Male, die ich noch den Schnee sehen kann, von Gott längst abgezählt sind. Aber es ist mir Mahnung, den Anblick zu würdigen. Wie auch den ganzen Winter, der gerade erst Anlauf nimmt.
Manchmal plagt mich fast ein schlechtes Gewissen, wie gut ich bisher durch diese Pandemie gekommen bin. Keine gravierenden Sorgen, und alle, die ich liebe, sind gesund. Nicht einmal die heilige Eucharistie ist mir verwehrt, denn in unserer winzigen Kirchengemeinde dürfen weiter Messen stattfinden, wenn auch unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Der Kurpriester ist ein sympathischer Prämonstratensermönch; eine natürliche Demut und Würde ausstrahlend, die man nicht einstudieren kann. Sein Ordensgewand ist weiß wie der Schnee.

Auch das Ruhen des Tourismus auf der Insel macht mir nichts, im Gegenteil. Es ist schön, ab und zu wieder ganz alleine unterwegs zu sein: Mit den Vögeln, dem Wind und dem Knirschen der weißen Pracht unter den Schuhen. Von Ferne dringt Kinderlachen an mein Ohr: Langeooger Familien, die jetzt Zeit haben, mit ihren Kleinen auf den Hängen hinter der Wohnsiedlung zu rodeln, anstatt gestresst von A nach B zu hetzen. Wenn man von den wirtschaftlichen Aspekten absieht — die zweifelsohne für viele Menschen eine Katastrophe bedeuten — hat der Virus-induzierte Stillstand durchaus auch Gutes.
Und es liegt ja nicht nur die Hoffnung auf Frühling in der Luft: Die ersten Impfungen auf der Insel sind erfolgt; schon bald werden die Neuansteckungszahlen sinken. Auch die Pandemie wird zur Ruhe kommen, da bin ich zuversichtlich. Wir müssen nur warten. Und unseren Beitrag leisten.

Auf den Wetterseiten, die ich für meinen eigenen Wetterbericht sichte, finde ich historische Daten über den Winter 1942. Mein Vater wurde in diesem Jahr geboren; die Temperaturen fielen im Januar dieses Jahres fast im ganzen Land auf -30°C; auch in Gelsenkirchen, seiner Geburtsstadt. 1942 war Krieg; die Menschen mitunter ausgebombt, an der Front oder im KZ. Dazu diese grässliche Kälte. Lebensmittelknappheit obendrein, viele hungerten. Was könnte man -30°C da schon entgegensetzen? In diesen Winter wurde mein Vater geboren. Und heute, im Januar 2021, fühlen sich Menschen von einem Stück Stoff vor Mund und Nase an Leib und Leben bedroht. Manchmal würde schon ein kurzer Blick in die Gechichtsbücher helfen, um sein Weltbild zurechtzurücken. Oder auch nur ein Blick in historische Wetterdaten.
Auf Langeoog wird es am Wochenende maximal -4°C kalt. Die Sonne wird ganztags scheinen; in Europa ist Frieden.

Momentaufnahme, Grün

Der Sommer ist auf seinem Zenit angelangt. Noch nie sah ich die Wiesen und Deiche um diese Zeit in so einem satten Grün; und noch nie erstrahlte der Dünenbewuchs in so leuchtenden Farben. Die Kartoffelrosen blühen nach wie vor in tiefem, samtigen Purpur, obwohl zwischen den Blüten bereits erste feuerrote Früchte wachsen. Der viele Regen der letzten Wochen und die verhältnismäßig kühlen Temperaturen haben der Natur offenbar gut getan und sie in all ihrer Schönheit bis in den August konserviert. Während der Rest der Republik zeitweise gebacken wurde, schaffte es das Thermometer auf Langeoog kaum über 20°C. Da meine Wohnung keine Zustände zwischen Sauna und Gefrierschrank kennt, bin ich darüber nicht traurig: ich kann weder extreme Hitze noch Kälte besonders gut gebrauchen. Noch mehr als die Wohnqualität, die dieses Sommerwetter mit sich brachte, freut mich allerdings die kraftstrotzende Natur mit all den Pflanzen, die in diesem Jahr nicht verbrannten und verdursteten. Zwar hat Irland den Beinamen „Grüne Insel“ bereits für sich gepachtet, und auf den Ostfriesischen Inseln rühmt sich Spiekeroog damit (beides natürlich nicht zu Unrecht) — aber in diesem Jahr, denke ich, geht auch Langeoog als „Emerald Island“ durch.

„So grün habe ich die Insel noch nie gesehen“, sage ich, als wir staunend am Strand gen Ostende marschieren; den Blick auf den wogenden Strandhafer und das in unzähligen Farben strahlende Naturschutzgebiet gerichtet. „Ich auch nicht“, pflichtet mir die Freundin bei: „Im letzten Jahr war der Deich um diese Zeit ganz braun.“

Später bin ich noch einmal allein unterwegs. Erneut hat es zu regnen begonnen. Ich betrachte einen Blütenkelch, aus dem Tropfen kullern. Er war so schwer davon geworden, dass er sich unter dem Gewicht des Wassers neigte und seine Regenlast der Erde schenkte. Unweit davon laben sich ein paar Drosseln an leicht zugänglichem Gewürm: Auch ihnen gefällt der regensatte Boden, zweifelsohne.

Der Regen ist warm und weich auf der Haut und weder von Donnergrollen noch von übermäßiger Dunkelheit begleitet. Es liegt so gar nichts Furchteinflößendes darin: Nur Leben.
Natürlich weiß ich um die Verheerungen, die starke Regenfälle und Dauerregen mit sich bringen können. Ich weiß von Erdrutschen, Überschwemmungen, Leid und Tod. Und dennoch finde ich den Regen jetzt und hier einfach nur schön.

Ich fahre ein paar Meter weiter, an den Weiden entlang, die nun ebenfalls sattgrün sind. Ein paar Pferde stehen darauf; ihr Fell glänzt in der Sonne, die mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder durch die Wolken bricht.

Fast könnte man vergessen, was aktuell noch so los ist in der Welt, denke ich, und ein wenig plagt mich das schlechte Gewissen. Es fällt so leicht, sich auf Langeoog in einer eigenen Welt zu fühlen. Aber die Insel ist keine eigene Welt. Sie ist Niedersachsen, Deutschland, Europa. Auch Langeoog ist Pandemie.
Und wie surreal ist es, denke ich weiter, hier all dieses kraftstrotzende, pralle grüne Leben zu sehen, all das Schöne und Beständige — während der Alltag in weiten Teilen noch immer von einer Krankheit bestimmt wird?
Es ist ein eigenartiger Kontrast, einerseits. Andererseits: Ist nicht genau das der Lauf der Welt? Der ewige Kreislauf von Tod und Geburt, von Krankheit und Genesung? Braucht es nicht die Zeiten des Blühens und Kraftschöpfens, um Zeiten der Schwäche und des Welkens zu ertragen, und sei es nur, um währenddessen von den schönen Erinnerungen zu zehren?
Nun will ich nicht philosophieren; und freilich nützt es jemandem, bei dem in dieser Minute in irgendeiner staubigen Stadt COVID-19 ausbricht, absolut nichts, dass auf Langeoog das Deichgras gerade so schön grün ist. Aber mich bringt der Gedanke einmal mehr zu dem Schluss, dass nichts selbstverständlich ist. Kein Sommer, kein Regen. Und auch keine Gesundheit. Es ist ein Geschenk, all das noch haben zu dürfen. Ich wünsche es jedem.

