Widersprüche

Es ist ein Inselfrühling wie aus dem Bilderbuch. Wie in einer Werbeanzeige für irgendeine Familienversicherung sitze ich im Innenhof in der Sonne und putze mein schönes, neues, zitronenfaltergelbes Fahrrad, dessen fröhliche Farbe alles Wintergrau vertreibt. Meine zukünftige Ehefrau trägt eine salbeigrüne Bluse mit Tulpenmotiv, darüber ein zartes Strickjäckchen in Petrolblau und strahlt; schön wie Nachbars Schneeglöckchen in ihrem Sonnenfleck. Es weht kaum Wind; Möwen kreisen im Himmelsblau und man hört die Austernfischer vom Dach, die ihre Brutplätze beziehen.
Ein paar hundert Kilometer weiter liegt jemandes Ehefrau auf dem Asphalt, zerrissen von Granatsplittern. Die beiden Kinder ebenfalls, alle sind tot, sie haben die Flucht über eine Brücke nahe Kiew nicht geschafft. In den Redaktionen gab es lange Streit darum, ob man solche Bilder zeigen darf, aber der Ehemann und Vater, jetzt Witwer, hat zugestimmt. Man sollte das sehen.
In Europa ist Krieg und meine älteren Verwandten, die das schon mindestens einmal durchhaben, werden von ihren Erinnerungen heimgesucht; 90jährige, die nicht gedacht hätten, dass ihnen das Grauen noch einmal so nahe käme.
Ich habe keine Ahnung von Osteuropa; weder von Russland noch von der Ukraine, vom Üblichen an historischer und kultureller Allgemeinbildung einmal abgesehen. Aber dass es noch nie eine gute Idee war, irgendwo einzumarschieren, sollte sich doch nun wirklich inzwischen herumgesprochen haben. Und dass dabei immer die am meisten leiden, die am wenigstens Schuld tragen.
Und so schaue ich, wie alle anderen auch, mit Entsetzen, Trauer und Fassungslosigkeit auf zerbombte Häuser, Tote, Verletzte und Flüchtlingsströme. Ebenso mit einem warmen Gefühl im Herzen auf eine ungeheure Welle der Hilfsbereitschaft. Dennoch: Es zerreißt einen förmlich, es ist so nah, und man merkt einmal mehr, wie unglaublich fragil dieses Konstrukt „Frieden“ ist und dass es immer neu verhandelt und ausgehandelt werden muss, ebenso wie Demokratie. Sonst schlägt früher oder später immer die Stunde der Despotinnen und Despoten und jenes Teils des Volkes, der einfach nur regiert werden will, egal wie. Der Teil des Volkes, der noch schweigt, wenn es um Minderheitenrechte geht und sich dann wundert, wenn plötzlich jeder in seinen Rechten beschnitten wird, denn so fängt es nunmal an: Menschenrechte sind kein Luxusgut und kein Almosen, das eine Gesellschaft netterweise auch den Randfiguren hinwirft, wenn’s gerade mal läuft. Man kann diese Menschenrechte auch nicht einfach jederzeit wieder einsammeln, wenn man mal wieder Sündenböcke braucht oder Testkaninchen dafür, was das Volk so alles schluckt, solange es nicht die eigene Gruppierung trifft. Und doch geschieht genau das immer wieder.

Nun sitze ich hier in meinem kleinen nestwarmen Inselglück und weiß nicht, ob man das jetzt einfach noch so darf, kann, sollte: Glücklich sein. „Den anderen geht es nicht besser, wenn man jetzt keine Feste mehr feiert oder sich freut“, sagte mir eine liebe Bekannte dieser Tage, und natürlich: Das Unglück macht vor niemandem Halt, das Glück aber auch nicht. Und oft genug hat beides einen denkbar seltsamen Zeitpunkt. Mein Vater wurde 1942 bei Bombenalarm geboren, und zugleich mit der Angst, dass die neue Familie gleich zusammen mit dem Krankenhaus in Trümmern liegen könnte, wird bei Opa O. sicher dennoch auch eine Schnapsflasche oder Zigarrenbox gekreist sein oder womit auch immer man damals die Geburt von so einem Würmchen mitten im Krieg feierte. Vielleicht hat sogar noch jemand Blumen verkauft für die werdende Mutter, irgendwo zwischen dem Schutt einer zerbombten, grauen Stadt.

