Kleine Welt

„Kleine Welt“ nennen wir es hier in Norddeutschland, wenn Nebel das Land verhüllt und die Fernsicht auf wenige Meter zusammengeschnürt wurde. Im Winter gibt es viele neblige Morgen auf Langeoog, die oft in überraschend klare, strahlende Tage münden. Vom zuweilen enervierenden Tuten des Nebelhorns an der Mole einmal abgesehen, mag ich diese Morgen, an denen sich alles Vertraute nur noch erahnen lässt und sich weiße Bänder dichten Nebels durch einsame Dünentäler weben. Schön ist es, wenn die Sonne, die man anfangs nur in pastellig-verwaschenen Tönen hinter den Wolken erkennt, dann plötzlich hervorbricht und die feuchtglänzende Vegetation vergoldet. Dann vergrößert sich auch die „kleine Welt“ wieder und man kann das vormals verhüllte ganz neu betrachten.

Für manche Menschen hat der Begriff „kleine Welt“ vermutlich auch etwas Klaustrophobisches; zumal in Zeiten der Pandemie. Wenn es nicht mehr um die Frage geht, ob man reisen will, sondern ob man es darf oder ob man es soll. Unter diesem Aspekt ist die Insel aktuell auch ohne Nebel eine kleine Welt, denn verantwortungsbewusste Zweitwohnungsbesitzer kommen zurzeit nicht her — und andere Gäste dürfen es nicht. Es herrscht, von ein paar (erlaubten) Verwandten auf Festtagsbesuch und einsichtsbefreiten BesucherInnen abgesehen, noch immer „Insulaner unner sück“ auf Langeoog — und das sogar an Weihnachten. Normalerweise wäre jetzt Hauptsaison; Hotels und Restaurants würden aus allen Nähten platzen, ebenso wie sämtliche Ferienwohnungen und überhaupt jedes vermietbare Mauseloch.
Ich empfinde glücklicherweise keine Beengung durch die Unmöglichkeit des Reisens, obwohl ich meine Eltern zweifelsohne auch gerne gesehen hätte. Denn ebenso zweifelsohne bin ich durch meinen Erstwohnsitz gesegnet: Angesichts der Weite des menschenleeren Strandes, der See und des sternenübersääten Winterhimmels ist es zumindest mir nahezu unmöglich, mich hier auf irgendeine Weise eingesperrt zu fühlen. Und die ungewohnte Stille hat gerade jetzt, an Weihnachten, eine ganz eigene Magie.

„Ich bin so froh, dass du jetzt jemanden bei dir hast“, sagt meine Mutter am Telefon, und natürlich freut es mich ebenfalls, meine Freundin an den Festtagen bei mir zu haben, die in ihrem eleganten Winterwollkleid wunderschön aussieht.
Aber es wäre nicht schlimm, allein zu sein. Es war all die Jahre für mich nicht schlimm; da war keine menschenförmige Lücke neben mir, die nur danach schrie, mit einem Partner, einer Partnerin besetzt zu werden. Da waren die Heilige Familie und ich, da war das Jesuskind in seiner Krippe, da war der immerwiederkehrende Zauber der Weihnacht. Und, zugegeben, es lauerte in „normalen“ Jahren sowieso immer ein Haufen Arbeit, weil den mein Beruf gerade zu Festzeiten nun einmal mit sich bringt. Wie hätte da Einsamkeit aufkommen können?