Momentaufnahme, Platz

Mit dem Eintreffen der Inselbahn für die 7:10-Uhr-Fähre bricht die Sonne durch die Wolken. Wenig später hat sich die Wolkendecke ganz aufgelöst, hier und da zieren noch ein paar winzige Cummulus-Flöckchen den türkisfarbenen Morgenhimmel. Um diese Uhrzeit sind fast nur Insulaner unterwegs, die zu Besorgungen aufs Festland müssen, zum Arzt oder Ähnliches. Das aus Bensersiel eintreffende Schiff spült zunächst eine Ladung ArbeiterInnen auf den Kai; danach werden sofort die Fahrgäste für die Gegenrichtung an Bord gelassen. Abstand halten ist schwierig; dennoch geht das Procedere ruhig und halbwegs gesittet vonstatten. Ich bleibe an Deck, um wegen der Maske besser atmen zu können. Und um mir die Insel endlich einmal wieder aus Touristen-Perspektive ansehen zu können. Denn der einzige, der hier gerade Urlaub macht, bin vermutlich ich.
Tatsächlich verlasse ich die Insel das erste Mal seit Januar wieder für mehrere Tage. Vor uns wendet das Frachtschiff im Hafenbecken. Ich schaue auf seine sprudelnde Hecksee und frage mich, was ich wohl fühlen würde, wenn dies jetzt ein Abschied für immer wäre. Wenn ich die Insel nicht nur für 5 Tage verlassen würde, sondern auf unbestimmte Zeit. Wenn ich dort keine Heimat mehr hätte.
Es ist mir unerträglich. Die anderen Leute an Bord, die Geräusche, sogar das Wendemanöver des hellblauen Frachters — All das verschwindet auf einmal, während sich Herz und Augen an den Konturen der Insel festsaugen, die mit dem Ablegen der Fähre immer kleiner wird. Bald ist der Wasserturm nur noch ein winziger weißer Strich; kurz vor dem Übergang zum Ostende wähne ich meine Wohnung, die still meine Wiederkehr erwartet. All meine Sachen sind darin; meine Bücher, mein ganzes Leben. Und ein paar Meter Luftlinie davon entfernt macht sich der Mensch, der zu mir gehört, wohl gerade für die Arbeit zurecht.
Der Duft aus Salzwasser und Schiffsdiesel, die Schreie der Möwen und die Morgensonne, die das Meer glitzern lässt; die letzten sichtbaren Meter grünendes Ostende: Es ist Heimat. Die Liebe zur Insel ergreift mich plötzlich wieder in einem Ausmaß, das mich nach sechs Jahren fast schon überrascht. Natürlich: Es gab keinen Tag, an dem ich die Wunder der Schöpfung hier nicht täglich aufs Butterbrot geschmiert bekam. Die Langeooger Natur ist überirdisch schön. Aber was ist mit den menschengemachten Hässlichkeiten? Gibt es hier nicht genauso viele UnsympathInnen wie anderswo; nicht mindestens genauso viel Gier, Falschheit, Dummheit und Bösartigkeiten? Ja. Aber einmal mehr ist mir das alles nur egal: „Ich bin hier, weil ich hier hingehör’“, singen MIA in einem Lied meiner jungen Erwachsenenjahre, das inzwischen auch schon uralt ist. Dass ich für etliche „Ureinwohner“ hier eben nicht hingehöre und nie hingehören werden — wie jede Person, die nicht mindestens 10 Häuser mit Abkömmlingen aus 4 Generationen besetzt —: Geschenkt. Es ist auch mein Langeoog.
Unser Langeoog, korrigiere ich mich im Geiste, denn nun gibt es hier ja noch jemanden, den ich in meine Zukunft einplanen muss. Ein Zustand, der, so schön er auch ist, tatsächlich noch ein wenig Gewöhnung bedarf.

Nun aber bin ich erst einmal allein unterwegs. In einem nicht allzuweit entfernten Städtchen warten die Eltern auf mich. Die Freundin wird in Kürze nachkommen, und so sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben für eine Weile vereint und man hat ein wenig Burggefühl in diesen wahnsinnigen Zeiten.

Ich sehe dem Urlaub ruhigen Herzens entgegen. Im Hafen von Bensersiel schaukeln weiße Segelboote. Ich versuche, die hübschen Böötchen jetzt gänzlich mit den Augen eines Touristen zu betrachten: Einfach die Schönheit genießend, ohne Pläne, ohne Termine. Es ist pures Glück. Ich freue mich auf die Reise — Aber auch schon jetzt auf die Wiederkehr.

 

Momentaufnahme, Zukunftserinnerung

Nach einigen verhangenen Tagen wurde es endlich wieder schön auf der Insel. Federwolken breiten sich über dem leuchtend blauen Himmel aus wie Engelsflügel. Über dem Kirchturm senkt sich am frühen Abend die Sonne, und es wird nicht mehr lange dauern, bis der Horizont in flammenden Farben erstrahlt.

Es gibt wieder einen Priester auf Langeoog. Der Jesuitenpater ist ein gern gesehener Gast und nicht zum ersten Mal bei uns. Ich schätze seine Predigten, die ebenso intellektuell wie lebensnah sind; mit Sicherheit theologisch fundiert, aber nicht mit der staubigen Erhabenheit reinen Bücherwissens, sondern stets durchzogen von warmen Adern menschlicher Bodenständigkeit. Vor allem mag ich seine Stimme, die tief und rauchig klingt, mit der pointierten Ausdrucksweise eines Berufsredners. Zugegeben: Dieser Pater könnte das Telefonbuch vorlesen und es wäre ein akustisches Fest — umso schöner, dass man ihm aber auch aus anderen Gründen noch gerne zuhört.

Ich bin erleichtert, dass das kirchliche Leben auf Langeoog ausgerechnet mit diesem sympathischen Jesuiten wiederbelebt wird, denn schließlich habe ich auch eine überfällige Beichte nachzuholen. Nach zwei peinlichen Tagen des Sünden-Vorsortierens darf ich endlich den gesammelten Gewissensunrat in seinem Beisein vor Gott kippen. Einmal mehr bewundere ich das Pokerface erfahrener Geistlicher bei der Beichte — es gibt kein Mundwinkelverziehen, keine angehobene Braue. Der Mann hört zu, und erfüllt schließlich seinen Auftrag des Vergebens. Auf Bußwerk verzichtet er, und mir wird klar, dass das, was sich in meinem Herzen nach großer Schuld anfühlte, für einen Priester vermutlich eher noch kleinkalibrig ist. Eventuell waren ihm auch meine Tränen der Scham am Ende Reue genug. Ich weiß es nicht, aber ich bin auch recht froh, dass mir noch genügend Geheimnisse der Sakramente verborgen bleiben. Was ich dagegen weiß, ist: Sie wirken. Und in der Art und Weise, auf die ich diese Wirkung fühle, aber nicht erklären kann, liegt vielleicht auch ihre Heiligkeit.

Die Messen selbst finden noch mit reichlich Abstand, Anmeldung und ohne Gesang statt. Die Kommunion wird auf kleinen Tellerchen gereicht: Jede einzeln. Das bereitstehende Tischchen mit den vielen Tellern erinnert an ein Hotel-Buffet; das weiße Altartuch darauf mindert den Hotel-Eindruck nicht wirklich. 
Aber es ist der Leib Christi, und nach so langer Zeit ohne Eucharistie ist mir fast jede Darreichungsform Recht, solange sie noch halbwegs würdevoll ist. Ich gebe zu: Es hat mir gefehlt. Auch wenn sich die Bistümer und Ordensgemeinschaften unglaublich viel Mühe gaben, die Corona-Durststrecke kreativ zu überbrücken — nichts war wirklich ein Ersatz. Und ich möchte nie wieder so lange ohne priesterlichen Beistand sein.

