Momentaufnahme, Fest

Kurz erschrecke ich, als sich im Halbdunkel der Kirche das schwarz verhüllte Kruzifix abzeichnet. Es sieht aus wie eine überdimensionierte Fledermaus an der Wand, mit gewaltigem Schattenwurf bis hin zum Boden, lediglich illuminiert vom flackernden Licht der Opferkerzen. Aber es muss einen nicht ängstigen, denke ich, es ist ja nur der Herrgott drunter. Nächsten Freitag stirbt er, am Sonntag steht er wieder auf.
Jetzt ist Leidenszeit. Aber Erlösung naht.
Eigentlich sollte es jetzt hell sein in der Kirche, sie sollte belebt sein und Menschen darin singen, trotz oder gerade wegen des verhüllten Christus. ER lässt uns im Leid nicht allein. Und wir machen das auch nicht.
Es ist noch ungewohnt, dass es in meinem Leben jetzt dieses neue Wir gibt, diese Kirche, die jetzt auch meine Kirche ist.

Der Leib Christi der Erstkommunion klebte an meinem vor Aufregung trockenen Gaumen fest und ich fürchtete um mein Seelenheil, wenn ich ihn nicht schlucken könnte ― War das ein Omen oder schlichte Physik? Rettung nahte in Form von Blut.
Du kannst den Kelch ruhig austrinken“, sagte mir der Priester vorab, „das wäre mir sogar sehr Recht. Aber halt ihn bloß mit beiden Händen fest, ich werde ihn auch wirklich loslassen, nur nimm ihn mir wirklich ab, ansonsten passiert das, was niemand von uns möchte!“
Dieser Worte eingedenk (und einen zu Boden fallenden Kelch vor Augen, verschütteten Wein inklusive), trank ich das Blut des HERRN in zwei großen Schlucken, bis nur noch das rituell hineingebrockte Stück Hostie in einer winzigen Pfütze schwamm. Zu meiner Erleichterung brachte das Blut nun auch den festgeklebten Leib im Rachen zum Erweichen, glitt die Kehle hinab, und dann geschah es:
Ich war katholisch, Amen.

Minuten später stieg mir die Wärme des mit Wasser verdünnten Messweins in die Wangen, und noch später sollte mir jemand im Pfarrhaus sagen, ich hätte ja einen ganz schönen Zug drauf gehabt beim Abendmahl (das jetzt Kommunion heißt, ich muss mich noch umgewöhnen).
„Aber der Pfarrer hat gesagt, dass ich austrinken soll“, verteidigte ich mich, „und dann hab ich das gemacht.“ Ging so nicht Folgsamkeit?
Die Person, welche die Anmerkung gemacht hatte, schien damit jedenfalls besänftigt ― und ich um Haaresbreite dem Alkoholismusverdacht entronnen.
Es war ein schönes Fest, trotz allem, aber schon bald waren alle Utensilien weggeräumt: Das Fläschchen mit dem Chrisam, die heiligen Bücher, der Kelch; das purpurfarbene Gewand, die Albe, und mit dem nächsten Schiff war auch der Priester fort.

„Willkommen Zuhause“ hatte er noch gesagt, und dann stand ich allein in meiner neuen Heimat, nicht mehr fremdelnd, aber noch von welpenhafter Tapsigkeit ― geborgen und zugleich wohlwissend, dass mit einem neuen Zuhause auch die Verpflichtung einherging, dieses in Ordnung zu halten.

Heute aber ist, wie erwähnt, das Zuhause wider Erwarten dunkel und kein Leben darin. Das Schiff mit dem anderen Pfarrer schaffte es nicht rechtzeitig auf die Insel zur Messe, scharfer Ostwind trieb das Wasser aus der Deutschen Bucht; die Fähre kam nicht voran.
Die Orgel ertönt: Ich bin doch nicht allein in der Kirche. Die Organistin probt für den Sonntag, ich sah sie beim Hereinkommen nicht gleich. Ich lasse mich fallen in den schönen Klang und entzünde ein Licht, für meine Eltern und den, für den ich immer eines entzündete in letzter Zeit, auch wenn ich nicht weiß, ob er das noch will und würdigt.