Dennoch brummt das schlechte Gewissen mit, wenn man sich dieser Tage freut; man spendet und hilft im Rahmen seiner Möglichkeiten, man schaut mit Angst auf all die Prophezeiungen bezüglich Preissteigerung, nährt seine Existenzangst damit, fürchtet sich vor kalten Wintern mit Heizkörpern nicht über 16°C, obwohl es einem doch immer noch so gottverdammt gut geht, weil man überhaupt noch ein Zuhause hat, das man heizen kann und darf und weil man Dreckflecken vom Fahrrad wischt anstatt Blut von den Wänden.

Vermutlich muss ich diesen Widerspruch einfach aushalten: Hinter mir liegt der schönste Jahresbeginn, an den ich mich erinnern kann. Wundervolle Urlaube, ein ewiges Versprechen im denkbar schönsten Setting, dazu dann — endlich — eine seelenstreichelnde Reihe milder Sonnentage auf der Insel und das stete Glück eines Zuhause am Meer. Für unser armes Europa, für die Menschen in der Ukraine ist es ein furchtbarer Frühling. Der Blick in die Welt tut weh.

Farbe und Gefühl

Dieser Tage war ich mit der Liebsten in einem großen Drogeriemarkt. Eine Weile schlenderte ich neben ihr her und versuchte mich an der Beratung zu Haargummis, in deren Auswahl sie sich aber nachvollziehbarerweise nicht von mir reinquatschen ließ. Dann trennten sich unsere Einkaufs-Wege und ich begab mich auf die Suche nach dem Regal mit den Männerprodukten, um mich durch Duschgel-Neuheiten zu schnuppern. Ich fand es in Form einer schwarzgrauen Wand, mit frischen Akzenten von Dunkelbraun und Nachtblau, ein Tupfer gewagtes Rot dazwischen, und dachte mir: Wtf?! — Um es neudeutsch auszudrücken.
Nun ist die farbliche Einöde bei Produkten für die Zielgruppe „ganzer Kerl“ ja eigentlich nichts Neues, und mich als Ex-Werber dürfte mich das schon gar nicht mehr schockieren, aber tatsächlich nahm ich es das erste Mal sei Langem wieder komprimiert so wahr, wie es da vor mir stand: In seiner geballten Schmucklosigkeit.

Warum, fragte ich mich, ist es 2022 eigentlich immer noch so, dass der Mann angeblich nichts kauft, was nicht schwarz, dunkelblau, autofelgengrau und eckig oder sonstwie dynamisch geformt ist? Warum labern einen die Etiketten der Pflegeprodukte für Männer immer noch ausschließlich mit Schlagworten wie „Energie“, „Frische-Kick“, „dynamisch“, „markant“, „maskulin“, „herb“ zu, während für Frauen entwickelte Produkte auch sinnlich, zartmachend, duftend, wärmend, einhüllend sein dürfen? Klar, bei den Frauenprodukten nervt dafür ein Überhang an Rosa, Schnörkeln und Niedlichkeiten; Schwarzgraudunkelblau kommt dafür fast gar nicht vor, wenn man von High-End-Kosmetika mal absieht, wo schwarz mit Logo das Corporate Design ist. Im Luxussegment findet man zuweilen auch puristisches japanisches Design ohne genderstereotypen Grobfug, aber nun war ich eben in einem handelsüblichen Drogerie-Discounter und musste mich mit dem dortigen Angebot und seiner fragwürdigen Klischeehaftigkeit auseinandersetzen. Immerhin, eines stellte ich bei näherer Betrachtung fest: Mit „unwiderstehlich“ protzen Produkte für sämtliche Geschlechtsidentitäten — als kaufte man den Kram nicht vorwiegend für sich selbst.

