Momentaufnahme, Danach

Nachdem sich die befürchtete Corona-Infektion als Bronchitis entpuppt hat, ist Aufatmen angesagt. Dies zwar nicht unbedingt im körperlichen Sinne, denn ich stehe unter Antibiotika-Beschuss und gerate auch weiterhin bei jeder Kleinigkeit außer Atem, aber innerlich fühle ich mich wie nach einem Seelen-Großputz. Nie hätte ich gedacht, welch befreiende Wirkung das Wort „negativ“ haben kann.
Aber zum Leichtsinn verleiten sollte das Testergebnis keinesfalls.

Gerade den Klauen des Infektionsverdachts entrissen, wundere ich mich umso mehr über die Vielzahl an Menschen, für die der Virus offenbar ebenfalls Urlaub macht: Und das grundsätzlich nicht da, wo sie sich gerade selbst befinden. Selbstverständlich herrschen auf Langeoog Hygienevorschriften wie überall sonst, aber dennoch scheint es vielerorts nötig, Gäste wie Mitinsulaner daran zu erinnern, dass die Pandemie längst nicht eingedämmt ist; aller Lockerungen bei der Insel-Anreise und Beherbergung zum Trotz.

In den letzten Wochen ist die Personenzahl auf der Insel beträchtlich angewachsen, sogar Tagesausflügler dürfen uns wieder besuchen. LangeoogerInnen reisen ebenfalls eifrig hin und her, und so können nur ganz naive Zeitgenossen davon ausgehen, dass niemand den Virus irgendwann im Gepäck hat. Wohl jeder wappnet sich emotional für den ersten größeren Ausbruch. Aber kaum jemand spricht es aus. Man will schließlich niemanden verschrecken.

„Wissen Sie was“, flüsterte mir eine ältere Insulanerin veschwörerisch zu, die ich dieser Tage zufällig kennenlernte, „eigentlich fand ich es ja ganz schön mit der Ruhe im Frühjahr. Als niemand hier war. Aber das darf man ja nicht laut sagen.“ Ich musste über diese Aussage ebenso schmunzeln wie sie mich verstörte: Denn was sagt es bitte über den Zustand der Gesellschaft aus, wenn selbst über 80jährige sich noch vor einer Verbalhinrichtung für jedes vermeintlich falsche Wort fürchten müssen?
Ich möchte besser nicht mehr darüber nachdenken und fokussiere auf das, was ich an dieser Insel liebe: Die verschwenderische Pracht des Weltnaturerbes, das Meer und die endlose Weite des ostfriesischen Himmels. Nach den Quarantänetagen nahezu gierig auf Sonnenlicht und Luft verbringe ich jede freie Minute draußen.
Denn nun ist auch wirklich Sommerwetter. Der Sand ist bereits so heiß, dass er die Fußsohlen verbrennt; am Strand tobt das Leben.

Die Freundin schwimmt. Ab und zu sehe ich ihr sommersprossiges Näschen aus den Wellen auftauchen. In ihrem eleganten schwarzen Retro-Badeanzug ist sie ein hübsches Fleckchen Frieden in all dem bunten Lärmen um uns.
Das Leben gefällt mir, denke ich, und fühle mich selten ausgeglichen. Mir fehlt nichts, und kurz bin ich geneigt, mich in eine sorglose Ferienstimmung sinken zu lassen, ohne all den Wahnsinn um uns: Mit dem Virus, mit der Welt. Die Versuchung, all das einfach auszublenden und zu verdrängen, ist groß.

Für einen Moment beginne ich sogar Verständnis für die Menschen zu entwickeln, die es mit den Hygienebestimmungen hier nicht so genau nehmen, weil sie vielleicht auch gerade diese Erleichterung spüren, all dem Wahnsinn kurz entkommen zu sein. Diesem neuen, anstrengenden Alltag mit Mundschutz und Desinfektionsmitteln. Weil Langeoog für sie eben kein Alltag ist, sondern Auszeit.
Und doch ist auch hier keine unkaputtbare Kunstwelt: Denn auch Inselbewohnende sind sterblich, ebenso wie die Inselärzte. Fällt unser Arzt aus, sind wir am Arsch — um es mal ebenso präzise wie unpoetisch auszudrücken. Und darum kann man nur immer wieder auf Vernunft hoffen. Auf Rücksicht und Selbstdisziplin. Hintereinanderlaufen auf schmalen Wegen, damit Entgegenkommende Platz zum Ausweichen haben. Im Supermarkt nicht quer durch die Gänge brüllen und tröpfchenlastige Diskussionen grundsätzlich nicht Fremden zumuten. Es ist machbar. Und viele bekommen es auch hin.

Der Tag neigt sich, und ich stelle fest, dass ich in naher Zukunft nichts Größeres mehr erwarte, nichts plane. Nicht im Sinne von Resignation, sondern im Sinne zunehmend stoischer Gelassenheit. Denn die Coronakrise macht — die Abwesenheit existenzbedrohender Probleme vorausgesetzt — vielleicht auch gewisserweise genügsam: Was geht, geht. Und was nicht geht, geht eben nicht. Fordern und Rechthaberei sind nutzlos in einer Pandemie: Das sollten auch die Ich-fixiertesten unter den Mitmenschen allmählich einsehen. 
Wir müssen das jetzt aussitzen; mit Umsicht, Rücksicht, Maske und Augenmaß. Was danach kommt, wird man sehen. 
Ich reiße mich aus meinen Gedanken und werfe den Blick zurück auf die Wellen. Die Freundin taucht derweil nochmal ab, und vermutlich ist das auch das Beste, was man zurzeit hier machen kann.