Vom Balkon aus sehe ich zu, wie sich der Himmel in Pfirsichtönen verfärbt. Die Insel hat sich deutlich gefüllt, aber allmählich kehrt abendliche Ruhe ein. Für Ende Mai ist es noch immer zu kalt, aber der Blütenduft und der Nachtgesang der Vögel lässt mich trotzdem den nahenden Sommer fühlen. Eine gewisse schöne Nostalgie ergreift mich. Ich wühle in meiner Playlist nach Jugendschätzen und grabe das alte Dire-Straits-Album aus. Und obwohl meine Jugend nicht besonders schön war, setzt es auf wundersame Weise sofort gute Gefühle frei. Ich wippe mit den Kopfhörern im Rattansessel und träume mich weit weg:
„I’m going to San Bernardino, ring-a-ding-ding …“

Achja, denke ich, da wäre ich jetzt auch gerne. Die amerikanische Stadt dieses Namens kenne ich zwar nicht, und das zugehörige Lied beschreibt auch nichts Schönes, sondern einen skrupellosen Geschäftsmann, aber an einem Ort, wo man den heiligen Bernhard als Ordensgründer verehrt: Da wäre ich jetzt tatsächlich gern.
Ich sehne mich nach „meinen“ Zisterziensern. Nach dem Frieden im Wald hinter dem Kloster, dem Chorgesang, dem Duft uralter Steine, dem Rascheln langer Chormäntel und dem Anblick von schwarzweiß gewandeten Mönchen, die über den Hof zum Gebet eilen.

Es war ein so schöner Mai in Stiepel, und ein so heilsamer Januar in Heiligenkreuz. Ich weiß nicht, wann ich diese wundervollen Orte wiedersehen kann, aber es tut gut zu wissen, dass es sie überhaupt gibt. Vielmehr: Dass sie teils seit Jahrhunderten bestehen und schon viel mehr überdauert haben als einen Virus.

Doch heute möchte ich an keinen Virus mehr denken. Ich genieße das stille Hereinbrechen der Nacht bei Musik aus vergangenen Tagen und mit all den schönen Erinnerungen, während ich auf die Liebste warte.
Vielleicht können wir hier und jetzt ja auch schöne Erinnerungen für die Zukunft schaffen, denke ich. Stunden und Tage, auf die wir dann irgendwann mit wohltuender Nostalgie und Dankbarkeit zurückblicken — dann, wenn all der Wahnsinn vorbei ist und die Welt ganz neu auf uns wartet.

Momentaufnahme, Gut

Vor dem Haus steht eine Kiste mit ausrangierten Büchern, daneben eine kleine Spardose. „Standlektüre? Zum Mitnehmen gegen Spende“ sagt ein Schild. Erfahrungsgemäß funktioniert die Kiste gut, ich kann das wissen. Denn es ist meine Kiste.
Normalerweise spende ich überzählige Bücher der Vertrauensbibliothek, aber es gibt Monate, da kreist der Pleitegeier über dem Künstlerhaushalt, und dann ist es gut, wenn man noch den ein oder anderen Euro abends aus der Spardose schütteln kann.
Als ich an diesem Abend schüttele, höre ich nichts, obwohl viele Bücher fehlen.
Schweine, denke ich, zumindest ein Anstandskupferling hätte ja drin sein können. Zwar sah ich vom Fenster aus kurz Freunde in der Kiste wühlen, bei denen ich keinerlei Zweifel hegte, dass sie etwas dalassen, aber vielleicht, denke ich, haben sie ja kein passendes Buch gefunden — und ‚kein Buch, kein Geld‘ ist eine faire Rechnung.
Aber bevor ich mich über die Geiz-ist-Geil-Mentalität im Allgemeinen und Menschen vom Stamme Nimm im Besonderen aufregen kann, schüttele ich die Spardose noch einmal.
Ich höre auch jetzt keine Münzen. Aber das Rascheln von Scheinen.
Was mir am Ende des Tages entgegenfällt, ist also nicht nur ein wiederhergestellter Glaube an das Gute im Menschen, sondern auch der Gegenwert von zwei Tagen Essen oder einem halben Monat Internet.
Dank sei Gott.

„ER sorgt für uns. Auch wenn wir manchmal kaum noch Land sehen. Das glaube ich. Ich habe es oft genug erfahren.“ — Tröstete ich nicht erst kürzlich so einen Menschen, den ebenfalls schlimme Existenzängste plagten? Es ist gut, dass ich nun einmal mehr weiß, dass das keine hohle Phrase ist. 
„I have always depended on the kindness of strangers“, würde ein lieber Freund jetzt vielleicht aus Tenessee Williams’ „A Streetcar named Desire“ zitieren, obwohl dieser Freund als belesener Mensch natürlich weiß, dass die Protagonistin des Theaterstücks alles andere als „kindness“ erfahren hat, als sie diesen Satz sagt. 
Aber wenn man den literarischen Kontext hier außer acht lässt, passt es: Manchmal retten einem eben, man verzeihe den wenig prosaischen Ausdruck — nur noch ein paar Fremde den Arsch.
Und wenn man das nicht tut: Dann passt es auch.
Denn wie oft erwiesen sich zunächst als überaus freundlich auftretende Fremde als das Gegenteil davon? Und wie oft wird Güte von Gier missbraucht? Den Spruch mit dem kleinen Finger und der Hand kennt wohl jeder.
Hinzu kommen die Fälle gespielter Güte aus Gier nach Anerkennung, Altruistischer Narzissmus. Auch nicht fein. 
Es gibt wohl keinen Menschen, der nicht die ein oder andere Variante davon schon erlitten hat. Oder sich der ein oder anderen Variante davon schuldig gemacht hat.
Und doch: Das Ideal der Random acts of kindness. Es existiert.
Da ist zum Beispiel dieser eine Freund, in Schweden, der so riesig ist wie sein Herz. Selbst arm wie eine Kirchenmaus, schickt er mir das Wenige, das er eigentlich selbst nicht hat. Ich tue das auch für ihn, natürlich, aber es ist nicht selbstverständlich, und ich würde es auch nicht erwarten. Es erfüllt mich in demütiger Dankbarkeit und ich weiß, dass Gott ihn sehr dafür liebt. Vermutlich sogar noch mehr als ich.

Ich bin überzeugt, dass das Gute, das wir aus freiem Herzen für andere tun, irgendwann zu uns zurückkommt, Gott entgeht so etwas nicht. Manchmal kommt es nicht von jenen, wo wir damit rechnen sollten. Selten kommt es sofort. Aber es kommt. Und „rechnen“ sollte im Kontext mit Güte eigentlich ohnehin nicht vorkommen. Natürlich sind der materiellen Dienste am Nächsten Grenzen gesetzt — was ich an Geld selbst nicht habe, kann ich nicht herschenken — aber ein liebes Wort muss drin sein. Eine Umarmung. Zeit. Eine Tüte mit Lebensmitteln. Respekt für den Gedemütigten. Augenhöhe für den Gebeugten. Vertrauen für den Verratenen. Fürsprache für den Verleumdeten. Oder die schlichte Frage: Was kann ich tun? Es ist erstaunlich, mit wie wenig man etwas bewirken kann. Es braucht nicht die große Geste. Aber es braucht Aufrichtigkeit.

Abends bin ich am Strand. Nochmal davon gekommen. Die Scheine sind in der Tasche. Es war ein warmer Tag, meine Hosenbeine werden nass, als ich durch den Spülsaum laufe. Mir ist das egal, ich liebe es, hier und jetzt eins mit der Natur zu sein. Mit diesem großen, wunderbaren Geschenk, dass ich jeden Tag vor meiner Tür finde.
Ich liebe das Meer noch immer.
Die Flut kommt, das Wasser läuft in rasender Geschwindigkeit auf. Von einer Sandburg schauen nur noch die Zinnen raus. Bald wird sie verschwunden sein.
So ist das, wenn man auf Menschengeschaffenes baut, denke ich resigniert. Es mag auf den ersten Blick prachtvoll wirken und stabil. Aber letztlich ist es vergänglich, wie wir selbst, wie alles, das uns umgibt. Wir können nichts mitnehmen.
„Das letzte Hemd hat keine Taschen“, sagt mein Vater immer. Aber das Herz lässt sich immer füllen, wenn man es öffnet. Und das Gute an dieser Fülle ist, dass sie wächst, wenn man davon gibt.