Was meinen persönlichen Geschmack betrifft, so kann man mich sowohl mit eckig-dynamisch-herb jagen wie auch mit rosa-glitzer-süß, und — das muss ich gerechterweise anfügen — es hat sich auf dem Markt in Sachen Unisex-Design und -Duft auch schon eine Menge getan. Denn man kann sich durchaus seiner Geschlechtsidentität als Mann zu 100% sicher sein und trotzdem nicht ausschließlich nach Moschus und Leder riechen wollen, und auch nicht jede biologisch weibliche Person, die sich auch als solche identifiziert, hat das Bedürfnis, eine Duftschleppe aus Vanille, Kokos und Kinderkaugummi hinter sich herzuziehen.
Für Menschen, die genderfluid oder non-binär empfinden, kann ich nicht sprechen, aber letztlich geht es mich ja nun auch nichts an: jedem Tier sein Plaisier. Da steht auch einer Person im rosa Glitzerkostümchen ein Moschus-Odeur zu, und wenn der alphamännliche Bauarbeiter halt mal Lust auf Kokosvanillekaugummi hat: Ja nun, why not? Unfreiwillige Geschlechtsangleichungen aufgrund falscher Kosmetikauswahl sind mir zumindest noch nicht untergekommen.

Ich mache mir aus allen Extremen nichts. Ich bevorzuge harmonische Formen, Naturfarben, -materialien und Düfte, die an sonnenbetupfte Waldseen, frischgemähte Wiesen, Farn, Efeu, wilde Beeren und Wintertage an der See erinnern. Mit Flakons, die nicht zu verspielt sind, die an Seeglas erinnern oder an poliertes Treibholz, im Zweifelsfall auch einfach an nostalgische Apothekenfläschchen, kriegt man mich.

Nun frage ich mich aber dennoch, warum die Zielgruppe „Mann“ zumindest im Allerweltskosmetiksegment noch immer so stereotyp bespielt wird. Klar, es ist kaum eine Generation her, als jedes Interesse am eigenen Aussehen noch als „unmännlich“ galt; als „geckenhaft“, wie es damals so schön hieß. Und jeder Mann, der sich schonmal einen Nagel gefeilt hatte, geriet vermutlich gleich unter Homosexualitätsverdacht. Duschen? Kalt, Kernseife und unter drei Minuten, bitteschön, oder will hier jemand verweichlichen? Der Geruch des Geldes zählte, wenn man beim Weibsvolk was reißen wollte, nicht der der Achseln.

Nun war und ist das natürlich Bullshit, denn ich kann mir nicht einmal eine Neanderthalerfrau vorstellen, die für erotische Aktivitäten einen frisch gebadeten Mann mit halbwegs intaktem Gebiss nicht einem stinkenden Pendant mit fauligen Zähnen vorgezogen hätte. Indes weiß ich aber auch nicht — denn da klafft bei mir aus biografischen Gründen eine Sozialisierungslücke — wie es ist, sich als Junge für Dinge zu begeistern, die als „unmännlich“ gelten und dafür gemobbt und diskriminiert zu werden. Ich kann nur ahnen, dass es schwer ist, Dinge wie Eiskunstlauf, Reden über Gefühle, Augencrèmes, Puppen oder von mir aus sogar die Farbe Rosa toll zu finden, wenn man als männlich gelesen wird und sich auch ebenso identifiziert. Aus meiner Jugend in den 90ern erinnere ich mich, dass sich einige Klassenkameraden keinen Ohrring stechen ließen (obwohl es damals modisch der letzte Schrei war), weil sie nicht mehr wussten, ob der Spruch dazu „links cool, rechts schwul“ oder umgekehrt hieß, so groß war die Angst, vom heteronormativen Männlichkeitsideal abzuweichen. Darüber, wieviel Homophobie in all diesem Blödsinn steckt und wie eng Homophobie und Frauenfeindlichkeit eigentlich verzahnt sind, wurden inzwischen ganze Bücher geschrieben, aber ich will an dieser Stelle nicht zu weit abschweifen. Und ja, auch Mädchen, die lieber Physik als Ponys und Fußball statt Fingernageldesign mögen und weder vom Heiraten noch von der Mutterschaft träumen, haben es bis heute nicht leicht, aber das ist nochmal eine andere Baustelle.
Denn, beim Nachdenken über das dynamisch-herbe und blauschwarzgraue Regal und über all die Dinge, die bis heute als „unmännlich“ besetzt sind, wird mir auf einmal auch wieder klar, wieviel der Hälfte der Menschheit dabei eigentlich entgeht. Warum muss ein Mann, wie ihn sich die Mainstream-Kosmetikwerbung vorstellt, sich immer noch abgrenzen wollen von allem, was weich, zart, wärmend, ist, was ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt oder ganz einfach „schön“ und angenehm ist? Ich lasse mir das nicht nehmen. Gott liebt Vielfalt, und zwar in jedem einzelnen kleinen Detail seiner Schöpfung. Er erschuf uns „männlich und weiblich“, steht in der Bibel, diese genauere Übersetzung ist mittlerweile unumstritten. Dieses „und“ steckt in jedem von uns, da bin ich sicher. Man kann es annehmen, ohne sich dafür zu schämen. Die Gesellschaft ist nicht soweit? Dann muss sie es endlich werden. Zeit dafür ist längst.