Immer wieder denke ich darüber nach, warum es für einige Menschen so ein Tabu ist, an Weihnachten allein zu sein; mitunter an ein Stigma grenzend. Als dürfe man an sämtlichen Tagen im Jahr alleine sein, aber müsse sich doch bitte zumindest an Weihnachten (hinzugenommen: Silvester, Geburtstag) zwingend vergesellschaften, mit wem auch immer. Ich kann dazu nur sagen, dass ich alleine nie einsam war; unter Menschen, mit denen ich mich nicht wohlfühlte, aber sehr. Und in unglücklichen Beziehungen erst Recht.
In diesem Jahr sind vermutlich mehr Menschen an Weihnachten alleine als sonst. Ein lieber Freund ist in Quarantäne; ihn erwischte der Virus pünktlich zum Fest. Wer keine Familie in der Nähe und kein Auto hat, vermeidet ebenso die Reise; allein der öffentlichen Verkehrsmittel wegen. Vielleicht, denke ich, ist das eine der wenigen positiven Begleiterscheinungen der Pandemie: Mehr Leute als sonst werden aus eigener Erfahrung wissen, dass man es überlebt, an Weihnachten alleine zu sein. Und dass es sich durchaus lohnt, auch für sich alleine etwas Feines zu kochen oder sich einfach einmal selbst(!) Zeit zu schenken. Zeit, von der man (ohne die aktuelle Zwangsentschleunigung durch die Pandemie) doch eigentlich immer zu wenig hatte. Freie, unverplante Zeit: Ist das nicht eines der kostbarsten Luxusgüter dieser Tage?
Man kann es sich schön einrichten in seiner kleinen Welt. Und, sobald sich der Nebel gelichtet hat, umso mehr über die Wunder der großen staunen.

Aber ich blende das Leid nicht aus. Es gibt Menschen, die sich jetzt wirklich einsam fühlen. Deren Liebste in Krankenhäusern um ihr Leben ringen oder die bereits gestorben sind. Oder die sich gerne mit anderen Menschen umgeben würden, dies aber aufgrund der Pandemie jetzt nicht können oder einfach, weil sie niemanden haben. Freunde wachsen nicht auf den Bäumen, und es ist nicht immer gerade dann jemand da, wenn man jemanden bräuchte. Oft sind nämlich genau dann gerade alle weg: Ich kenne das. Ich kenne jede Ausprägung von Alleinsein, und ich werde das auch nicht vergessen, nur weil da jetzt wieder jemand ist, der seine kleine Welt an meine anzuknüpfen wagt: Mit einer romantischen Schnittmenge, aber noch immer genügend Freiraum zu beiden Seiten — Anders ginge es für mich auch nicht.

Aber natürlich weiß ich zu würdigen, dass es meine Eltern freut, mich von jemandem geliebt zu wissen, ob nun an Weihnachten oder wann auch immer. Denn irgendwann müssen sie den Staffelstab des Liebens auf dieser Erde ja weiterreichen, das wissen wir alle — leider.
Nicht zuletzt darum wünsche ich mir, obwohl ich die Stille und Reduktion dieser Weihnacht auch sehr zu schätzen weiß, dass sich die kleine Welt in Kürze vielleicht doch wieder ein wenig weitet: Dass man sich sehen kann, wenn es das Herz befiehlt; und nicht nur dann, wenn es gerade erlaubt ist. Die Zeit auf Erden ist begrenzt: Auch das bekommen wir gerade recht deutlich aufs Butterbrot (respektive die Scheibe Christstollen) geschmiert.
Immerhin, denke ich, den Blick auf die Krippe gerichtet, reicht die Pandemie nicht bis in den Himmel.
Deo gratias.

Momentaufnahme, Wiederbelebt

Im Haus auf der anderen Seite der Straße brennt wieder Licht. Auch zur Gartenseite hin sind Menschen eingezogen; von der nachmittäglichen Lektüre ließ mich Babygeschrei aufblicken. Ich sah ein Mädchen, das die Jalousie in der Ferienwohnung gegenüber eilends hinunterließ, als ich hinübersah. Die Insel hat sich in Rekordtempo wieder gefüllt.

