Ich beobachte den Regen durch den aufsteigenden Dampf aus meiner Teetasse. Die aufs Dachfenster fallenden Tropfen verweben sich zu einem sanft ineinanderfließenden Muster, bevor sie die Schwerkraft Richtung Dachrinne befördert. Auf dem Dachfirst gegenüber sitzt reglos ein kleiner Vogel. Er könnte sich verstecken, wie viele seiner Artgenossen irgendwo im Geäst verkriechen, aber er thront dort wie eine Gallionsfigur, stolz und erhaben. Vielleicht aber auch einfach nur stoisch den Schauer ertragend; vielleicht sogar stumm genießend.
Der geliebte Mensch sitzt neben mir; auch wir müssen uns nicht mehr verstecken, dem Herrn sei Dank. Beide sind wir still, aber es ist keine Stille, bei der man sich nichts mehr zu sagen hat. Es ist wortlose Geborgenheit und eine Vertrautheit, die eigentlich in keinem Verhältnis zur Dauer unseres Kennens steht. Das Prasseln des Regens und die Wärme ihrer Nähe ist mir genug Versicherung meines Daseins. Es bedarf keiner Worte.
Irgendwann mache ich mich auf den Heimweg; die Arbeit ruft, der eigene Hausstand. Es zieht mich automatisch auf einen Umweg ans Meer. Dieser erste, lang ersehnte Regen nach einer schier endlosen Trockenperiode überflutet meine Sinne, kaum dass ich das Straßenpflaster betreten habe. Alles duftet nach Leben. Erdig, sinnlich. Zugleich so rein und klar und voller Unschuld. Wassertropfen perlen aus gerade eröffneten Blütenkelchen und setzen den Duft der Inselrosen frei; die Blätter sehen aus wie frisch lackiert. Zum Strand führt eine einzige Möwenspur im Sand. Kein menschlicher Laut ist zu hören; kein Mensch zu sehen.
Am Horizont zeichnet sich ein roter Krabbenkutter ab; davor schlägt eine ruhige See weiche, bleigraue Wellen. Luft. Wie einen die Bedrohung durch eine neue Lungenkrankheit noch einmal ganz neu den eigenen Atem spüren lässt, denke ich und mache ein paar tiefe, bewusste Züge. In Zeiten, wo die Birken ihre Pollen über Langeoog verteilen, als gäbe es kein Morgen, ist das auch für einen Allergiker mit chronischem Asthma schon keine Selbstverständlichkeit. Aber nun, in dieser herrlichen Luft nach dem Regen, fühlt es sich leicht an. Man darf nichts für selbstverständlich halten, erkenne ich einmal mehr, gar nichts. Egal ob Erfolg, Geld, Sicherheit oder irdische Formen der Liebe.
Ewig, unerschöpflich und immer da ist nur die Liebe, Gnade und Treue des Herrn — aber auch über Gott denke ich viel nach dieser Tage. Genauer: Über katholische Sexualmoral, um es einmal ohne Umschweife auszudrücken. Denn natürlich habe ich nicht vergessen, welches Geschenk es sein kann und welche Freiheiten es bietet, sich zur Gänze nur Christus hinzugeben, selbst wenn man, wie ich, aus biografischen Gründen kein Diakon, Ordensmann oder Priester werden darf. Keuschheit um der Lehre willen und um dem Geheimnis zölibatären Lebens auf den Grund zu gehen; um frei von erotisch-konnotierter Zuneigung, die mich oft zu sehr fremdbestimmte, wirklich unverstellt auf mein eigenes Leben schauen zu können, auf meine Beziehung zu Gott, auf mein Wollen, auf mein Verhältnis zu Mitmenschen. 5 Jahre lang war dies mein Leben, und es war schön, zu erfahren, dass man wirklich so leben kann, ohne dass etwas fehlt. Im Gegenteil: Ich bin dankbar für diese Zeit, in der ich u.a. lernte, dass sich Liebe, Sinnlichkeit und Nähe auch auf unzähligen anderen Ebenen jenseits von Sexualität erfahren lassen. Möglicherweise hat mich dieses halbe Jahrzehnt in Enthaltsamkeit sogar erst Lieben lernen lassen, ich weiß es nicht.