(Geschrieben im flauschigen Bademantel beim Flackern einer Duftkerze der Note „Sandelholz-Patchouli“. Immerhin: Der Mantel ist dunkelblau — darauf ein Bier aus der Flasche!)

Sommerahnung

Es ist Mitte Juni und ich bin das erste Mal in diesem Jahr im Meer. Mit den Füßen. Dass weniger verfrorene Naturen wie beispielsweise meine Freundin schon ganz drin waren: Geschenkt. Für mich war es bisher noch entschieden zu kalt, denn der Sommer ließ sich extrem viel Zeit in diesem Jahr — als hätte die Pandemie auch die Jahreszeiten zum Stillstand gebracht.
Dabei geht es in Sachen Pandemie sogar seit einiger Zeit wieder vorwärts, in positivem Sinne. Die Inzidenzwerte sinken erfreulich, der Tourismus läuft wieder an, das ganz große Chaos blieb dabei aus. Dennoch bedarf auch das wieder einer gewissen Eingewöhnung, nach sovielen Monaten der Stille, und zumindest auf den olfaktorischen Beitrag zur sommerlichen Wiederbelebung der Barkhausenstraße — einer Mischung aus Schweiß, Sonnencreme und Fischfrittierfett — hätte ich gerne ganz verzichtet.

Direkt am Flutsaum, wo ich nun auf Tuchfühlung mit der noch kühlen Nordsee gehe, sind Lärm und Menschengerüche zum Glück noch weit weg. Es ist noch verhältnismäßig früh am Morgen und es sind erst wenige Menschen unterwegs. 
Am Strandübergang bei der Kirche turnt eine Kinderkurgruppe. Die Rettungsschwimmer beziehen ihre bunten Wachhäuschen und rollen die Fahnen aus.
Hier im Westen der Insel riecht das Wasser noch ein wenig schlickig und ist von graubrauner Farbe. Die See steht ruhig, die Brandung umspielt gerade einmal meine Knöchel. Je weiter ich nach Osten laufe, desto mehr stellt sich ein Urlaubsgefühl ein. Der Untergrund wird weißer, das Meer blauer. Erste Familien stellen ihre Strandmuscheln auf. Kleine Kinder, um Längen mutiger als ich, rennen begeistert in die Fluten; wachsame Elternteile hintendran. Wie schön das wäre, denke ich, jetzt auch einfach zur Gänze hiersein zu dürfen. Mit Kopf und Herz. Ohne Termine. Ohne Haushalt. Ohne Verflichtungen und ohne Sorgen: Urlaub auf Langeoog. Einst gehörte ich hier auch zu den Touristen. Mit einem leisen Erschrecken stelle ich fest, dass die Erinnerung an diesen Zustand schon beinahe verblasst ist — in meinem achten Inseljahr.
Das Feriengefühl durchströmt mich nur wenige wohltuende Sekunden lang. Dann aber wird mir klar, dass ich, wie immer während der Saison, nur mit den Füßen im Wasser bin. Meine Gedanken sind längst bei all den noch unabgehakten Kästchen auf der To-Do-Liste, mein Herz indes unter dem Dach eines Hauses, das ich bereits vom Strandübergang sehen kann, auf den ich nun zusteuere. Die Freundin ist krank und schaut mit ihrem Schniefnäschen elend unter der Decke hervor. Durch ihre Südfenster knallt eine unbarmherzige Sonne, die am Strand noch so wunderschön gewesen war. Auch das gehört zum Inselalltag dazu: Man hat hier eben nicht nur gute Zeiten. Aber man leidet zweifelsohne in schöner Umgebung.