„Gott ist größer, als alles, was wir uns vorstellen können“, wurde zur Firmung gepredigt, und so vertraue ich darauf, dass ER schon mit dem Lichtlein etwas anzufangen weiß; mit meinem Lichtlein und all den anderen, die im Laufe dieses Tages von Menschen mit Freude, Leid, Zweifeln, Sorgen, Dankbarkeit dort hingestellt wurden. Es ist gut, dass es dieses Ritual gibt, denke ich: Ein warmes schimmerndes Zeichen einer Gemeinschaft, die existiert, auch wenn man sich nicht einmal ― oder nicht mehr ― begegnet.

Auf dem Rückweg heult der Wind in schweren Böen durch die Straßen, wirbelt den Staub der Baustellen auf, lässt die Fahnenmasten kreischen, irgendwo schlägt ein schlecht festgezurrter Gegenstand enervierend kakophon gegen eine Brüstung. Es ist bitterkalt. Vor den Supermärkten steht erstes Strandspielzeug, drinnen warten Kübel mit Tulpen, Schütten mit Ostersüßigkeiten. Ein bisschen surreal, denke ich, und doch: Alles rüstet sich für die Saison.
Indes ist noch einmal strenger Frost hervorgesagt.

Meine auch dieses Jahr allzu voreilig erworbenen Balkonpflanzen fristen ein Kellerkinddasein im Warten auf bessere Tage. Ich gieße sie bei elektrischem Licht. Bald, sage ich, kommt ihr raus. Dann wird es wieder hell und warm. Doch bitte ― und das denke ich nur, während ich Pflanzen und Hoffnung füttere ―: Bitte sterbt mir hier unten nicht.

 

Momentaufnahme, Türspalt

Vor dem Busfenster schält sich Landschaft aus dem Grau. Über dem Feld steht eine Möwe in der Luft, obwohl kaum Wind weht. Aus dem Fenster sieht ein Mensch ohne Hund. Bald zeigt sich ein kleiner Kanal zur Linken; auch das Wasser darin steht still, es ist brackig und trüb. Eine Ente rudert unbeeindruckt mit den Füßen darin, aber man sieht die Füße nicht, weil das Wasser so schlammig ist, man sieht nur die kleinen Wellen, die sie schlagen.
Der Windmühle von 1775, die der Bus als nächstes passiert, fehlen schon lange die Flügel. In der Ferne das erste Hochhaus, danach graue Industriegebiete, die sich wie Tentakeln in die hässliche Stadtperipherie haken. Nach dem Überqueren der Weser plötzlich eine andere Welt: Ein kurzes Aufgleißen hanseatischer Eleganz, die schicken Neubauten mit Eigentumswohnungen und Wasserblick im Stephaniviertel, die Masten der Alexander von Humboldt. Erinnerungen an leichte, unbeschwerte Abende an Bord, an Maienwärme und Bier mit meinem Vater.