Und ich weiß auch nicht, ob es richtig ist, diese Zeit nun zu beenden — aber dann betrachte ich einmal mehr dieses kleine Wunder, die schöne Seele dieses Menschen, der mich auf eine Weise liebt, die ich kaum je zu erhoffen gewagt hätte, und denke, dass auch dieses Geschenk irgendetwas mit Gott zu tun haben muss. Und dass es vielleicht nicht falsch ist.
Ich gehe oft mit meiner Freundin in die Kirche, auch wenn zurzeit keine Gottesdienste stattfinden. Wenn sie sich bekreuzigt und dann still in der Bank sitzt, liegt darin irgendetwas, das mich zu Tränen rührt. Weil ich weiß, dass wir füreinander beten, auch wenn wir es nicht sagen, und ich bete dann: Lieber Gott, wenn irgendetwas daran falsch ist, dann lass es mich bitte wissen. Lass mich wissen, was richtig ist. Aber ich höre nichts. Ich fühle nur tiefen Frieden. Aller Widrigkeiten zum Trotz.
Es gibt viel nachzudenken dieser Tage, aber heute möchte ich, dass nur der Frieden bleibt. Der Regen hilft mir dabei. Denn so, wie ich zusehe, wie die Tropfen auf dem Dachfenster ineinanderlaufen, abfließen und die Natur frischgebadet, rein und duftend enthüllen, so möchte ich mein Leben jetzt freigespült und frischgebadet betrachten können: Ohne Sorgen, Unsicherheiten und Theorien, von denen mich eine konfuser zurücklässt als die andere.
Vielleicht bin ich wirklich an einem Punkt, an dem ich Liebe ganz neu lernen muss. Zurück in meiner Wohnung finde ich schon etliche Zeugnisse ihrer Anwesenheit. Ein buntes Kosmetiktäschchen im Bad, ihre Zahnbürste in meinem Becher, ein weiches Nachtkleid in meinem Bett. Früher hätte mich das wahnsinnig gemacht. Ich hasste es, wenn andere Leute Sachen bei mir verteilten, weil es mein Interieur-Konzept sprengte, weil es Schlieren in mein Bild perfekter Ordnung zog; weil es neue Dinge waren, die sich in meine vertraute Umgebung noch nicht einfügten, weil sie fremd waren und ursprünglich nicht von mir gewollt; weil ich sie nicht selbst gekauft und nicht selbst dorthin gelegt hatte. Sie machten mir Angst, denn sie trugen die latente Bedrohung von Fremdbestimmtwerden in sich, von Kontrollverlust, von Territorialanspruch.
Bei ihr ist es anders. Der Anblick ihrer Sachen lässt mich lächeln, weil sie mich ihrer Existenz versichern, ihrer Ernsthaftigkeit und ihres „Ich komme wieder“. Nähme sie diese Dinge wieder mit, wäre für mich dort keine wiederhergestellte Ordnung mehr. Sondern ein ein Ort, an dem etwas fehlt.
Vielleicht ist auch dieser Mensch ein später Frühlingsregen, denke ich. Der die Krusten alter Verwundungen und Neurosen fortspült, und, wie die weichen runden Tropfen an der Fensterscheibe, die Dinge sanft zu einem neuen Muster webt. Die Dinge werden sich klären, so wie der Regen Staub und Pollen von den Pflanzen wäscht. Und auch der Wind wird da sein: Dieser wunderbar sanfte, warme Hauch vom Meer. Erdig, salzig, sinnlich. Und zugleich so voller Unschuld. Es wird wohl Zeit für ein paar tiefe Atemzüge.