Momentaufnahme, Siedlung

Nach dem Gewitter kommt langsam wieder Leben über das Land. Im Vorgarten durchbrechen grüne Halme die vormals verbrannte Erde; drei weiße Schmetterlinge jagen sich über den sonnengelben Blütendolden des Rainfarns, auf dem noch, Glasperlen gleich, letzte Regentropfen schimmern. 
Noch ist der Himmel verhangen, aber es wird nicht lange dauern, bis das Licht das Wolkengrau verdrängt. Eine erste Ahnung von Blau ist schon zu sehen.

Ich gehe zum Strand. Die Luft ist mild. Außer mir ist niemand dort, die Menschen sind fort. Denn obwohl die Insel zurzeit vor Leuten überquillt, haben mit Einsetzen des Regens alle fluchtartig ihre gestreiften Trutzburgen der Strandkörbe verlassen und das Meer an Strandzelten und Campingsesseln eingeklappt. Was bleibt? Eine seltsam anmutende Siedlung, die für mich eine Menge über den Status Quo der Gesellschaft aussagt.

Denn zum ersten Mal wird mir bewusst, wie viele der Strandkörbe mit einem kleinen, künstlich angelegten Wall umgeben sind; hinzu kommen jene, welche mit Wäscheleinen, Gittern, Fahrradschlössern für die Dauer der Miete abgesperrt wurden, Territorialanspruch und exklusive Nutzungsrechte in die Welt schreiend.
An Stellen, wo nur wenige Menschen hinkommen, ist der Sand glatt und eben. Eine Fläche, die im technischen Sinne „egal“ ist, aber auch im übertragenen Sinne: Der See ist es egal, wer dort entlang läuft. König oder Bettler, Papst oder Politiker, Angestellter oder Aufsichtsrat. Gleichermaßen werden die Fußspuren mit der nächsten Welle eingeebnet: Egalisiert.
Nicht so, wo der Mensch den Strand sein eigen meint und ihn zur Sommerfreude okkupiert. Wie sehr zeigt sich hier das menschliche Bedürfnis, sich Land und Dinge Untertan zu machen und sich, wiewohl süchtig nach Gesellschaft, stets über andere zu erheben oder sich von ihnen abzugrenzen; am liebsten im Rudel, verschanzt hinter der vermeintlichen Macht der Gruppe und/oder ein paar reißenden Leitwölf_innen: 
Wir gegen Die.
Indes: Dass die lauteste Mehrheit nicht zwingend Recht hat, sollten wir in unserem Land seit spätestens 70 Jahren wissen.

Mir ist das nicht geheuer, jetzt, wo ich all diese Festungen dort verwaist vor mir sehe. Ich übersteige einen der Wälle und setze mich in einen der Strandkörbe — Hausbesetzung leicht gemacht.
Mein Hang zum Subversiven, schon früher Gegenstand der Verzweiflung beim Lehrkörper meiner Jugend, ist offenkundig nicht totzukriegen. Ich akzeptiere Dinge nicht, weil sie nunmal so sind oder immer so waren, sondern weil sie mir einleuchten. Weil sie logisch sind und im Idealfall auch gut.
Und was mir nicht einleuchtet, hinterfrage ich. Geht so nicht eigentlich mündiges Bürgertum? 
Etwas ratlos blicke ich zurück und frage mich, warum für viele auch der Grat zwischen Aufmerksamkeit und Auflehnung so schmal ist. Und für viele sind Lösungen so einfach, ach so einfach.
Man kritisiert Missstände auf der Insel? „Ja, dann zieh doch weg.“ Es kriselt in der Partnerschaft? „Ja, dann trennt euch doch.“ Es kommen Herausforderungen auf Europa zu? „Grenzen dicht.“ Man hadert mit ein paar Details römisch-katholischen Kirchenrechts? „Das hast du doch von Anfang an gewusst.“ Beliebte Varianten sind auch: „Hab ich gleich gesagt“ und „War doch klar, dass das schwierig wird.“ — Als ob Stillhalten und -sein oder gar Flucht je ein System verändert, je eine Gesellschaft vorangebracht hätten!
Auch ist es ein Trugschluss zu glauben, ein leichtes, einfaches Leben sei automatisch ein glückliches oder Zufriedenes. Glück braucht so viel mehr als das geringstmöglichse Maß an Reibung: Oft sogar das Gegenteil davon.

Wann, frage ich mich, ist den Leuten eigentlich der Kampfgeist flöten gegangen, das Eintreten für das, was man liebt, und das, was einem wichtig ist? Warum geht „guter Rat“ zunehmend nur noch in Richtung Duckmäusertum oder Kapitulation? Was bitte, ändert sich vom Schweigen und Aufgeben? Was vom passivem Verharren, was von der Flucht in Was-auch-immer? 
Wo, frage ich mich, ist der Wille, die Veränderung zu sein, die man sich wünscht? Muss man denn wirklich immer erst auf „die anderen“ warten, wie in der Schule, als man sich erst aufzuzeigen traute, wenn es auch ein anderer machte, damit man nicht als Streber galt, als vorschnell, als besserwisserisch? 

Wird denn wirklich nur noch aufgestanden, um sein für alles andere blind machende ICHICHICH gegen ein ominöses „DIE DA“ zu verteidigen?
Wobei ich mit dem ICHICHICH das herrische Gebaren vieler gesellschaftlicher Gruppierungen — von Aktivismus bis Politik — oder (um auf den Mikrokosmos „Tourismus auf Langeoog“ zurückzukommen) auch das etlicher Kleingruppen und Paare einschließe. Diese Menschen mögen alle naselang in der „Wir“-Form sprechen: Von Gemeinschaft haben sie trotzdem nichts verstanden.

Nun also, die Strandkörbe. Eigentlich ein schönes Blid man Strand, aber mit diesen unzähligen Festungswällen drumherum ein trauriges Bild. Ich mache ein Foto davon und nenne es „die Einsamkeit der Strandkörbe“; es ist das trostlosesete Motiv, das ich je auf der Insel fand.
Der Himmel reißt auf; in Kürze werden Strand und Burgen wieder belebt sein. Dann verläuft sich der Exklusivitätsanspruch, weil überall Kinder und Hunde herumwuseln und es sich nicht vermeiden lässt, dass auch Utensilien in den „Vorgärten“ der anderen landen oder ab und zu einer hindurchlatscht. 
Vielleicht, und nur das rettet meinen Glauben an die Menschheit, sammelt auch jemand aus der Nachbarburg mal einen fremden Ball auf und gibt ihn zurück mit einem Lächeln oder jemand leiht einer fremden Familie etwas. Vielleicht gibt es dann ab und zu auch eine Gemeinschaft unter Fremden, für mich das Ideal von Gemeinschaft.
Es ist zu leicht, sich in seinem eigenen Mikrokosmos einzusperren und abzuriegeln, zunehmend unerreichbar für
Milde, Nachsicht, Bildung und Menschlichkeit.

Auch das beobachte ich als beunruhigenden Trend: Die Menschen scheinen mir immer härter und unbarmherziger gegenüber anderen, aber im Inneren zunehmend verweichlicht. Wo geht eine Gesellschaft hin, frage ich mich, wo Schmeichelei, Heuchlerei, Opportunismus und Anpassung, in ihrer kriecherischsten Form, als Tugend gefeiert werden? Wo Kinder von klein auf auf „Markttauglichkeit“ gedrillt werden, bei gleichzeitiger gravierender Überbehütung? Wo „Freundschaft“ wie eine Aktie gehandelt wird, wo der Mut zur eigenen Meinung oder gar zur Veränderung gleich als Querulantentum gilt?
Auf der anderen Seite werden ekelerregende Ausprägungen menschlicher Kälte immer salonfähiger: Bösartigkeit und Häme, wohin man blickt. In den Sozialen Medien wird das besonders deutlich. Menschen sterben: Haha-Emoticon. Frau wird vergewaltigt: Haha-Emoticon. Menschen fordern Menschenrechte: Haha. Menschen krebsen am Existenzminumum: Haha. Menschen sagen ehrlich ihre Meinung: Haha. Natürlich ohne konstruktive Gegenrede — man kommt heutzutage ja wunderbar ohne die Anstrengung des Denkens aus, wenn man stattdessen doch genauso gleich persönlich werden kann.
Eine Frau beschwert sich über Sexismus: „Alte sei froh, wenn dich überhaupt noch einer anpackt“. Ein Krankenpfleger klagt über Arbeitsbelastung? „Wenn du in der Schule nicht versagt hättest, hättest du jetzt einen anderen Job und bräuchtest nicht jammern“. Gern auch abgekürzt zu „Mimimi“: Die Infantilisierung der Welt. Noch so eine Seuche, aber ich will nicht abschweifen.
Was ich am meisten vermisse, sind wohl zwei Tugenden, die man, so finde ich, gar nicht hoch genug achten kann: Demut und Dankbarkeit.

