Momentaufnahme, Orkan

Am Tag danach tut die See, als sei nie etwas gewesen. Letzte dunkle Wolken ziehen sich vom Horizont zurück und enthüllen ein hellblaues Band aus weichem Licht. Darunter glänzt silbrig das Meer. Doch an den Übergängen türmen sich meterhohe Sandverwehungen; im Osten ist kein Strand mehr vorm Dünenfuß. Im Dorf liegen abgerissene Äste auf allen Wegen, dazwischen große Pfützen, in denen sich der Regen gesammelt hat. Doch das Wasser in den Pfützen steht heute still, und man kann endlich wieder Fahrrad fahren.
Am Tage nach dem Sturm sieht die Insel aus, als habe kurz jemand die Pausentaste gedrückt, um Mensch und Natur etwas Linderung zu verschaffen. Auch ich hatte diesen Sturm unterschätzt. Fast drei volle Tage war die Insel von der Außenwelt abgeschnitten; keine Fähre fuhr und auch keine Frachtschiffe. Das bedeutete: Keine Post und ausgedünnte Regale im Supermarkt. Kein Arztbesuch auf dem Festland trotz entzündeter Ohren. Und der Mensch auf dem Kontinent, dem eine heimliche Sehnsucht gilt, schien noch viel unerreichbarer als sonst.
Es ist ein seltsames Gefühl, nicht nur aus Zeit- und Geldgründen nicht an Land zu kommen, sondern weil es schlichtweg unmöglich ist. Weil die Anleger unter Wasser stehen und weil Orkanböen von 12 Beaufort ein Anlegen ohnehin zu gefährlich machen. Die Macht des Windes spürt man bereits zu Fuß. Am Strand zwingt der Sturm einen in die Knie, als wolle der Herr mit aller Macht Demut vor seiner Schöpfung lehren. Auf den Straßen läuft man Diagonalen, als sei man betrunken; auf dem Fahrrad wirft es einen schlicht um, sofern man überhaupt einen Millimeter voran kommt.
Jeder Meter ein Kampf. Aber die Natur siegt; der Mensch hat sich unterzuordnen.
Und so trägt man das Schicksal mit größtmöglicher Gelassenheit. Verharmlost den Ernst der Lage nicht, gerät aber auch nicht in Panik. Betet natürlich: Dass die Dünenkette hält. Dass niemand dringend ins Krankenhaus muss. Selbst Sankt Nikolaus ist an einigen der Tage für mich unerreichbar, und als ich es doch hinschaffe, keuche und schwitze ich wie nach einem Marathonlauf: Es herrschte ununterbrochen Gegenwind. Aber selbst der Rückenwind holt einen von den Füßen, es ist aussichtslos. 
Viel zu Hause bleiben kann ich dennoch nicht, denn berufliche Verpflichtungen bestehen fort und die Kundschaft verlangt Bilder von Strand, Zerstörung und brüllendem Meer. Also gehe ich raus, robbe mich bäuchlings zur Abbruchkante, die Kamera wie ein Baby in die Jacke geknöpft, Sand und Gischt in jeder Körperöffnung. Ab und zu sind ein paar andere Leute da: Manche als Katastrophentouristen, manche aus echter Sorge um die Insel, manche auf der Suche nach einem perfekten Foto, manche ebenso dienstlich unterwegs wie ich. Zweifelsohne gehört bei diesem Wetter aber nicht einmal ein Hund vor die Tür, und die meisten Herrchen und Frauchen lassen die Gassirunden wohl auch eher kurz ausfallen dieser Tage.
Die Erholung nach dem Sturm tut gut. Endlich braucht man für Wege nicht mehr dreimal so lang, endlich kann man wieder Festlandspläne machen und sogar Pläne für die Balkonbegrünung im Frühjahr.
Ich denke über diese kurze Phase der totalen Isolation nach, abgeschnitten vom Kontinent. Einzelne Fährausfälle oder mal einen Tag ohne Schiffe habe ich auf Langeoog schon erlebt, ebenso wie einige Stürme. Aber nicht mehrere Tage in Folge. Auch eingesessenere Langeooger erzählen, dass dies eher selten vorkommt; die Älteren erinnern sich noch an einige Winter, in denen die Insel von Eis umschlossen war, da kam man dann ebenfalls nicht weg, aber auch das ist schon länger her. Und so war dieser Orkan wohl doch kein ganz harmloser.
Es ist ein bisschen wie mit dem Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit, denke ich. Einsamkeit ist ein Wollen ohne Können: Man möchte gerne Menschen sehen, hat aber niemanden. Einsamkeit ist die Insel im Sturm: Man möchte raus, aber kann nicht, weil es kein Schiff gibt. Alleinsein ist dagegen nur eine Nichtwahrnehmung von Optionen, ein Können ohne Wollen: Man könnte Menschen sehen, aber man will nicht. Man könnte die Insel verlassen, entscheidet sich aber dagegen. Die Option des Könnens aber besteht.
Morgen aber hat die geografische Einsamkeit ein Ende: Die Schiffe fahren nach Plan und ich werde auf dem ersten davon sitzen.
Dazwischen ist ein Telefonhörer die „Rettungsschnur“, wie es schon die wunderbare Ulla Meinecke besang: Ein Funksignal, das einem das geliebte Lachen über hunderte Kilometer ans Ohr spült. Oder es ist ein Mensch, der ebenfalls auf dieser Insel eingeschlossen ist und der mit mir gemeinsam nach draußen schaut: In Richtung Horizont, an dem es nun schon viel heller geworden ist.

