Momentaufnahme, Aufblühen

Es ist der erste richtige Frühlingstag. Zwar gab es auch in den vergangenen Wochen ab und zu Sonnentage, aber heute fühlt es sich irgendwie anders an. Es ist erst Mitte Februar, Valentinstag, um genau zu sein, aber dennoch schien mir bereits beim Aufwachen, dass die Vögel anders sängen, die Möwen anders ihre Bahnen am Himmel zögen und sich das Knospen in den Sträuchern nun nicht mehr aufhalten ließe.
Mindestens drei wundervolle Tage liegen vor uns, verspricht der Wetterbericht; teils mit zweistelliger Temperatur und mit ganztägigem Sonnenschein, der zunehmend wärmende Kraft entfaltet.

Bereits am Morgen freue ich mich über Besuch: Eine Handvoll Meisen und ein Rotkehlchen schwirren um mein Vogelhäuschen auf dem Balkon und ich beschließe, mich in das emsige Treiben einzureihen. Mit lang vermisster Lebendigkeit in den Adern jäte und grabe und schrubbe ich in meiner kleinen Wohnzimmer-Außenstelle herum, bis der Frühling gar nicht mehr anders kann, als es sich bei mir gemütlich zu machen.
Freilich, das Holz der Möbel ist abgeblättert und vertrüge schon längst einen Anstrich, auch Efeu und Winterheide bringen noch nicht allzuviel Farbe; aber schon bald duftet der Kaffee auf dem Tisch und die wettergegerbten Stühle sind weich mit hellen Leinenpolstern versehen. Dass ich noch mit Schal und Daunenjacke draußen sitze? — Geschenkt. Die Balkonsaison ist eröffnet!

Wie glücklich mich das macht. Diese paar Quadratmeter privates Grün. Ich lehne mich in den alten Rattansessel zurück und träume bereits von der neuen Bepflanzung; von zartem Primelduft und stolzen Narzissen. Ein Blumenmeer: Das ist es, wovon ich träume, und was urplötzlich wieder in den Bereich des Greifbaren rückt. „Es ist zwar schon mein 43. Frühling“, schreibe ich einem Freund, „aber ich kann mich noch immer darüber freuen.“
Und so ist es auch. Der Freund schickt das Foto eines prächtigen Tulpenstraußes, und auch darüber hinaus werden, dem Datum geschuldet, die sozialen Medien heute mit Blumenbildern geflutet.
Das übliche Valentinstagsgeunke und -gekrittel sowie die diversen Kitschoffensiven und Verzweiflungsakte überlese ich großzügig, ich möchte einfach nur die Blumen sehen — und immer mehr davon, mehr. Ich habe die Farben so lange vermisst.

Ich frage mich, ob ich heute traurig sein sollte, wo ich der irdischen Liebe doch zugunsten der Kirche abschwor und es auch niemanden gibt, der sich darum risse. Aber es herrscht tiefer Frieden.
Kann es denn sein, frage ich mich, beinahe schmunzelnd, dass der erste Valentinstag, an dem ich wirklich in gar niemanden verliebt bin — nicht einmal unglücklich — der bislang schönste meines Lebens ist?
Ich forsche im Herzen, gründele nach Krumen von Leid, aber da ist nichts. Nichts mehr.
Der Mann, den ich letztes Jahr noch hätte lieben können, ist nur noch ein schemenhaftes Bild; ich sah ihn die Tage auf einem Foto und fremdelte.
Ich drehe mich um zum Hausaltar, bzw. zum „Herrgottswinkel“, wie er im Süden so entzückend genannt wird, und fühle die Liebe.

Dort, in meinem „Herrgottswinkel“, hängt eine Ikone mit Christusdarstellung, von der der Herrgott sanftmütig lächelt. Mehr denn je weiß ich nun, dass all das im letzten Jahr die richtige Entscheidung war, denn: Wie soll einem ein Mensch noch das Herz brechen, wenn man sich doch für immer von der unendlichen Liebe Gottes getragen weiß? Es ist schön, sich bedingungslos geliebt fühlen zu dürfen. Warum, frage ich mich, war mir das nur all die Jahre nie genug?
Ich habe so viel verpasst.