Demut und Dankbarkeit gegenüber der Schöpfung, gegenüber dem, was man hat, gegenüber der Gnade des Leben-Dürfens. 
Es gibt so viel, das nicht selbstverständlich ist. Aber um das zu entdecken, muss man bereit sein, seine Festung, sein Rudel zu verlassen und sich den Dingen — und Menschen — stellen. 
Und es lohnt sich, auch immer wieder neu hinzusehen, den Dingen und Menschen einen zweiten, dritten, vierten Blick zu schenken, anstatt schon nach einem halben die Schubladen zuzuknallen und seine Meinung als gesetzt anzusehen. Überall bieten sich Neuanfänge und Perspektiven, auch und gerade jenseits zubetonierter Pfade.

Der Himmel über Langeoog macht das aufs Schönste vor: Steht über dem Meer noch eine schwarzgraue Gewitterwand, so zeigt sich über den Dünen bereits der erste, goldene Schimmer von Sonnenlicht. Wenn man sich ein Stück vorlehnt in seinem Strandkorb und um sich blickt, sieht man das. Guckt man stur geradeaus, ist da nur das Gewitter.

EinsamkeitDerStrandkoerbe3

 

Momentaufnahme, Fülle

„Leben in Fülle“. Es ist ein Leichtes, sich vorzustellen, was die Bibel damit meint, wenn man dieser Tage über Land fährt. Vor dem Busfenster, auf der Straße Richtung Norden, wogen goldene Ähren. Der Mais schießt in die Höhe, auf den Obstplantagen bekommen die Äpfel schon rote Bäckchen. Auf den Verkehrsinseln leuchtet der Rainfarn in goldener Pracht. Die Natur ist hier weiter als auf Langeoog, denn dort hat diese von mir geliebte Pflanze, die unter anderem an den Strandaufgängen wächst, noch grün verschlossene Knospen.
Blühstreifen, welche die Äcker und Weiden säumen, sind blauweiß geblümt wie zartes, friesisches Teegeschirr: Kornblumen und Kamille, Disteln und Schaumkraut geben sich ein „Landlust“-Covertaugliches Stelldichein. In einem funkelnden Wassergraben füttert eine Teichralle ihr Kleines, Holsteiner Fleckvieh käut, träge und wohlgenährt, auf saftiggrünen Wiesen wieder. An den Straßenrändern zeichnet sich eine Allee junger Birken strahlend weiß gegen den königsblauen Himmel ab. 
All diese Pracht ist über das zarte Erwachen des Frühlings weit hinaus; sie trägt bereits das Verprechen auf die Ernte des Herbstes in sich, ohne jedoch schon erkennbares Verfallen, die Vorboten des Winters, zu zeigen. Der Sommer ist auf seinem Zenit.
Kurz vor der Stadt Norden steige ich aus. Das Schloss Lütetsburg ist mein Ziel mit seinem beeindruckenden Park, an den ich mich nur vage aus sehr jungen Jahren — damals in Begleitung meiner Eltern — erinnere. 
Mit ihren alten Gewächshäusern, die heute ein Café und einen Laden beherbergen, erinnert mich die Anlage an die Königlich-Preußische Gartenakademie in Berlin, unweit des Botanischen Gartens, wo ich liebend gern den mir ansonsten unerträglichen (obwohl hochgepriesenen) Berliner Sommer verbrachte.
Im Inneren des Glashauses, in dem sich das Café befindet, ranken Weinstöcke aus den 50er Jahren und zaubern entzückende Schattenspiele auf das schlichte, aber gepflegte Interieur. Sogar das Klo befindet sich in einem bezaubernden Backsteinhäuschen, an dem üppige Rosen wuchern. 
Es ist später Vormittag; das Café hat gerade erst aufgemacht. Außer mir ist nur ein älteres Ehepaar sowie ein Damenkränzchen anwesend, das bereits bestgelaunt dem Sanddornprosecco zuspricht. 
Die Kuchen und Torten in der Vitrine sehen ebenfalls aus, als entstammten sie geradezu einer „Landlust“-Ausgabe, aber es ist eindeutig noch zu früh dafür. Also bestelle ich Tee und eine Gemüsequiche, die hier nicht profan mit einem „Beilagensalat“, sondern mit einem „kleinen Salatgesteck“ angepriesen wird. Alles ist stilvoll und edel, ohne protzig zu sein: Cleanes Understatement. Und wo wäre das Wording „Gesteck“ passender als in einer Schlossgärtnerei? Eben. Der Ex-Werbefuzzi in mir nickt. Und fast wäre mir auch schon nach Prosecco.

Nach dem Brunch rüste ich mich für den Gang durch den Park, dessen gewaltige Ausmaße mir erst bewusst werden, als ich im zweiten historischen Gewächshaus — dem Lädchen — einen ausführlichen Parkguide kaufe. Mir dämmert jetzt schon, dass ich nicht alles schaffen werde, bis ich den Bus zum letzten Schiff zurück nehmen muss. Also picke ich mir die interessantesten Stationen heraus: Die Kapelle, die 300 Jahre alte Eiche, die Nadelgehölze, den größten See. 
Aber es fällt schwer, sich an den Plan zu halten. 
Hinter jeder Ecke eröffnen sich faszinierende Perspektiven, spektakuläre Sichtachsen, ausgeklügelte und doch so zufällig wirkende Blickwinkel. Zwischen den sonnendurchwirkten Zweigen immer wieder: Das Schloss.
Eine Hochzeitsgesellschaft hat sich unterhalb des „Tempels der Freundschaft“ versammelt, der eine Außenstelle des Standesamts Hage beherbergt. Die nächste Gesellschaft wartet bereits auf ihren Einzug. Eine hochgewachsene Dame in einem eleganten, bodenlangen grünen Kleid, mit weich aufgesteckten, edelholzbraunen Haaren und sensationeller Figur, verschmilzt förmlich mit dem Sattgrün der Bäume und stiehlt der Braut zweifelsohne die Show. Ich sehe sie nur vom Weiten, aber es ist einer der seltenen Fälle, in denen sogar ich eine Frau anbetungswürdig finde. Und jedes Mal, wenn jetzt jemand „Holla, die Waldfee sagt“, denke ich, werde ich wohl genau diese bezaubernde „Waldfee“ vor Augen haben.
Unter einer Baumgruppe posiert ein drittes Brautpaar gerade für eine Fotografin. Alle, die daran vorbeimarschieren, rufen „Herzlichen Glückwunsch“: Es sind viele. Die Braut ist zu stark geschminkt und sieht gestresst aus. Aber sie bedankt sich und versucht zu lächeln. Die Fotografin hat ihr und dem Bräutigam Holzbuchstaben in die Hand gedrückt: L, O, V, E. Die Braut soll sich das O über den Kopf halten. Es sieht albern aus und sie tut mir Leid. So eine Erinnerung wöllte ich nicht im Album. Aber der Baum, unter dem sie stehen, ist schön. Und der Bräutigam auch.

