Frühlingshauch

Schon am Morgen ist die Insel von einem prächtigen Blau überwölbt. Ein klarer, sonniger Tag steht bevor, und es ist so mild, dass ich endlich wieder meinen geliebten Übergangsmantel anziehen kann anstelle der voluminösen Winterdaunen. In der Straße nebenan turnen Schwanzmeisen an herabhängenden Erlenzweigen; erste Kätzchen stehen kurz vor der Blüte. Und auch das Jelängerjelieber, das sich durch nahezu sämtlichen Dünenbewuchs und viele Hecken der Insel rankt, reckt erste hellgrüne Blätter und zahlreiche Knospen in die Sonne.

Über den Wiesen und Weiden treiben jetzt kleine Quellwolken im Blau. Die Wintersonne hat links und rechts blasse Nebensonnen ausgebildet; eine Folge der Eiskristalle in der Luft. Ich weiß, dass es in Kürze wieder Schneien wird, aber noch erscheint das vollkommen unwirklich. Denn es liegt bereits eine Menge Frühling in der Luft.
Auf der Weide tummeln sich eine Menge taubengroßer Vögel, und obwohl sie von Weitem noch nicht genau zu erkennen sind, lässt ihr charakteristisches, akrobatisches Flugbild keinen Zweifel: Die Kiebitze sind wieder da. Dutzende; wenn nicht gar über Hundert der hübschen Häubchenträger. Sie plantschen in den Tauwasserseen, die sich nach dem letzten Schneefall in den Ackermulden gesammelt haben und durchforsten das saftige Grün nach Insekten.
Ich sehe ihnen eine Weile fasziniert zu; nur selten muss ich dabei anderen Menschen Platz machen. Ich denke an den letzten Frühling; das erste vollkommen stille Osterfest im Lockdown und die soeben erblühte Liebe, die nun auch schon ein Jahr währt. Und nun steht der nächste Frühling unmissverständlich vor der Tür. Zugleich ist mir klar, dass ein Frühling im Januar nicht mehr sein kann als eine schöne Vorahnung, oder vielmehr: Eine Erinnerung. Daran, dass jeder Winter endlich ist. Und jede Dunkelheit und Kälte auch.
Ich sehe mich an dem leuchtenden Blau des Himmels, den Kiebitzen, den friedlich grasenden Rindern und den Schwärmen von Grau- und Weißwangengänsen noch eine Weile satt; dann fahre ich heim und warte auf den Schnee.

Der Schnee kommt nicht sanft. Ich erwache davon, dass grober Eisregen hart gegen die Fensterscheiben klatscht und Sturmböen am Haus rütteln. Erst ganz allmählich werden die Laute sanfter. Ich habe mich noch nicht überwunden, aus dem Fenster zu sehen, aber dem Geräusch nach sind es jetzt wohl nur noch große Schneeflocken, die der Wind an die Fenster treibt. Letztlich öffne ich doch die Vorhänge: Der kräftige Südostwind schickt gerade eine große Ladung Schnee vom Dach gegenüber direkt auf meinen Balkon. Wäre die Tür geöffnet gewesen, hatte ich die Schneewehe wohl voll ins Gesicht bekommen. Eine Amsel macht sich über das am Vortag ausgelegte Fettfutter her. Sie ist so hungrig, dass sie sich weder von mir noch von den Windböen beim Fressen stören lässt. Einige Handwerker kämpfen sich fluchend mit Rädern, Anhängern und Handkarren durch die ansonsten einsamen Straßen. In der Nähe meiner Wohnung kratzt eine Schneeschaufel gegen den ununterbrochenen Schneefall an. Eine Sisyphosarbeit.

„Raus!“ sage ich mir irgenwann mit aller Vehemenz, „Raus!“ Denn auch ich muss arbeiten. Die Fotos für den Wetterbericht müssen gemacht werden; das ist nicht delegierbar. Und in zwei Stunden würde es wieder dunkel. Ich steige in die Thermounterwäsche, in Jeans, Pullover, Mütze und Handschuhe; in dicke Socken und Trekkingschuhe, dazu den Kunstdaunenmantel, in den ich die Kamera einknöpfe wie einen Säugling.
Der Schnee vor meinem Haus ist noch vollkommen jungfräulich, obwohl es bereits auf zwei Uhr zugeht. Die Zweitwohnungsbesitzenden, die trotz aller Warnungen der Bundesregierung in den letzten Wochen noch im Haus gewesen waren, sind offenkundig doch wieder abgereist. Die ersten Fußspuren, die sich an diesem Tag in den Schnee vorm Haus graben, sind meine.