Etliche Grüße ebenfalls alleinstehender Freundinnen und Freunde trudeln ein, und mir geht das Herz auf angesichts dieser wärmenden Strahlen von Freundschaft. Auch diese nahm ich die letzten Jahre nicht in dem Umfang wahr, wie es verdient gewesen wäre — ertönte doch mit jeder Nachricht, die nicht von dem geliebten Menschen stammte, sondern von irgendjemand anderem, ein leiser Missklang der Enttäuschung. Und wenn er dann anrief oder schrieb? Dann ließ auch das die Bemühungen der anderen verblassen. Es tut gut, frei von dieser romantisch konnotierten Leidenschaft zu sein. Keine Angst mehr zu haben, keine Sehnsucht, kein Vermissen. Zuweilen beschleicht mich zwar auch die Angst, Gott erneut aus den Augen zu verlieren; aber hier denke ich, ist Sehnsucht ja schon der halbe Weg zueinander.
Was man von den Menschen nicht immer behaupten kann.

Heute aber will ich dankbar sein. Einer lieben Freundin, die zurzeit eine schwere Zeit erlebt, schicke ich Blumen; die zu erwartende Freude genießend, als sei es meine eigene. Und auch einigen anderen menschlichen Konstanten in meinem Leben versuche ich, gebührend Zuneigung zu zeigen: Für alles, was diese guten Geister oft so still und bescheiden tun. Aber auch einfach dafür, dass sie sind.
Dabei geht mir zum ersten Mal wirklich auf, wie viele Formen von Liebe es eigentlich gibt. Und wie wunderbar doch jede einzelne davon ist — jeder Erfahrung von Schmerz und Enttäuschung zum Trotz.

Der Tag vorm Balkon entfaltet sich zu voller Pracht. Viele Menschen sind unterwegs, dennoch ist es überraschend friedlich draußen. Es sind ja keine großen Gruppen da; die meisten spazieren zu zweit oder allein mit einem Hund.

Als es dämmert, ist es bereits nach 18 Uhr. Die Tage sind wieder merklich länger. Kupferfarben glühen Kondensstreifen am noch immer blauen Himmel, durchkreuzen aprikosenfarbige Wolkenbänder. Wenig später leuchten die Sterne in unverhohlener Pracht.

„Gott liebt diese Welt“ heißt es in einem Kirchenlied. Und an Tagen wie diesem spürt man das auch.

 

 

Momentaufnahme, Reise

Es ist wundervoll, Zeit zu haben. Ganz gleich, wie gerne man seinen Beruf ausübt: Der Mensch braucht auch Tage, in denen er ohne jeden Plan termin- und sorglos vor sich hinleben kann, vulgo: Der Mensch braucht Urlaub.
Seit drei Tagen befinde ich mich in diesem seligen Zustand und es ist wunderbar. Wie schön ist es, wenn man auf einmal die Griffel fallen lassen kann ohne dräuende Existenzangst, sie nach einiger Zeit nicht wieder aufnehmen zu dürfen — und wie schön ist es, ein Jahr, das so bescheiden anfing, so großartig zuende gehen zu sehen; hinzukommend fürs neue Jahr geplante Ereignisse, auf die man sich jetzt schon freut. Es ist gut, Zeit zu haben: Zum Innehalten, Rückschau halten, Zu-sich-Kommen, Lieben, Danken.

„Verreist Du nicht?“, werde ich von Menschen gefragt, denen ich vom Urlaub erzähle, oder gleich „Wohin geht es?“ Nunja: ich bleibe daheim. Es sind einige Dinge am Haus zu tun, dazu ist ein Ehrenamt vorzubereiten, eine monetäre Frage ist es auch, und überdies gebe ich zu: Ich möchte einfach nicht. Lebe ich schließlich nicht an einem schönen Ort, der für so viele andere Menschen das ersehnte Reiseziel ist? Muss man da fliehen? Und dann: Die CO2-Bilanz! Dürfte ich noch darüber wettern, wenn ich selbst zig Flüge auf dem Kerbholz hätte?

Andererseits denke ich, dass man unbedingt verreisen sollte. Alexander von Humboldt wird der Satz zugeschrieben: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die derjenigen, die die Welt nie angeschaut haben“, und dem ist wohl nichts hinzugefügen. Dass ich die Welt anschaute, ist lange her; meine weiteste Reise in den letzten fünf Jahren führte nach Flensburg. Dennoch tat auch diese sehr gut, so, wie mir jeder Ausflug aufs Festland gut tut, auf jede Nachbarinsel. Von Baltrum aus betrachtet, sieht Langeoog halt doch noch ein bisschen anders aus, und wieder anders von Bensersiel. Man braucht nicht weit zu fahren für einen Perspektivwechsel — wichtig ist wohl nur, dass man offen für einen solchen bleibt. Es gibt Leute, die von den Urlaubsfotos ihrer Bekanntschaften auf facebook genervt sind, aber ich freue mich in der Regel darüber, weil ich so „herumkomme“ ohne selbst dafür tätig werden zu müssen.
Auch der Lieblingsmensch ist zurzeit auf Reisen und sendet Bilder von nebelumflorten Flusstälern, altehrwürdigen Schlössern, hohen Baumkathedralen mit regenschweren Dächern, Kirchenfenstern in spektakulären Farben. Ich bade mein Herz in diesen schönen Ansichten und bin gern auf diese Weise bei ihm; dennoch freue ich mich auch darüber, ihn wieder sicher Zuhause zu wissen, birgt doch jede Reise ein Risiko des Nichtwiederkehrens. Sicher: Sterben kann man auch zuhause, mag man da einwenden, aber irgendwie ist das doch etwas anderes, wenn auch nicht minder furchtbar.