Ich erreiche die „Nordische Kapelle“. Das winzige Gotteshaus wurde 1802 nach skandinavischem Vorbild errichtet, inklusive künstlicher Felsen, Nadelbäume und kunstvoll arrangierten Wurzelwerkes. Ein Schild am Eingang mahnt zur Stille.
Ich bin überrascht, hier das Gotteslob sowie Kniebänke vorzufinden, aber tatsächlich ist und war die Eigentümerfamilie des Schlosses katholisch: In Ostfriesland eine Seltenheit. Aber auch für die Öffentlichkeit kann die Kapelle für Trauungen oder Trauerfeiern genutzt werden. Freilich eher von Menschen mit wenig Anhang, denn mehr als ein Dutzend Menschen passt kaum hinein. 
Ich schlage ein Kreuz und knie mich auf die hellgrauen, weich gepolsterten Bänke. Außer mir ist niemand da, und so genieße ich kostbare Momente der Andacht vor einem schlichten, aber Wärme und Zuhause ausstrahlenden Altar unter einer leicht schiefen, weißgrauen Kuppel. Etwas schief hängen auch die Kerzen in ihren Halterungen; auf der Altarstufe steht ein Strauß frischer Blumen.
Ich mag die Kapelle: Sie vertrömt die Geborgenheit eines abgeliebten Kuscheltieres, auch wenn dieses Bild vielleicht ungehörig klingt. Aber ich spüre, dass man hier gut zur Ruhe kommen kann. Und nach Hause. 
Wie sehr dieser Eindruck passt, wird mir erst später klar werden. 

Die Abfahrzeit des Busses rückt näher. Quasi im Sprint eile ich durch die wichtigsten Areale des Parks, immer wieder ausgebremst von meinem fotografischen Auge, das unbedingt noch diesen und jenen Winkel mitnehmen möchte. Und in einem Bereich mit besonders vielen Nadelbäumen, riesigen Lärchen und Zypressen, kann ich einfach nicht anders als verweilen. Wie lange ich keinen Waldboden mehr unter den Füßen hatte! Fast hatte ich vergessen, wie federnd-weich man auf einem dicken Polster aus Lärchennadeln und -zapfen läuft! Ich wippe ein wenig darauf herum und lasse gleichzeitig den Blick die Stämme emporgleiten, hinauf zu den hellgrünen Kronen. Zwischen den braunen Ästen im lichtundurchdringlichen Teil der Bäume glänzen Spinnweben.
Sofort zücke ich das Smartphone, um zu recherchieren, ob ich nicht einen Bus später nehmen kann. Leider geht es nicht. Und nun rennt die Zeit wirklich. 
Ein letztes Abbremsen im Westteil des Parks: Ein großes Schild weist auf einen „Begräbniswald“, der in diesem Areal liegt, und listet Verhaltensregeln dafür auf. Um das Schild herum tanzen Schmetterlinge. Ich schaue zu den Bäumen: Das sind Gräber? Augenblicklich bin ich so fasziniert wie begeistert, denn bis zum Abschnitt „Begräbniswald“ war ich zuvor auch im Parkführer nicht gedrungen. Und diese Entdeckung hätte ich wirklich nicht erwartet. Schnell reiße ich einen Flyer aus dem angehängten Plexiglaskasten: Darüber möchte ich mehr wissen!

Vor den Busfenstern entfaltet sich erneut die Fülle des Lebens in allen leuchtenden Farben. Urlauber auf dem Weg zu den Fähranlegern Bensersiel und Harlesiel plappern fröhlich in den Sitzreihen ringsum, planen Strandbesuche und Essen. Ich ziehe den Flyer aus der Tasche. Will ich mich jetzt wirklich mit dem Tod beschäftigen? Werden mich meine Freunde nicht für akut depressiv halten, wenn ich davon erzähle? Aber ich bin es nicht, und wann sollte man sich denn sonst mit dem Tod beschäftigen, wenn nicht auf dem Zenit seines Lebens? Die Hälfte ist rum, sage ich mir. Und niemand weiß, was noch bleibt.
Freilich: Mich mit meinem eigenen Ableben zu beschäftigen, macht mir nichts aus. Zumal ich mir, da Nachkommen- und Ehepartnerlos, zwangsläufig selbst Gedanken ums Wo und Wie machen muss, wenn ich kein DIN-genormtes Sozialbegräbnis haben möchte. Ich bin nicht immer in der Lage, mir über das Wie des Sterbens Gedanken zu machen oder gar über das, was nach dem Tode kommt oder auch nicht, auch wenn ich mir da als Christ vielleicht sicherer sein sollte. Aber über die Beerdigung? Bittesehr.

Indes fällt es mir schwer, andere davon sprechen zu hören. Insbesondere Nahestehende. Ich weiß, dass es wichtig wäre, beispielsweise die Eltern zu fragen, was sie sich für einen Abschied von der Welt wünschen, aber ich habe das noch nie fertiggebracht. Man will ja nichts heraufbeschwören. Und ja, ich verdränge auch den Gedanken daran. Nach dem Motto: Wenn ich ausblende, das Eltern sterben, tun sie es auch nicht. Aber so wird das nicht sein. In sehr vielen Todesanzeigen sind die Leute schon jetzt jünger als meine Eltern, und es zerreißt mir bei jedem und jeder das Herz.
Die Tage sprach mich mein Vater auf mein potentielles Erbe an, aber so schön ich das Haus auch finde: Wenn das Eigentum daran an seinen Tod geknüpft ist, will ich es nicht haben. Und nicht einmal daran denken. 
„Ich werde es nicht verkaufen“ — dieses Versprechen zumindest konnte ich geben: Das Haus wird länger leben als wir alle, so Gott will.
Kein Gentrifizierungsbagger wird das Haus im Berliner Nordosten zugunsten irgendeines neumodischen Einheitsklotzes zerreißen, keine Abrissbirne die doppelglasigen Fenster zertrümmern, aus denen auf einem Foto von 1928 mein Urgroßvater schaut. Letzterer liegt keine 600 Meter vom Haus entfernt beerdigt: Und so schließt er sich wieder, der vielbesungene „Circle of Life“.

Nun also, der Friedwald in Lütetsburg mit seiner heimeligen, katholischen Kapelle. Wenn Langeoog die Insel fürs Leben ist, denke ich, warum sollte sie zwangsläufig auch die Insel fürs Sterben sein? Natürlich möchten die meisten Menschen dort beerdigt werden, wo sie — zumindest in summa — glücklich waren, wo ihr Zuhause war. Ich hege keinen Zweifel daran, dass dieser Platz Langeoog ist. Aber will ich auf den Dünenfriedhof, wo sommers Heerscharen lärmender Touristen zu Lale Andersen pilgern, wo Menschen picknicken und mit Fahrrädern herumsausen, jede Friedhofsordnung missachtend? Will ich eines dieser mitleiderregenden Gräber werden, um die sich sichtbar niemand mehr kümmert? Und eine Seebestattung? Schön, aber viel zu teuer. Der Wald, denke ich, ist eine gute Idee. Man kann sich sogar den Baum aussuchen, unter dem man bestattet wird, mit Namensplakette oder ohne. Und niemand sieht, ob man noch Angehörige hat oder nicht, ob man den Leuten egal ist oder nicht, weil diese Gräber per se nicht geschmückt werden. Im Friedwald gibt es keine Beliebtheitswettbewerbe mehr. Nicht, dass die einem nach dem Tode nicht ohnehin egal wären — aber man kann ja nie wissen.
Die dem Flyer beigelegte Postkarte mit der Bitte um „mehr Informationen“ fülle ich aus. Nach dem Baumaussuchen könnte man doch auch im Schlossparkcafé etwas Leckeres genießen oder auf dem benachbarten Golfplatz eine Partie spielen, wirbt die Postkarte. Fast muss ich darüber lachen. Aber muss der Tod auch immer todernst sein? Die Karte ist auch nicht schwarz, stelle ich überdies fest: Es ist ein sattes Tannengrün. 
Als ich danach den Kopf hebe, um erneut aus dem Busfenster zu sehen, fühle ich mich selten lebendig.