Noch weht leichter Fliederduft durchs Dorf, aber die Rosen sind bereits in voller Blüte. Der Frühling macht Platz für den Sommer. Es ist vertraut, die Straßen und den Strand um diese Zeit voller Menschen zu sehen, und dennoch ist es zugleich befremdlich. Zum einen, weil die Zeit der absoluten Ruhe und Abgeschiedenheit so lang war — zum anderen, weil man nicht ins Detail gehen muss, um zu sehen, dass eben doch nichts ist, wie es war.
Die Tische in den Cafés stehen weit auseinander, die Bedienungen tragen Mundschutz. In den Läden gibt es Zutrittsbeschränkungen, je nach Personenzahl, und auch ich fummele bei jedem Supermarktbesuch einen Mundschutz aus der Tasche und desinfiziere die Hände, wo es nur geht. Die Kellnerinnen und Kellner tun mir Leid, denn ich schnappe in der Regel schon nach kurzem Einkauf nach Luft und weiß nicht, wie man stundenlanges Bedienen in der Sonne, bei ohnehin schweißtreibender und anstrengender Arbeit, damit aushält. Zumal man durch den Stoff auch schlecht verstanden wird.
Auch Gottesdienste gibt es wieder, obwohl noch kein Priester da ist. Es werden Andachten gehalten, so gut es geht, aber es stimmt mich traurig, dass niemand singt. Immerhin ein paar Gebete und Psalmen sprechen wir gemeinsam, aber selbst das tue ich kaum noch ohne schlechtes Gewissen und so leise wie möglich. War früher bei Gesprächen der Inhalt das, womit ich mich am kritischsten auseinandersetze, so ist es nun die vermutete Aerosolwolke. Es ist ein bisschen absurd: Schließlich sind die gesunden Aerosole am Meeressaum das Pfund, mit dem ein Nordseeheilbad touristisch wuchert. Die gesunden, winzigen Salzluftpartikelchen, die bis tief ins Bronchiengeflecht und in die Lunge vordringen und dort heilsame Wirkung entfalten sollen. Die beim Sprechen ausgestoßenen Aerosole dagegen könnten mich bei entsprechender Viruslast töten. Und jeden anderen Menschen auch.
Hinzu kommt die Gefahr der Übertragung durch Schmierinfektion. Eine Miteigentümerin, kurz nach Inselöffnung aus NRW zu Besuch, parkte kurzerhand (und ohne Rücksprache) mein Fahrrad um — und ich erwischte mich bei dem Gedanken, ob jetzt wohl ein Import-Virus am Lenker klebt. Gleiches frage ich mich beim Haustürgriff, den nun wieder wechselnde Feriengäste anfassen. Ich höre sie im Treppenhaus rennen und rufen und muss dabei wieder an die Aerosolwolken denken, die nun minutenlang durch den Flur wabern, obwohl die Leute längst in den Wohnungen verschwunden sind. Man muss aufpassen, nicht paranoid zu werden dieser Tage; sich vom Virus nicht zu sehr im Alltag bestimmen zu lassen, jenseits der gesetzlichen Verpflichtungen. Aber es ist nicht einfach, zumal mich der Pollenallergie wegen ohnehin die Kurzatmigkeit plagt. Ich kann einfach keine Lungenkrankheit on top gebrauchen, so sieht es aus.

Mein Urlaub ist aufs nächste Jahr verschoben. „Wenn wir dann noch leben“, sagt mein Vater, und ich muss wohl kaum erwähnen, dass ich sowas nicht hören will. Auch wenn ich es längst selber denke. Ich kann es nicht verleugnen: Ich habe Angst. Ich sehe die Vulnerabilität meiner Eltern, die meiner Freunde und meine eigene klarer vor Augen denn je, wiewohl es natürlich nach wie vor eine Million anderer Dinge gibt, an denen wir bis zum nächsten Mai sterben könnten. Aber COVID-19 ist omnipräsent.

Inzwischen kommt es mir ewig vor, die Insel nicht mehr verlassen zu haben; in Wirklichkeit waren es nur rund 2,5 Monate. Zwar durften Insulaner die ganze Zeit fort, aber ich wollte aus Vernunftgründen keine Überfahrt riskieren; davon, dass Ausflüge nonsense sind, wenn man nirgends einkehren kann und kaum ein Verkehrsmittel im Normaltakt fährt, ganz zu schweigen.
Ich würde gern meine Eltern besuchen, aber eine stundenlange Zugfahrt mit Maske ist bei meinen Atemproblemen ebenfalls undenkbar. Wir machen lose Pläne für den Frühsommer; ein Treffen irgendwo in der Mitte zwischen beiden Wohnorten, und ich kann nur beten, dass es bald dazu kommt und dass wir auch dann noch alle gesund sind.