Mich führt der Weg zum Dünenfriedhof. Tief verschneit habe ich den Friedhof noch nie betreten, aber heute zieht es mich vor Allem wegen der Nadelbäume hin. Es gibt für mich kaum etwas Schöneres als den Anblick und den Geruch schneebedeckter Kiefern und Tannen. Das Gräberfeld liegt ruhig und weit unter der weißen Decke, und mir fällt plötzlich das Gedicht Kurt Tucholskys über den wunderschönen jüdischen Friedhof in Weißensee ein:

„ (…) Es tickt die Uhr. Dein Grab hat Zeit,
drei Meter lang, ein Meter breit.
Du siehst noch drei, vier fremde Städte,
du siehst noch eine nackte Grete,
noch zwanzig–, dreißigmal den Schnee –
Und dann:
Feld P.“

So ist das Leben. Es hat nichts Beängstigendes in diesem Augenblick, daran zu denken, dass die Male, die ich noch den Schnee sehen kann, von Gott längst abgezählt sind. Aber es ist mir Mahnung, den Anblick zu würdigen. Wie auch den ganzen Winter, der gerade erst Anlauf nimmt.
Manchmal plagt mich fast ein schlechtes Gewissen, wie gut ich bisher durch diese Pandemie gekommen bin. Keine gravierenden Sorgen, und alle, die ich liebe, sind gesund. Nicht einmal die heilige Eucharistie ist mir verwehrt, denn in unserer winzigen Kirchengemeinde dürfen weiter Messen stattfinden, wenn auch unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Der Kurpriester ist ein sympathischer Prämonstratensermönch; eine natürliche Demut und Würde ausstrahlend, die man nicht einstudieren kann. Sein Ordensgewand ist weiß wie der Schnee.

Auch das Ruhen des Tourismus auf der Insel macht mir nichts, im Gegenteil. Es ist schön, ab und zu wieder ganz alleine unterwegs zu sein: Mit den Vögeln, dem Wind und dem Knirschen der weißen Pracht unter den Schuhen. Von Ferne dringt Kinderlachen an mein Ohr: Langeooger Familien, die jetzt Zeit haben, mit ihren Kleinen auf den Hängen hinter der Wohnsiedlung zu rodeln, anstatt gestresst von A nach B zu hetzen. Wenn man von den wirtschaftlichen Aspekten absieht — die zweifelsohne für viele Menschen eine Katastrophe bedeuten — hat der Virus-induzierte Stillstand durchaus auch Gutes.
Und es liegt ja nicht nur die Hoffnung auf Frühling in der Luft: Die ersten Impfungen auf der Insel sind erfolgt; schon bald werden die Neuansteckungszahlen sinken. Auch die Pandemie wird zur Ruhe kommen, da bin ich zuversichtlich. Wir müssen nur warten. Und unseren Beitrag leisten.

Auf den Wetterseiten, die ich für meinen eigenen Wetterbericht sichte, finde ich historische Daten über den Winter 1942. Mein Vater wurde in diesem Jahr geboren; die Temperaturen fielen im Januar dieses Jahres fast im ganzen Land auf -30°C; auch in Gelsenkirchen, seiner Geburtsstadt. 1942 war Krieg; die Menschen mitunter ausgebombt, an der Front oder im KZ. Dazu diese grässliche Kälte. Lebensmittelknappheit obendrein, viele hungerten. Was könnte man -30°C da schon entgegensetzen? In diesen Winter wurde mein Vater geboren. Und heute, im Januar 2021, fühlen sich Menschen von einem Stück Stoff vor Mund und Nase an Leib und Leben bedroht. Manchmal würde schon ein kurzer Blick in die Gechichtsbücher helfen, um sein Weltbild zurechtzurücken. Oder auch nur ein Blick in historische Wetterdaten.
Auf Langeoog wird es am Wochenende maximal -4°C kalt. Die Sonne wird ganztags scheinen; in Europa ist Frieden.