 

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Momentaufnahme, Distanz

Distanz misst man in Kilometern, sagt man. Zur Überbrückung nimmt man ein Auto, einen Zug, ein Flugzeug, ein Schiff, von mir aus auch ein Raumfahrzeug. Jedenfalls: Irgendwann ist man da. Und dann ist die Ferne plötzlich nur noch das, in was man gemeinsam sieht, worin man Pläne macht, auf gemeinsamem Grund stehend, am Strand, auf einem Berg. Die Zukunft im Blick oder zumindest ein Ziel, das Erleben eines Augenblicks, das Gefühl eines Momentes; Irgendetwas, das man teilt, ohne dass man es zuvor zerlegen, sezieren und in Worte rahmen muss, bevor man es auf eine kilometerlange Reise schickt. Man ersehnt den Tag, an dem die geografische Distanz verschwindet, in der man all diese Datenleitungen für ein paar Tage kappen und neu aneinander anknüpfen kann.

„Make ends meet“ heißt es im Englischen. Aber was, wenn man die Enden nicht wiederfindet, die Anknüpfungspunkte? Man mag es erneut versuchen, anders. Vielleicht geht es dann trotzdem weiter, vielleicht sogar besser. Fester. Vielleicht ist man, um bei diesem Bild zu bleiben, aber auch falsch verbunden. War es vielleicht die ganze Zeit. 
The person you are calling ist temporarily not available. Kein Anschluss unter dieser Nummer. 
Und schlimmstenfalls war das Kappen der geografischen Distanz das Kappen des Taus, das zwei Boote im Sog der Meeresströmung aneinanderhielt. Man glaubte, sie schwömmen gemeinsam, ein Verbund, stark und sicher. Nun steckt aber schon im Wort „Überwassereinheit“ nur die Zahl Eins. Eine wie auch immer geartete Verbundenheit macht keine Zweiheit daraus.

Direkte Kommunikation ist ein Ideal, der Mensch gilt nunmal als soziales Wesen. Und wo könnten Worte besser wirken als in Tateinheit mit Blicken, Körpersprache, Gesten: Da, wo man sie unmittelbar dem Gegenüber in Herz und Hände legt, ohne sie in Schriftform zu pressen oder auch nur durch ein Telefonkabel jagen zu müssen?
Aber kann es, andererseits, nicht auch sein, dass auf Papier oder Display platzierte Worte präziser Informationen übertragen, gerade weil sie all diese Hürden nehmen müssen, die vis-a-vis dabei wegfallen? Rutschen beim lebendigen Gegenüberstehen und -sitzen denn die Worte nicht allzu oft ab an der Weichheit eines Körpers, bleiben hängen an einem Blick, fallen zu Boden mit einer unbedarften Geste, tauen und verlieren sich in der Wärme, verheddern sich irgendwo, an einem stoffbezogenen Knopf, den Fransen eines Schals, wiegen sich allzu geborgen in den weichen Schwüngen glänzender Wimpern?

In der Spüle stehen zwei leere Bierflaschen. Davor steht der Mensch und blickt etwas ratlos auf dieses unschuldige Ensemble: Stumme Zeugen viel zu schnell verronnener Zeit. Das Jetzt, das man so lange ersehnte, ist längst wieder Vergangenheit.
 Wäre die Leere in uns doch einmal so messbar wie in diesem Behältnis, denke ich. Gedankenverloren streiche ich über den Flaschenrand, den seine Lippen berührten. Das Herz sucht am Grunde nach Irgendetwas.

Die Nacht wird noch einmal kalt, aber allenthalben reden sie schon vom Frühling. 
Auf der Nordsee treiben Eisschollen. Erstarrter Meeresschaum türmt sich zu abstrakten Gebilden. Es ist der stärkste Frost, den ich bislang auf der Insel erlebte. Beeindruckend und in seiner Lebensfeindlichkeit abschreckend zugleich. Die Sonenuntergänge sind klar, farbenprächtig und schön — für den, der sie sich anschauen kann, einen Hund oder menschlichen Gefährten an der Seite; die Glücklicheren haben beides. Kein Versenden eines Fotos tut Not, keine Notiz daran: Schau mal, wie schön. Man steht einfach gemeinsam, schaut, und es ist schön.
Der Hund schnüffelt derweil an einer im Frost verendeten Bekassine. Gestorben an Erschöpfung, allein.
Die Reise war wohl zu weit.