Nichts ist selbstverständlich dieser Tage. Umso dankbarer bin ich für jedes bisschen Leichtigkeit, Nähe und Normalität in diesen Tagen. Meiner Freundin habe ich ein eigenes Regal ins Bad gebaut. Ich mag es, ihren Kosmetikkram dort zu sehen, weil er Beständigkeit verheißt und Wiederkehr. Und doch habe ich auch um sie Angst, denn aufgrund ihres Berufes mit viel Menschenkontakt käme sie mit dem Virus wohl noch eher in Berührung als ich. Eine liebe Bekannte sah ich heute mit ihrer alten Mutter im Dorf, die auf der Insel zu Besuch ist. Ohnehin eine zierliche Dame, kam die Mutter mir dieses Mal besonders zerbrechlich vor, und ich ahnte einmal mehr, dass man gerade jetzt eigentlich keine Chance versäumen sollte, um noch etwas Zeit mit denen zu verbringen, die man liebt. Die gemeinsame Zeit läuft auch ohne Coronavirus viel zu schnell ab, und ich muss aufpassen, nicht zu fatalistisch zu werden dieser Tage.

Corona, Corona … ich gebe zu: ich kann es selbst kaum noch hören und lesen und ich wünschte, ich würde dieses Buch nicht bis zur Hälfte mit diesem Thema füllen. Andererseits: Schriebe ich nicht darüber, so würde man in ein paar Jahren meinen, ich hätte den Frühling und Sommer 2020 auf einem anderen Planeten verbracht. Das Jahr lässt sich nicht mehr ohne den Virus denken.

Ablenkung tut Not. Nächste Woche wollen wir einen Ausflug wagen; im September wartet das Exerzitienhaus im Wald. In bade mein Herz in Vorfreude und atme einmal tief durch.

Momentaufnahme, Norderney

Als die Sonne um 5 Uhr morgens über die Deichkrone flutet und die Wolkenränder erglühen lässt, bin ich sofort hellwach. Ein Ausflug steht an, und so sehr man die Insel auch liebt, so schön ist es doch, auch ab und zu etwas herumzukommen. Aber ich entferne mich nicht weit von Langeoog: Norderney heißt das Ziel; die zweitgrößte der Ostfriesische Inseln, welche 1797 zur ersten Königlich-Preußischen Seebadeanstalt an der deutschen Nordseeküste ernannt wurde. 
Am Hafen besteige ich die LANGEOOG II, mit knapp 33 Metern Länge eines unserer kleineren Seebäderschiffe. Am Kai gegenüber löscht ein Arbeitsschiff Möbelcontainer der Luxusmarke „Rolf Benz“: Die Gentrifizierung hat hat ihre gierigen Ausleger bis Langeoog gestreckt.

Es ist überraschend ruhig auf dem Schiff, keiner der Tagesausflügler an Bord plappert oder quengelt. Die Windrichtung ist Nordost. 
Ich steuere den Kahn nicht, also ist diese Information für mich eigentlich ohne Belang, aber da ich seit Tagen an einer noch nicht ausgestandenen Magen-Darm-Infektion laboriere, könnte sich das Wissen um die Windrichtung, gepaart mit einem Platz nahe der Reling, im worst case durchaus als nützlich erweisen.
Wir legen ab.

An Bord Nachdenken über das Ziel: Der Wikipedia-Eintrag zu Norderney umfasst, ohne Inhalts- und Quellenverzeichnis, 51 Seiten. Meine praktische Erfahrung beschränkt sich auf einen Kurzausflug vor einigen Jahren, in dessen Rahmen ich vor allem die Naturschutzgebiete im fast unbewohnten Ostteil der Insel erkundete. Heute soll es ein Stadtbesuch werden, denn tatsächlich: Auf Norderney befindet sich eine Stadt, welche gleichnamig mit der Insel ist, sich aber nicht über deren ganzes Gebiet erstreckt.