Momentaufnahme, Erwachen

Um 4:30 Uhr ist es bereits hell. Ich höre die Wellen an den Strand rollen. Die ersten Vögel regen sich zwitschernd und schnatternd, ein kleiner Schwarm Austernfischer trillert in pfeilschnellem Fluge. Ich liege schlaflos und bin dankbar für den Beginn dieses neuen Tages. Draußen auf dem Balkon höre ich es aus der Vogeltränke plätschern; irgendein kleines gefiedertes Wesen nimmt sein Morgenbad. 
Ich erinnere einen Verflossenen, der sich mit einem entnervten „Boah, diese Scheißvögel“ jetzt noch einmal umgedreht hätte, aber mir entlocken sowohl die Erinnerung daran als auch die Scheißvögel selbst nur mehr ein kleines Lächeln. Ich bin froh, dass noch kein Menschengeräusch, kein Zivilisationslärm in diese Naturidylle bricht. Keine Toilettenspülung, keine rauschende Dusche, keine tapsenden Füße aus irgendeiner der Wohnungen über mir, kein Streit, kein Möbelrücken.
Frieden.

Mit meiner Schlaflosigkeit bin ich alles andere als versöhnt, aber da ich, Gott sei es gedankt, zu keiner festen Zeit mehr an irgendeinem Arbeitsplatz sein muss, gerate ich darüber zumindest nicht mehr in Panik. 
In die Bettdecke gewickelt, trete ich auf den Balkon. Die Fenster sind vom Morgentau beschlagen, und selbst meine Blumen schlafen noch: Die Köpfchen der Chrysanthemen sind zur Hälfte geschlossen. 
Es ist windstill. Auf der Straße, über die in wenigen Stunden Fahrräder, E-Karren und Kutschen rollen werden, geht in aller Seelenruhe eine Dohle spazieren, stolz wie ein feiner Herr aus früherer Zeit, und fast meint man Monokel, Stock und Melone zu sehen.
Ein wenig beunruhigt mich die Ahnung über das Ausmaß des toten Punktes, der mich vermutlich gegen 9 oder 10 Uhr ereilen wird, wenn alle anderen erwachen — aber noch genieße ich den Luxus dieser wundervollen Art morgendlicher Eremitage. Vor dem Balkon schält sich die Sonne als goldener Ball aus dem rosafarbenen Dunst und lässt die Tautropfen am Fenster wie Lametta leuchten.

Ich widerstehe dem kindlichen Bedürfnis, mit dem Finger auf dem beschlagenen Fenster zu malen, wiewohl mir unweigerlich eine Liedzeile von Reinhard Mey einfällt:

„Ich sag es einfach und ich schreibe / auf jeden Spiegel / an die Wand / auf die beschlagene Fensterscheibe / wofür ich so viele Umwege erfand …“
Das Lied war der Soundtrack des letzten Sommers. In diesem Sommer war ich glücklich. Oder zumindest verdammt nah dran.
„Ich liebe Dich.“ Im Gegensatz zu Mey sprach ich das nie aus. Manchmal weiß ich nicht einmal mehr, ob ich das wirklich fühlte. Aber auch hier war ich zumindest verdammt nah dran. 
Eine diffuse Sehnsucht beschleicht mich, wohl wissend, dass sich der letzte Sommer nicht zurückholen lässt. Die Leichtigkeit, die Sicherheit. Dieses: „Mit Dir kann ich alles schaffen.“
Damals begann jeder neue Tag mit irgendeiner lieben Nachricht von ihm; dieser Tage speicherte ich den Mailverlauf fürs Archiv: Das PDF umfasst 3350 Seiten.
 Dass wir uns nichts zu sagen gehabt hätten, denke ich mit einem Anflug wehmütiger Bitterkeit, kann man nun wirklich nicht behaupten. 2,5 Jahre. Vorbei. 
Dass er mir nicht mehr fehlt, kann ich auch nicht behaupten.

Die Luft riecht nach Herbst. Zwar ist es erst Ende Juni, aber die extreme Hitze und Trockenheit der vergangenen Wochen, gefolgt von einer nassen Kälteperiode, hat viel Vegetation verrotten lassen. Die kleine Grasfläche vorm Haus ist nur noch ein Streifen Sand, selbst die nahezu unverwüstlichen Kartoffelrosen haben merklich gelitten. Nun ist ihre Blüte aber bald ohnehin vorbei, der Duft verweht, Hagebutten bilden sich heran, die ersten sind bereits im flammenden Rot des Spätsommers. 
Die Natur macht keinen Halt, die Zeichen stehen auf Veränderung.
Ich gebe das Vorhaben des Weiterschlafens auf. Nach einem erfolglosen Versuch, mich noch einmal hinzulegen, nehme ich die Strickjacke vom Haken und mache Kaffee. Es ist 6:00 Uhr. Irgendwo im Haus wird die erste Dusche aufgedreht. Eine Tür schlägt. 
Die Sonne steht nun voll am Horizont. Es wird ein klarer, warmer Tag. 
24 neue Stunden mit der Option auf so gut wie alles, denke ich: Annehmen, was kommt. Wir sind am Leben.

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Momentaufnahme, Wege

Es ist Hochsaison. Tagsüber ist kaum noch ein Pflasterstein zu erkennen vor den Strandaufgängen: Überall Fahrräder, Fahrräder, Fahrräder. Beim Bäcker lange Schlangen bis weit hinaus auf die Straße. In den Supermärkten die Ware aus den Regalen gezerrt, kaum, dass sie verräumt wurde. Die Strandkörbe ausgebucht, die Cafés voll, die Straßen bunt vor Menschen, die Angestellten bleich und müde. Leer sind in diesen Tagen nur noch die Friedhöfe und Kirchen.

Ich bin noch müde am Morgen; dennoch stehe ich auf, wohl wissend um die Kostbarkeit dieser Momente der Stille, des Wartens auf den ersten Möwenschrei, bevor der Lärm der Welt einsetzt. Dem Liebsten widme ich ein paar Worte, in die er sich lehnen kann, wenn ihn schon mein Arm nicht erreicht, und es tut gut, nicht immer allein zu erwachen, auch wenn uns so viele Kilometer trennen: Auch das gibt Kraft für den Tag.

Ein meditativer Strandspaziergang steht an, es soll um biblische Gartengeschichten dabei gehen und das Hineinspüren in sich selbst, in den Garten der Seele, inmitten in der erwachenden Natur unserer wunderschönen Insel.

 Wir beginnen in der katholischen Kirche, in der sich wesentlich mehr Menschen sammeln, als ich es für möglich gehalten hätte. Mit einer Seelsorgerin und zwei Ordensbrüdern ist die Quote an Theologie-Profis sehr hoch, dennoch herrscht von Anfang an eine einladende, warme und unkomplizierte Atmosphäre, die auch dem interessierten Laien, also mir, Geborgenheit vermittelt und Ruhe in sein Herz pflanzt.

In Stille bewegt sich die Gruppe zum Strand, und es ist schön, dass es angesichts all des Lärmen und Tosens um uns tatsächlich noch Menschen gibt, die nicht nur Stille aushalten, sondern auch Momente der Stille schenken können. 

Rückschau zu halten, werden wir eingeladen: Gerahmt von 7 Bibelstellen, die sich mit Gärten beschäftigen, soll das eigene Leben in 7 Abschnitte unterteilt werden, die wir gehend reflektieren — dabei überlegend, welche „Pflanzen“ wir daraus mitnehmen und weiter nähren möchten.


Mich ängstigt dieses Vorhaben ein bisschen, schleppe ich doch, wie vermutlich jeder Mensch, auch eine Menge Vergangenheitsmüll mit mit herum, den ich lieber unangetastet ließe. 
Aber: Für einen schönen Garten muss man sich eben auch den Schädlingen und dem Unkraut darin widmen; und den Ansatz, dabei auf das zu fokussieren, was uns weiterbringt (und immer weiterbrachte), finde ich wunderbar. Denn oft genug bringen ja auch schlichteste Samenkörner wunderschöne Gewächse hervor, und Pflanzen, die man in der Kälte gestorben wähnte, erwachen zu neuem Leben. Warum also sollte das im „Seelengarten“ anderes sein? Also beginne ich mutig zu harken.