Derweil mache ich den Balkon herbstfein. Ich knipse die übrig gebliebenen Geranienblüten ab und drapiere sie in einer Vase, bevor ich die letzten Zeuginnen des vergangenen Sommers aus den Blumenkästen schäle und sie dem Komposthaufen hinter dem Haus übereigne. „Magst du lieber rote oder rosafarbene Geranien“ hatte ich den Liebsten noch gefragt, bevor ich sie kaufte, und er wählte die roten, also pflanzte ich diese. Das ist wohl ein bisschen seltsam, wo der Mann doch so weit weg wohnt und die Geranien daher kaum zu Gesicht bekommt, aber ich wollte einfach, dass es auch seine Blumen sind, so wie man wohl insgesamt einfach mehr zum Teilen bereit ist, wenn man jemanden gern hat. Liebe mag miese Eigenschaften in einem hervorbringen, namentlich Dinge wie Eifersucht oder Territorialansprüche, aber summa summarum macht sie wohl doch ein bisschen weniger egoistisch. Ehrlich gesagt, ist das auch der Teil, der mir am Single-Dasein am Schwersten fällt: Dass man quasi zum Egoismus gezwungen ist. Natürlich genießt man es einerseits, im teuren Hotelzimmer das ganze Bett und alle Handtücher für sich allein zu haben, die Heizung und die Champagnerflasche dann aufdrehen zu können, wenn einem persönlich danach ist — aber zugleich gibt es eben auch niemanden, mit dem man den Champagner oder auch nur die Erinnerung daran teilen kann. Und dann grämt man sich anderntags wegen des Katers (wahlweise der Verschwendung, wenn man den schal gewordenen Ruinart-Rest in den Siphon schüttet) und weil niemand verschlafen lächelt neben einem oder in der Dusche vor sich hinplätschert, während man sich nochmal umdreht; in leiser Vorfreude darauf, den noch feuchtwarmen, duftenden Significant Other alsbald wieder in die Arme zu schließen.
Unumwunden muss ich zugeben: Auch die Zahl der Neurosen wächst mit den Jahren des Alleinlebens; umso schwieriger wird es dann, jemanden zu finden, dessen Neurosen mit den eigenen kompatibel sind oder diese sogar sinnvoll ergänzen.
Einen solchen Jemanden schickt der Himmel.

Nun aber, bevor der Frühling Einzug halten kann, weichen die Geranien zunächst einer Ansammlung frostharter Gewächse: Noch ist ein Winter zu überstehen, und nur Gott weiß, was uns währenddessen erwartet. Erika und Astern werden sturmfest eingegraben, jetzt noch umgeben vom Feuer der Herbstfarben in den Hecken und Bäumen ringsherum. Schon bald aber wird kleine Weihnachtsdeko dazwischen glitzern und dann vielleicht eine dünne Schicht Schneekristalle über meinen Pflanzen liegen. Ich werde die letzte Sonnenwärme des Jahres im Rattansessel auf dem Balkon genießen oder, mit einer Schale Tee in den Händen, vom Fenster aus zusehen, wie der Regen ihre Blüten biegt und die Blätter sattgrün lackiert. 
Ich werde mich auf den Frühling freuen, aber keine Eile damit haben. Heute weiß ich um die wärmende Kraft von Gebeten und Worten und um das Beständige im Wandel. Ich weiß, dass man offenen Herzens und guten Willens sehr weit kommen kann; man kann reisen und neue Welten entdecken, ohne dafür auch nur vor die Tür treten zu müssen. Ich glaube wieder an die Liebe, das Gute und Ewige, und ich weiß jetzt um die Fülle in der Genügsamkeit.
Ich glaube: Es ist ein gutes Jahr.

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