Es riecht nach Diesel und Salzwasser. Wir passieren Baltrum. Dann schält sich das Ostende Norderneys aus dem morgendlichen Dunst, golden beleuchtet von Sonnenstrahlen, die sich aus dichten Cumulus-floccus-Feldern drängen. 
Der Kapitän mahnt aufgrund „vermehrter Schiffsbewegungen“ zum Sitzenbleiben; zwei Teeniemädchen, die sich der Mahnung widersetzen, kreischen vergnügt, als das Schiff bugabwärts in die Wellen taucht und zu rollen beginnt.
Als braver Passagier bleibe ich sitzen, obwohl ich jetzt auch lieber auf dem Achterdeck stünde, Gischt im Gesicht. Aber so schaue ich nur herab auf die brodelnde See und fühle jede Woge in meinem Herzen. Wie ich dieses Element liebe, denke ich ergriffen, wie ich es liebe. Aller Gefahren zum Trotz: Gibt es denn irgendwetwas Schöneres auf der Welt?


Das Bild eines ehemaligen Marinesoldaten, den ich sehr liebgewonnen habe, legt sich in den Anblick der von silbernem Sonnenfunkeln durchwobenen See. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich den Mann jetzt gerne bei mir hätte, um diesen Augenblick zu teilen; um ihm zuzuhören, wie er erzählt von der See — mit seiner schönen Stimme, deren weicher, süddeutscher Einschlag zunächst gar keine Seeaffinität vermuten lässt.
Auf dem Foto, das ich von ihm aus Seezeiten im Herzen trage, hat das Meer dieselbe Farbe wie heute. Weiches Sonnenlicht fließt über das Schanzkleid der Fregatte und legt sich weich auf seine schöne Haut, die vollen, klar gezeichneten Lippen, läuft den Ärmel des blauen Dienstanzugs herab und lässt den Ring an seiner rechten Hand aufgleißen. Ich seufze mit resignierender Wehmut: Es gibt Dinge, die dürften nicht sein.

Der Mann steht lächelnd neben seinen Kameraden; das Schiffchen sitzt akkurat über seinen ebenmäßigen Zügen und er blinzelt ein wenig in die Sonne, der Schatten seidiger Wimpern malt feine Streifen auf sein Gesicht.

Mit einem zweiten wehmütig-resignierenden Seufzen blättere ich die Seite meines inneren Fotoalbums um, oder, zeitgenössischer: Ich wische.


Und so erzähle ich sie auch heute allein, meine Geschichte vom Meer. Und die See liegt vor mir und lauscht, in ihrer stoischen, uralten Ruhe, ungeachtet all des Sich-Türmens, Tobens, Auseinanderstiebens und Brechens an ihrer Oberfläche. 
Norderney dehnt sich steuerbords: Bald sind wir da.

Ich nehme einen Bus in die Stadt. Das erste Ziel ist das 1840 fertig gestellte Conversationshaus, das heute die Touristeninformation, Veranstaltungsräume und eine atemberaubend schöne Bibliothek mit passendem Lesesaal beherbergt. Das prachtvolle Gebäude erinnert an altehrwürdige Seebäder und lässt erahnen, warum Norderney auch heute noch als das „St. Moritz des Nordens“ gilt und zur Hochblüte der Badekultur viele gekrönte Häupter als Gäste begrüßen konnte. 

Auch eine elegante, kleine Café-Bar gehört dazu, wo ich (der Vernunft geschuldet) Kamillentee trinke und (der Unvernunft geschuldet) ein warmes Croissant mit Marmelade esse. Die sich der Unvernunft wegen unvermeidlich einstellende Übelkeit sitze ich in dem eingangs erwähnten Lesesaal aus, geflegte Sanitäranlagen in Reichweite wissend.