Bremen Hauptbahnhof. Aber ich habe keine Zeit für einen Abstecher in die Altstadt mit ihren schönen Läden und ihrem Flair, ich muss weiter nach Osnabrück. Bis zum Zug sind es noch 20 Minuten, ich sollte etwas essen. Nutz die Gelegenheit, sage ich mir, der Bahnhof quillt über vor Delikatessen, die man auf Langeoog nicht bekommt. Sushi. Börek. Pelmeni. Vindaloo. Antipasti. Aber ich kann mich nicht entscheiden. Die Warenfülle erschlägt mich, alles schreit „Hier bin ich! Hier!“, dazu all diese Menschen. Vor der Tür eine Kette Polizeibeamter, lautes Gejohle dahinter: Irgendein Fußballspiel. Bloß weg! Ich habe auf alles Appetit und zugleich auf nichts; ich kaufe ein trockenes Brötchen und schwarzen Kaffee, dann ziehe ich weiter zum Gleis. Ich würde kaputt gehen in einer Stadt, denke ich. Es ist mir nicht mehr erträglich. 
Ich denke an den Hund und bin froh, dass ich ihn nicht hier durchzerren muss, durch das Gewühl, all die Gerüche und den Lärm. Ich ließ ihn bei einem Freund: Wir müssen Abschied lernen. Unsere gemeinsamen Tage sind gezählt.
In all dem Lärm des Bahnhofs stehe ich da und denke an die Stille, die fast fühlbar war, als ich am Morgen der Reise erwachte und keine Pfoten ans Bett trippelten, keine Nase sich zwischen einen angelehnten Türspalt schob, kein Napf gefüllt werden musste. So wird es sein: Gewöhn dich dran.
„Sie können das Haustier von der Rechnung streichen“, erzähle ich dem Hotelangestellten am Telefon, „ich bringe den Hund doch nicht mit“. Unbekümmert sollte das klingen. Aber es ist ein Ende.

In Osnabrück naht ein Anfang: Ich muss zum Bischof, meine Firmung ist bald. Seine Exzellenz wird die Einwilligung geben und einen Festgottesdienst zelebrieren. Es ist eine Ehre, und es sollte ein Freudenfest sein.

Im Hotel angekommen, suche ich im Zimmer nach einem guten Platz für den Hund, bis mir einfällt, dass er nicht da ist. 
Das Haus ist fürchterlich in die Jahre gekommen. Durchs Fenster fällt der Blick auf den Dom mit seinem wunderschönen Kreuzgang und das Dach des Priesterseminars: Ebenfalls ein hübscher, altehrwürdiger Bau mit hohen Decken und langen, hellen Gängen. Gepflegte Grünpflanzen stehen vor weißen Fensterkreuzen. Hier hätte ich eigentlich wohnen sollen. Aber dort hätte ich den Hund nicht mitnehmen können, und so stehe ich nun im Ausweichquartier zwischen abgewetzten Holzvertäfelungen und ockerfarbenem Rauputz und bin trotzdem ohne das Tier.
„Die Weisung des Herrn ist vollkommen“ erinnere ich mich an ein Bibelwort, und mit dem Blick auf den Dom kann ich ja gar nicht anders, als daran zu glauben.


Mit dem Näherrücken der Feier steigt die Aufregung. Ich habe noch nie einen echten Bischof gesehen. Alle anderen Firmlinge sind mit Familie da, aber ich stehe allein an einem Tisch und warte auf Seine Exzellenz, weshalb ein älterer Herr sich mit mir vergesellschaftet und zu ausführlichen autobiografischen Erzählungen ansetzt. Derweil mischt sich der Bischof unters Volk, ich sehe, wie er den Raum betritt, sofort umringt von Menschen. Die Nervosität steigt mit jedem Tisch, an dem er die neuen Schäfchen seiner Kirche einzeln begrüßt; ich kann dem redseligen Senior neben mir kaum noch folgen. Schließlich steht der hochrangige Geistliche auch an meinem Tisch und begrüßt mich mit festem, forschenden Blick und langem Händedruck. Seine Augen sind dunkelbraun und von nicht einzuordnendem Ausdruck.
„So“, sagt er. „Sie kommen also von einer Insel, Langeoog.“ „Ja, Exzellenz.“ „Was machen Sie denn da?“ Ich nenne meinen Beruf ohne jede Ausschmückung und mustere derweil die Soutane mit den magentafarbenen Paspeln und Knöpfen, den Römischen Kragen, das Bischofskreuz, den Ring und frage mich, wie dieses kleine Satinkäppchen wohl hält, das er auf dem Kopf trägt. Während der Bischof noch etwas sagt, suche ich in seinem Haar nach einer Nadel oder irgendeiner anderen Form der Befestigung: Klassische Übersprungshandlung.
Reiß dich zusammen!, schimpfe ich mit mir selbst, jetzt hast du einmal im Leben die Chance, mit einem echten Bischof zu reden und du suchst allen Ernstes nach einer Nadel in seinen Haaren und begutachtest seine Knöpfe? Aber es nützt nichts, ich bin zu nervös. Ich antworte wie ein Automat. Irgendwann gleitet das Gespräch auf eine hinzugetretene Braut Christi über. An die Verabschiedung vom Bischof erinnere ich mich nicht. 
Aber dann heißt es auch schon Aufstellen zum Einzug.