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Momentaufnahme, Sommerwolken

Es gibt Tage, an denen mag ich sogar die kleinen Kreuzspinnen, welche an meinem Fahrradlenker ihre Netze bauen; die weniger intelligenten bauen die Netze in den Speichen. Noch winzige Vorboten des Herbstes, so wie die in den Gärten reifenden Äpfel und die leuchtend roten Hagebutten, welche nach und nach die Blüten der Heckenrosen ersetzen. Morgens ist Tumult in meinen Staudentöpfen: Spatzen forsten, randalierend in den Blättern, nach ungeernteten Johannisbeeren.
Auch die ersten Starenschwärme sind da; sie ballen sich in der Luft oder zeigen ihr irisierendes Gefieder auf vom Sommerregen satten Feldern.

Am Strand liegt eine alte Holzpalette; ein ärmliches Podest, auf das ich meine Sachen breite, aber heute, mit einer sanft brandenden See vor mir und nichts als dem Himmel über mir, ist es ein Thron.
Müde von einer mehrstündigen Wanderung strecke ich mich aus auf dem sonnenwarmen Holz und blicke in das Blau, auf dem Wolken treiben. Zarte Schleier nur, ab und zu ein kleines Flöckchen dazwischen; sie lösen sich auf, formieren sich neu, treiben weiter, verschwinden, entstehen. Ich frage mich, wie lange man das ansehen kann, ohne dabei in Trance zu fallen, und es beruhigt mich ebenso wie der regelmäßige Herzschlag des Meeres.

Es sind Momente berauschender Vollkommenheit. Ich erzähle dem Lieblingsmenschen davon, den Satz umschiffend: Ich wünschte, Du wärst hier. Glück wird größer, wenn man es teilt, genau wie Liebe. Das ist keine besonders schlaue Weisheit, aber so ist es. 
Und ich weiß, dass er denselben Himmel sieht, dort, wo er wohnt, wenn auch mit anderen Wolken. Wir teilen ja immerhin einen Planeten.
Nein, korrigiere ich mich. Wir teilen mehr. Er fühlt das auch.
Dann ist sie da, diese diffuse Sehnsucht, und ich weiß nicht, ob es Liebe ist, und wenn ja: welche Art davon. Man sollte ja meinen, in meinem Alter wüsste man irgendwann Bescheid darüber, aber das stimmt nicht, es ist immer wieder neu, es gibt keinen Konstruktionsplan dafür. Aber ich weiß, dass er mich glücklich macht, oder beginnen wir bescheidener: zufrieden. In mir ruhend. Er gibt und ich darf geben. Es liegt kein Nehmen darin, keine Gier. Und ich bete, dass uns das erhalten bleibt, dass die Trivia der Liebe einmal nicht Einzug halten mögen, dass wir verschont bleiben von Misstrauen, Eifersucht, ja sogar von jeder Form übermäßigen physischen Begehrens, denn so, wie es jetzt ist, liegt etwas Heiliges darin; eine mir bislang unbekannte Form von Reinheit.

Natürlich streift mich gelegentlich der Gedanke, wie er wäre, der Stillstand der Welt in seinen Armen. Wie es wäre, sein schönes Gesicht nicht nur mit Blicken zu berühren. Ich denke an sein jungenhaftes Lächeln, in dem so etwas Bescheidenes, nahezu Beschämtes liegt, das jeden Verdacht der Überheblichkeit von ihm nimmt. Seine Augen sind dunkel, klar und tief wie ein Waldsee, fern jeder Bedrohlichkeit. Kein morastiger Grund, kein undurchsichtiges Wurzelwerk, in dem man sich verfinge; nichts, das einen herabzöge in die Finsternis. Ich mag seinen Intellekt, seine Geduld und seine Güte. Seinen Humor und seine Ehrlichkeit. Ich denke an den Segen dieser sehr langsam, aber kontinuierlich gewachsenen Verbundenheit und dass es vielleicht gerade die Notwendigkeit eines gewissen Maßes an Distanz, an Mäßigung ist, die für uns Zukunft schafft. Alles andere liegt in Gottes Hand.
Ich setze den Weg fort, es wird kühl. Und doch schweige ich darüber, dass mich auf meiner Insel manchmal friert. Da, wo er wohnt, schlägt Regen an die Scheiben. Ich sehe ihn hinter alten Mauern. Mich umschließt das Meer.

Schwalben begleiten meinen Weg auf dem Rad nach Hause. Auch sie sind unaufdringliche Begleiter, schön und frei. Kamille blüht in Ackerfurchen, das Heu ist gemacht. Am Horizont, vor der Silhouette der Windräder auf dem Festland, gleitet ein hellbeleuchtetes Schiff. Es bleibt noch lange hell in diesen Tagen.
Der Sommer ist nicht vorbei.

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