Momentaufnahme, Aufräumen

Am Tag nach dem Sturm liegt tiefer Frieden über der Insel. Der Himmel, der sich gestern noch wie eine graue Betondecke über Langeoog gewälzt und ein bedrohliches Ächtzen und Stöhnen von sich gegeben hatte, zeigt sich bereits am Morgen in nahezu absurdem Blau. Ich erwache zum Trillern der Austernfischer und dem geschäftigen Geschwätz der Finken und Spatzen; die noch regennassen Primeln auf meinem Balkon sehen, von der Sonne beschienen, aus, als hätte sie jemand mit Strasssteinen beklebt.
Mit Freude ziehe ich den Vorhang beiseite, in der Geborgenheit meines kleinen Refugiums, mit dem Blick in die Welt.
Letztes Jahr stapelten sich Anfang März noch die Eisschollen am Strand. Der Balkon war eine graubraune Ödnis aus entlaubten Stauden und dunkler, hartgefrorener Erde in leeren Kästen. Nun aber ist jeder Frost in weiter Ferne; die Temperaturen halten sich seit Wochen zweistellig und es ist kein Ende in Sicht.
Ich bin froh darüber, die Blumen jetzt schon gepflanzt zu haben. Froh über jeden Farbtupfer in meiner Welt, froh über alles, das mich von all den Dingen ablenkt, die den letzten Winter nicht überlebten.

Die neuen Miteigentümer sanieren zurzeit, was die Wände hergeben, und da zwei Bohrmaschinen nicht schlimmer sind als eine, entschloss ich mich dieser Tage, ebenfalls zu renovieren, Möbel umzustellen, ein neues Farbkonzept zu entwerfen und ein paar neue Teile zu bauen. An Ruhe war tagsüber ja ohnehin nicht zu denken.

Die Wohnung sieht nun anders aus als vor einem Jahr; sogar neue Stühle habe ich, und dennoch fällt es schwer, sich nicht zu erinnern.
Ich streiche gedankenverloren über die Lehne des Stuhls, der dort steht, wo er damals saß, und kurz ist mir, als spürte ich die Maschen seines blauen Marinepullovers unter den Fingern, die Rundung seiner Schultern, das kurzgeschnittene braune Haar im Nacken und all das Entfremdete und Erforene in uns und zwischen uns.

Die Sonne lockt mich ins Freie. Weg von ihm, weg von allem, das mich bindet. Zu irgendwelchen Eitelkeiten treibt es mich indes nicht: Ich ziehe lediglich Gummistiefel und Parka über meine Schlafsachen und verlasse das Haus. Ein Mann mit einem eleganten Windhund an der Leine kreuzt meinen Weg. Mit leichter Wehmut schaue ich ihm hinterher. Irgendwann, denke ich, hätte ich auch gerne wieder einen Hund. Aber nicht jetzt.
Heilung braucht Zeit.

Die Blessuren, die der Sturm der Insel zugefügt hat, sind indes längst beseitigt. Kein abgerissener Ast, kein herabgefallener Dachziegel trübt mehr das Bild der Urlaubsidylle. Die Knospen der Narzissen längs der Straße sind so prall, als sei es nur noch eine Frage von Minuten, bis sie ihre gelben Köpfchen dem Licht entgegenstrecken. Auch die See steht überraschend still, verglichen mit dem stahlgrauen Ungetüm, zu dem sie sich gestern noch aufgetürmt hatte.

An der Kirche nisten bereits wieder die Turmfalken. Der neue Kurpriester ist ein freundlicher Professor, der zugleich Ruhe und Intellektualität ausstrahlt, mit der natürlichen Souveränität eines erfahrenen Geistlichen. Morgen ist der Beginn der Buß- und Fastenzeit, und ich bin froh, mich auf diesem Überweg nicht unbegleitet zu wissen.

In der Sonne setze ich mich auf eine Bank. Sie steht an keiner besonders sehenswerten Stelle; der Blick richtet sich lediglich auf struppige Braundünen. Aber sie steht da, wo ich sein will: Inmitten des Meeres, auf einer Insel. In der Wärme der Sonnenstrahlen richte ich den Blick himmelwärts und sehe den Gänsen nach.