Die Domkantorin singt schön wie ein Engel. Vor uns wabert Weihrauch, ich hefte den Blick auf das prachtvolle Goldkreuz, das man durch den Mittelgang vor uns herträgt. Es ist sehr würdevoll und wunderschön. 
Festlich können Katholiken, werde ich später denken, als ich die Messe nicht mehr wie einen von Nervositätsdunst vernebelten Film wahrnehme, und ich bin froh, bald dazuzugehören. Durch diesen großartigen Dom schreiten und dabei denken zu können: Das ist auch meine Kirche. Ich bin hier nicht bloß zu Besuch.


Irgendwann geht es zum Altar. „Bloß nicht fallen“, denke ich, als ich die unzählig erscheinenden Stufen erklimme, Jahrhunderte unter den Füßen.
Unsere kleine Inselkirche hat eine einzige Stufe zum Altar. Das Lied, welches wir oben im von Messdienern diskret zurechtdirigierten Halbrund singen, kenne ich zum Glück: Magnificat. Ich sang es als Teenager in Taizé. Den Blick in die Gemeinde vermeide ich.
Wir bekennen unseren Willen; die Empfehlungsschreiben unserer Heimatgemeinden liegen gerollt und mit Bändchen verschnürt in Körben auf der Altarplatte. Der Bischof schreitet das Halbrund ab, nimmt unsere Hände, sagt etwas und segnet. Ich putze die schweißfeuchten Hände noch schnell an meiner Hose ab. Die seiner Exzellenz sind trocken; er ist ja auch nicht nervös, erkennt aber vermutlich die Nervosität seiner Firmanwärter. „So“ sagt er dann auch mit der Betonung von „Jetzt haben Sie’s geschafft!“, als er vor mir steht, und ich erwidere seinen Blick, so standhaft wie möglich. Dann folgt der rituelle Spruch, der Segen, das Kreuz auf meine Stirn: So.
Wieder ist ein Wegstück gegangen; es geht heimwärts.
Vom Kreuzgang aus sieht man die Gräber im Innenhof und ich werde mir meiner Endlichkeit bewusst, die heute jedoch wieder etwas näher an die Unendlichkeit gerückt wurde und an das Ewige Leben. Nun werde ich nicht mehr als Heide sterben, denke ich, sondern als Katholik wie ihr. Es ist ein schönes Gefühl.

Irgendwann stehe ich auf der Straße vorm Dom. Sterne leuchten. Das Bild, dass der Bischof jedem von uns schenkte, halte ich im Arm. Es zeigt einen Türgriff des Doms, die Tür ist angelehnt: Sie hat sich für uns geöffnet. 

Der Hund fehlt mir. Ich würde ihm das Bild gern zeigen. „Du wirst ihn nie aus den Augen verlieren“, schreibt mir der Besitzer, an den ich ihn bald zurückgeben muss, „du kannst ihn sehen, so oft du willst.“ Ich glaube es ihm. Aber dennoch ist diese eine, diese besondere Tür, hinter der er mein Hund war, für uns nun geschlossen: Er ist nicht mein Hund. Er wird es nicht werden.

Beim Streifen durch die Altstadt quält mich erneut das Ausmaß der Wahlfreiheit. Man könnte überall und alles essen, überall bummeln und verweilen, man muss ja nicht einmal fragen, ob Hunde dort erwünscht sind. 
Ich gehe in ein Café am Kirchplatz, das wie alle Cafés an Kirchplätzen aussieht und esse den Kuchen, den ich auch auf Langeoog immer esse.

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