Auf einem Sideboard liegt eine reiche Auswahl an analogen Tageszeitungen aus, dazu gibt es Illustrierte und dunkle Holzregale mit Büchern vom Boden bis zur Decke. Mit seinem großen Kamin, den Ledersesseln, champagnerfarbenen, floral gemusterten Seidentapeten und der Bronzeskulptur eines Uhus verströmt der Raum das Flair eines englischen Herrenzimmers mit leichter Kolonialnote. Durch die riesigen Bogenfenster fällt der Blick in den gepflegten Park mit seinen Rosen, weißen Sitzbänken und Springbrunnen. Im sonnendurchfluteten Erker steht ein Flügel, ein frisches Bouquet gefüllter, viktorianischer Rosen steht in einer Kristallvase darauf, darüber majestätische Lüster.
 Stunden könnte ich hier verbringen, was sag ich: Tage, und einziehen könnte ich eigentlich auch. 

Irgendjemand, der das Schild „Tür bitte leise schließen“ am Entree nicht verstanden hat, donnert mich aus meinen Träumen von der Privatisierung dieses Gebäudetraktes, in denen ich am Erkerfenster dichte und der Lieblingsmensch dem Flügel musikalische Poesie entlockt. 

Auch meinem Vater würde es hier gefallen, denke ich, und es dauert mich einmal mehr, dass die Menschen, die einem am Wichtigsten sind, immer so weit weg sind. Und plötzlich wird mir auch klar, warum ich diesen Lesesaal liebe und mich darin geborgen fühle, als wäre ich darin aufgewachsen: Er riecht nach meinem Vater. 
Wenn mich jemand frage würde, welche Gerüche ich mit ihm verbinde, so wären das nämlich zweifelsohne die gedruckte FAZ und Kaffee. Wenn ich früher morgens in die Küche oder ins Wohnzimmer kam, und es roch nach Kaffee und Druckerschwärze, so wusste ich sicher: Papa war hier. Und so riecht es, mit den vielen ausliegenden Zeitungen und den vom Café herüberziehenden Kaffeedüften, auch im Conversationshaus nach Zuhause.

Im Kurpavillon spielt jemand Jazz, und fast sehe ich elegante Damen mit langen Kleidern und Sonnenhüten flanieren, dazu Männer in nicht minder eleganten Dreiteilern mit sonntagsfein gebürsteten Terriern an der Leine. Das dunkle Vibrieren der gezupften Kontrabass-Saiten durchströmt mich wohlig und lässt jede Übelkeit vergessen.


Es wird Zeit für einen Spaziergang. In den Straßen prachtvolle Gründerzeitbauten und Bäderarchitektur; filigrane Geländer, Veranden mit Rosen, Lavendel, Königskerzen; Gußeiserne Nostalgie-Schilder weisen auf Lädchen mit hübschen Dingen.
Natürlich gibt es auch auf Norderney Geschäfte mit dem handelüblichen Küsten-Kitsch sowie Discounter; es gibt einige Bausünden aus dem Siebzigern am Strand sowie schmucklose Nachkriegsbauten, wo britische, kanadische, französische Bomben Lücken in die Prachtstraßen der Insel und ehemaligen Seefestung gerissen haben. 
Auf dem Weg von der Einkaufszone zum Strand passiere ich die Kirche Stella Maris; ein 1931 von Dominikus Böhm im Stil der Neuen Sachlichkeit erbautes Gotteshaus und die größte katholische Kirche in Ostfriesland. 
Auch die befestigte Strandpromenade überzeugt mit mondänem, aber nie angeberischen Charme, wie ich ihn bisher nur von Seebädern auf Rügen — Binz und Sellin — kannte. Es ist ein wunderbares Lebensgefühl: Sommerliche Leichtigkeit.

Der Rückweg führt mich in die Kirche St. Ludgerus, 1884 geweiht. Die neogotische Saalkirche, ein kleiner Backsteinbau, öffnet nach Durchschreiten eines Vorraums mit großem Weihwasserbecken den Blick auf einen Altarraum, der in seinem Purismus unterkühlt wirken könnte, wären da nicht die weich gepolsterte Lederbestuhlung, die blitzende Orgel, die geschmackvollen, großen Blumenarrangements. 
In einem kleinen „Raum der Stille“ lederbezogene Kniebänke, eine aufgeschlagene Bibel, Weihrauchduft. Eine hölzerne Gottesmutter wacht über den Opferkerzen. 
Eine Frau kommt hinein, sie weint. Zuerst denke ich, sie ist nur erkältet, als ich das leise Schniefen vernehme, aber dann sehe ich Tränen in Bächen auf ihren Wangen und ihre zitternde Hand, als sie eine Kerze entzündet. 
Eine Träne tropft auf den Handrücken, die Gottesmutter wirft ihren Schatten darauf, das Kind im Arm. 
Gib ihr Trost, denke ich, denn mir tut die Frau Leid, aber es gibt ja nichts, das ich, ein Fremder für sie tun könnte, ohne anmaßend zu sein. 
Und so entferne ich mich nachdenklich. Meine beiden Kerzen, mit denen ich für diesen wundervollen Tag und all das Glück der vergangenen Wochen dankte, flackern im Luftzug der Tür, als ich St. Ludgerus verlasse.