Später am Tage gehe ich noch einmal zum Strand. Jetzt feiert auch die kurze Hose Premiere, die bald ein Jahr im Souterrain meines Kleiderschrankes vergraben war. Ich errinere, dass in meiner Kindheit manche ältere Leute noch „Spielhosen“ zu Shorts sagten, weil es diesen Anglizismus damals einfach noch nicht gab. Spielhose. Ich muss schmunzeln; schließlich steckt nicht weniger als ein 45jähriger darin. Andererseits gefällt mir der Begriff, denn er verleiht meinem Strandoutfit erneut diesen wohltuenden Hauch sommerlicher Leichtigkeit.
Es ist voll geworden. Strandkörbe und Schaukeln sind besetzt; ein Meer farbenfroher Strandzelte zittert im Wind. Ich muss lange warten, bis der Plankenweg am Strandübergang frei für ein Foto ist; die Kolonne von Urlaubenden, die mir wie auf einer Rolltreppe entgegenbefördert wird, ist lang und reißt kaum ab. Möwen kreisen über der Szenerie, der Himmel ist leuchtend blau.
Lediglich ein paar weiße Wolkenschleier künden von der prognostizierten Rückkehr zur Kälte heute Nacht. Ich kehre bald wieder um.

Entlang der Wanderwege haben sich die Kartoffelrosen in vornehm-samtiges Bischofspurpur gekleidet. Ihr Duft webt sich durch die Dünentäler, und über allem liegt der Gesang der Lerchen. Unzählige der zierlichen Vögelchen sehe ich in die Lüfte steigen, und abends singt hier, verborgen in dichtem, dornigen Gestrüpp, die Nachtigall.

Es war ein seltsames Frühjahr, beinahe würde ich sagen: Der Frühling 2021 fiel auf der Insel aus. Klar: Es gab ein paar sonnige Tage. Es gab blühende Bäume. Es gab aprikosenfarbene Morgen, an denen die Luft erfüllt war vom Gesang der Schwarzkehlchen und eine Ahnung von Sommer mit dem Meer um die Wette glitzerte. Aber die meisten Tage war es kalt und grau, und wenn es nicht grau war, war es trotzdem kalt. Sogar dann, als der Rest der Republik (und angrenzende Länder) bereits bei weit über 25°C buk. Mit eingeschalteter Heizung und unter einem Berg Daunendecken schaute ich mir das Foto eines Freundes aus Österreich an: Er stand lachend am frischbefüllten Pool in seinem Garten und hielt eine Hand ins Wasser; Sommersprossen und erste Bräune im Gesicht. Ich freute mich für ihn; dennoch kam es mir vor, als befände er sich in einem Paralleluniversum.

Doch nun ist das große Frieren wohl fürs Erste vorbei. Der nächste Kälteeinbruch währt nur kurz und die Sonne wird unbeirrt vom Inselhimmel leuchten. Vergnügte Kinder werden sich in den Wellen tummeln, Genervte Radfahrende sich auf übervollen Straßen anblöken; vor den Fischbrötchenbuden und Eisdielen wird es lange Schlangen geben und gierige Möwen werden mit ebendiesen Leckereien kurzen Prozess machen. Ich werde vielleicht irgendwann bis zu den Knien ins Wasser gehen; irgendwann, in irgendeiner dem Alltag abgerungenen Stunde. Die Freundin wird wieder gesund und in ihrem neuen Badekleidchen schon weit rausgeschwommen sein. Ich werde die auf ihrer Haut glitzernden, aber eiskalten Wassertropfen ebenso fürchten wie wunderschön finden. Sand auf der Decke, Sand in den Haaren, Sand überall. Ein strahlendes Lachen, zu warme Getränke und wärmendes Glück. Für einen Moment werden wir dabei aussehen wie ganz normale Urlaubende. Und wenn wir Glück haben, fühlen wir uns sogar so.

Momentaufnahme, Allein

Es ist ein einsamer Moment, wenn man erkennt, dass ein Freund kein Freund mehr ist. Vor einem liegt noch das Bilderbuch sonniger Tage ausgebreitet, alles ist warm, vertraut und schön. Das geteilte Leid, der gemeinsame Zorn, die Freude am Glück des anderen, der Stolz auf dessen Erfolge. Das verständnisvolle Lächeln, wenn er über die Strenge schlug, die Nachsicht und das Vergeben, wenn er Mist machte. Das warme, befreiende Gefühl, wenn auch er vergab. Wenn er einem Kritik nicht nur nicht krumm nahm, sondern sich sogar dafür dankbar zeigte. All das war so lange so selbstverständlich, so einfach. Nie hätte man gedacht, dass es so trostlos enden würde.