Frühe Kindheit. Was tummelt sich da im Garten? Tiere, die man liebt. Pflanzen, die einen begeistern. Ein Herz voller Zuversicht, Vertrauen, nur das Gute sehen und Gutes erwartend, noch unbehelligt von der Grausamkeit der Welt. Dann: Im Kindergarten dieses Mädchen, das mich immer verprügelte, obwohl ich nichts getan hatte, sondern einfach nur da saß. Bis dahin hatte ich gelernt: Man wird geschlagen, wenn man Böses getan hat. Ich hatte aber nichts Böses getan. Ich saß da. Trotzdem Schläge. Das frischgemalte Bild zerrissen, die Jacke auch. Die Sandburg, in die ich hingebungsvoll Zinnen und Gräben zog, vertieft ins Spiel: Zerstört unter prasselnden Schaufelschlägen, die auch schmerzhaft meine Hände trafen, mein Weinen Benzin im Feuer. Die Kindergärtnerin? „Ja, dann wehr dich doch!“
Gelernte Lektionen: Es gibt geborene Sadistinnen. Es gibt Gleichgültigkeit. Sich-nicht-Wehren ist schlimmer als Schlagen. Und Gott mag Gutes mit Gutem vergelten, Böses mit Bösem: Die Welt tut es nicht.


In der Schule ähnliches Spiel, mein Versagen an der Blockflöte, die Lehrerin, die Musik und katholische Religion unterrichtete, voller Hass. „Kannst du dich nicht wenigstens ordentlich kämmen, wenn du schon sonst nichts kannst?“ Wir kamen vom Schwimmen; ein Reißen an den zerzausten Haaren, das böse, flache Vollmondgesicht der Lehrerin über mir mit der Aura und Wärme eines Kreissägenblattes, die verhasste Flöte vor mir. Den katholischen Mädchen steckte sie manchmal Süßigkeiten zu, aber auch nur den hübschen. „Du siehst aus wie ein Engel“ sagte sie dann, und drehte die blonden Löckchen der so Verehrten um die Finger der einen Hand, während die andere ein Bonbon in das Engelsmündchen schob. Die anderen bekamen nichts, und ich obendrein eine Drei in Musik, meine bislang mieseste Note.

Gelernte Lektionen: Ein Christenmensch ist nicht zwingend ein guter Mensch. Frauen sind nicht netter, mitfühlender oder mütterlicher als Männer. Wenn man schön ist, wird man geliebt: Und nur dann. Blockflöten sind des Teufels.


So lächerlich das alles heute klingen mag, wenn es von einem erwachsenen Mann kommt: Die Erinnerung daran fällt schwer, dennoch. Was aber nun Gutes daraus mitnehmen, welches Pflänzchen nähren? 
Erschien mir die spontane Rückschau zunächst nichts als düster, so sehe ich es plötzlich doch sehr deutlich in der Ecke des verhassten Klassenzimmers blühen: Es gab etwas, das mir Licht brachte, und lebenslang Licht bleiben sollte. Versagte ich zwar an der Blockflöte, so lernte ich dafür aber schneller Lesen und Schreiben als alle anderen. Bücher wurden meine Freunde, ebenso wie die eigenen Geschichten in meinem Kopf, die ich zu Papier brachte, in Worten oder Bildern.



Der nächste Lebensabschnitt. Die Jugend und das Erwachen erotisch-romantisch konnotierter Liebe. Die erste Begegnung mit einem Schmerz, dessen Brutalität ich nicht einmal am Rande meiner Vorstellungskraft hatte: Liebeskummer. Das Wissen um die eigene Andersartigkeit, wenn auch noch ohne Namen. Das Suchen und Nicht-Finden eines Platzes in dieser Welt, Dunkelheit, Verzweiflung.
Nein — hier schalte ich meine innere Nachttischlampe an, um dieses Monster zu vertreiben: Es war nicht schön. 
Ich reiße mich fort aus der Tiefe meiner Erinnerung, zurück an den Strand. Lachmöwen balgen sich um einen Krebs. Algen polstern den Rand des Priels mit grünem Belag. In der Ferne das Leuchtfeuer von Norderney: Ich bin hier. Alles ist gut. 
Was aber nun auch aus dieser Zeit nähren und hegen? Auch hier rankt die Blume der Literatur empor, das Malen dazu, sowie die Aneignung von Wissen — tatsächlich: Ich lernte gern. Nur die Menschen verstand ich nicht, mich eingeschlossen.

Die nächsten Lebensabschnitte: Viele Experimente, viel Irren. Ein bisschen Scham, ein bisschen: Ach, naja. Der Seelengarten gewinnt an Struktur, Beete zeichnen sich ab, Wege. Der Hauptweg plötzlich so klar zu erkennen, als wäre er frisch ausgestreut mit hellen Muscheln. Doch das Tor, was es vor diesem Weg zu überwinden gilt, ist hoch und von Stacheldraht umzäunt. Ich reiße mich blutig daran, mich aufbäumend, dann fallend, aber schließlich: Auf der anderen Seite. Die ersten Meter auf dem neuen Weg bin ich so nackt wie nie zuvor. Jeder sieht es, das Blut, die Narben. Aber ich finde neue Kleidung, die mir passt. Es geht voran. Links und rechts des Weges gewinnen die Stauden an Kraft. Bäume beugen beschützend ihre Kronen über mich, zu hohen Kathedralen wachsend, in denen ich erst mich selbst, und dann Gott wiederfinde. Am Ende der Baumkathedrale öffnet sich der Blick aufs Meer: Ich bin zuhause, endlich.
Gelernte Lektionen: Es lohnt sich doch, das Leben.


Psalm 147 wird gelesen, mir bis dahin — nach jahrzehntelanger Kirchenabstinenz — unbekannt. „ER schafft deinen Grenzen Frieden.“

Es ist der schönste Satz, den ich seit Langem hörte. 
Genau so ist es, denke ich: Das ist mein Jetzt, mein Glück, meine Heimat. Es herrscht Frieden an den Grenzen. An denen, die ich überwand, aber auch an jenen, die noch da sind. Sie ängstigen mich nicht mehr. 
Ein großes Gefühl durchflutet mich mit so ungeahnter Wucht, das ich fast zu Taumeln meine: Dankbarkeit. Liebe. 
Und sehr viel Zuversicht. 
Am Himmel reißen die Wolken auf, Schiffe auf Reede gewinnen an Konturenschärfe. Aber ich taumele nicht, sondern stehe mit beiden Füßen fest im Sand.

Eine andere Bibelstelle folgt, in der sich Nordwind und Südwind treffen.



Um uns herum erwacht jetzt der Strand, erste Urlauber kommen, die Surfschule wirft ihre Bretter in den Priel. „Ih, das ist ekliger Dreck hier“, schreit ein Kind, „Das ist nicht eklig, das ist nur Schlick!“ erwidert der Lehrer, und ich bin dankbar, dass er die Kinder keine Abscheu vor der Schöpfung lehrt.

So ist das vielleicht auch mit den Teilen unseres Lebens, die wir verabscheuen und für die wir uns schämen, denke ich. Man meint: Es ist ekliger Dreck, der einen für immer besudelt, aber in Wirklichkeit kann man das meiste davon abwaschen, sogar nach Jahren noch. Man meint, man stecke fest auf immer und ewig, aber meistens gibt es dann doch Menschen, die einem die Hand reichen; die einem zeigen, wo in all dem Alltagsgestrüpp noch die Blumen zu finden sind, und die einen motivieren, nicht müde zu werden bei der Gartenpflege.

Als wir das Vaterunser beten, erscheinen wir ein wenig wie aus der Zeit gefallen, wie wir dort stehen, die Worte sprechend und ansonsten schweigend, während alles um uns schon lärmt. Es mag auf Außenstehende farblos wirken; vielleicht sogar trist, dieses Häuflein Pilgernder dort am Strand. Aber der Garten in meinem Inneren blüht in schönsten Farben, und durch die Dächer der Baumkronen fällt Licht.

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