Draußen tobt die pure Sommerfreude. Kinder herzen die drei großen Bronzerobben, welche die Fußgängerzone zieren; es duftet nach Waffeln, Liebe und Glück. 
Es ist gut, dass es offene Kirchen gibt. Denn wohin, außer zu Gott, sollte man sonst mit seinem Leid an einem Tag, der förmlich überquillt vor Lebensfreude? Seinen Freunden mag man ja auch nicht die Sommerstimmung verderben. In Kirchen indes darf man immer trauern, und auch wenn Maria das Kind in einem Arm trägt: Den anderen hat sie noch frei, und so hoffe ich, dass sich auch für die weinende Frau noch eine Umarmung findet.

Das Wetter ist prachtvoll, und so wandere ich ein zweites Mal Richtung Strand, zur „Marienhöhe“. Die Marienhöhe ist eine 11,5 Meter hohe Düne, welche nach Königin Marie von Hannover benannt ist, die gemeinsam mit ihrem Mann, Georg V. von Hannover, zu Lebzeiten hier häufig kurte. 
Auch Heinrich Heine dichtete auf Norderney: Ihm zu Ehren ließ die Königin einen Pavillon auf der Dünenkuppe errichten, der 1923 durch den heutigen markanten Rundbau ersetzt wurde, welcher ein Café beherbergt. Am Fuße der Marienhöhe indes geht es gerade wenig poetisch zu: Dort keilen sich Möwen um die Eishörnchen leichtsinniger Touristen.

Heinrich Heine weilte 1825, 1826 und 1827 mehrfach auf der Insel und verfasste hier seinen Zyklus „Die Nordsee“ sowie die Reihe „Seestücke“. Heute schaut er als Denkmal, ein Buch in der Hand, gedankenverloren auf das Pflaster vor dem architektonisch nicht allzu reizvollen „Haus der Insel“. In seinem Rücken bewegen sich die schönen Blattfächer alter Kastanienbäume im Wind.


Die Zeit vergeht zu schnell auf Norderney, ich muss zurück. Vor der riesigen FRISIA IV wirkt unsere LANGEOOG II wie ein Spielzeugschiffchen. Die Maschinen laufen, der vertraute Dieselgeruch steigt auf, ein Segler gleitet lautlos ins Hafenbecken. Die Mitreisenden sind müde, die meisten dösen. Auch ich falle nach dem Ablegen in kurzen, festen Schlaf; all die schönen Bilder und neuen Eindrücke speichernd. 


Es gibt nichts Schöneres, als einen Heimathafen zu haben, sei es ein Ort, ein Mensch oder beides. Ich liebe mein Langeoog und die Menschen, die mir Heimat bedeuten. Aber fast noch schöner als einen Platz zu haben, an dem ich sein darf, finde ich das Gefühl, einen Ort zu haben, an den ich zurückkehren kann. An den ich all meine Eindrücke und Bilder bringen kann, um sie neben die gewachsenen und gehegten Erinnerungen zu stellen und dort ebenfalls kostbare Erinnerung werden zu lassen. 

Ich denke an den Lieblingsmenschen und wie sich Geborgenheit und Freiheit in ihm treffen wie die Wolken und das Meer: Wie wir unsere eigene Schönheit im jeweils anderen spiegeln und die seine in uns festschreiben; Stürmen trotzend, ewig.