Wir hatten doch für alles Worte, denke ich, warum dann nicht für uns selbst? 
Verdient nicht auch eine Freundschaft irgendeine Form von „Schlussmachen“, mit der sich eben genau das machen lässt: Nämlich Schluss? Schluss mit Grübeln, Nachdenken, dem Drehen und Wenden von Erinnerungen. 
Was, in all den Jahren, war nun Lüge, was war Wahrheit? Früher hätte sich diese Frage gar nicht gestellt. Ich war sein Freund, weil ich glaubte, was er sagte.

Und dann steht man da und weiß plötzlich gar nichts mehr. Und es ist nicht einmal die physische Abwesenheit, die nach einem solchen Nicht-Ende am meisten schmerzt. Vielmehr ist mit dem erklärungslosen Verschwinden plötzlich alles in Frage gestellt, weil mit diesem kalten und einsamen Ausblutenlassen der Freundschaft plötzlich auch die Erinnerungen davonfließen, und alles, was man über den anderen zu wissen glaubte. Das Vermissen ist grässlich.

Plötzlich lodert Wut. Über die Chuzpe, mit der er diese Schneise der Verwüstung in den sorgsam gehegten, schönen, dichten Wald unserer Verbundenheit fräste; wie er quasi im Vorbeigehen Geborgenheit und Vertrauen in Trümmer legte, als wischte man Krümel vom Tischtuch. Und was, tobe ich innerlich, macht diesen Menschen eigentlich so sicher, dass ich mich nicht für diesen schnöden Abgang räche?
Die Antwort ist so schlicht wie endgültig: Weil ich sowas nicht mache. Weil für mich Denunzieren das Hinterallerletzte ist. Und weil er das weiß.
Für eine Sekunde bringt das das warme Gefühl der Verbundenheit zurück: Er kennt mich eben doch.

Aber ich könnte, oh wie ich könnte! Schau — in erneutem Aufwallen von Rage fliegen die Finger über die Tasten: Unwürdig. Unreif. Unchristlich. Unverschämt. Unbeherrscht, unverfroren, un-, un-, un- — Nein!
Ungeschehen. Das ist doch eigentlich alles, was ich will. Mach es ungeschehen. Alles auf Anfang. Dorthin, wo der Weg sich gabelte.

Komm zurück.
Mit der Delete-Taste gebe ich dem Blatt seine Unschuld zurück, während ich zusehe, wie sich die Zeilen rückwärts selbst fressen: Undone. Auf facebook kreist der Finger über „Unfriend“; ein entsetzliches neues Verb, dass es dieses Jahr sogar in den Duden schaffte: Entfreunden. 
Aber ich kann es nicht. Und ich will auch nicht.
Ich bin dein Freund.

„Ich will diesen Zorn nicht. Ich will der Sünde des Zorns nicht anheimfallen!“
Der Beichtvater nickt. „Der Zorn ist menschlich“, sagt er. „Auch die Rachephantasien. Ich habe sowas auch manchmal“, sagt der Mann, der müde an seiner Stola zupft und so gar nichts von einem Choleriker hat. „Jeder hat das. Beten Sie, wenn sie in dieses Gefühl fallen“, sagt er, „lesen Sie die Psalmen.“ „Ich hab ja nichts umgesetzt“, ergänze ich leise. „Dann sehe ich keine Sünde“, sagt der Pater. Plötzlich kommt es mir dumm vor, damit zur Beichte gegangen zu sein. Und den Einleitungssatz mit der Reue und Demut hatte ich auch vergessen.
„War’s das?“ fragt der Geistliche schließlich, schon halb von seinem Platz erhoben, als stünde ich in der Bäckerschlange und hätte nicht soeben das Elends-Scrabble meines Herzens vor ihn auf den Tisch geleert. „Glaub schon“, sage ich, während ich die Rippen der Heizung fixiere. 
Er spricht mich los und ich bin wieder allein mit alledem.
In der Kirche verspricht das schwachrot flackernde Licht die Anwesenheit Gottes. An der Westwand leidet der Heiland an seinem Kreuz.
Es tut weh.

 

14SEpt183