Gewitterstimmung am Meer

Eigentlich wollte ich ja frühlingshafte Inselmotive malen, aber leider bekomme ich nichts mit Sonnenschein und Himmelsblau hin, ohne dass es kitschig oder künstlich wirkt. Aber diese mystische Lichtstimmung — kurz vor einem Gewitter — gefällt mir ohnehin besser. Und sie passt auch besser zu meiner Prosa.

DIN A4, Ölpastell/Papier

Momentaufnahme, Weich

Der Himmel hat sich zu einem dramatischen Gelbgrau verfärbt. Aus düsteren Wolkenballen grollt Donner. Die nächsten Stunden regnet es, als solle alles und jeder von dieser Insel getilgt werden. Auch die Erinnerungen. Bald sind alle Menschen unter ein Dach geflohen. Langeoog gehört num den Regen, der Natur und dem scheidenden Jahr.
Etwas ungläubig sehe ich auf meinen arg ausgedünnten Wandkalender, heute ist der Gedenktag des hl. Jean de Brébeuf, der im 17. Jahrhundert mit einigen Gefährten unfassbar grausam zu Tode gequält wurde. Er ist Kanadas Nationalheiliger. Nun denke ich, zugegeben, beim Stichwort „Kanada im Oktober“ aber nicht ausschließlich an diesen Jesuiten und sein entsetzliches Schicksal, sondern auch an rauschende Wälder mit farbenprächtigem Laub, an glasklare Flüsse und weite Landschaft; an majestätische Bergmassive, gebettet in die erhabene Einsamkeit schlafender Nadelwälder. Ich war nie dort, aber die Herbstlandschaft meiner Träume kommt diesem Ideal sehr nahe. Ebenfalls sehr nah dran ist aber auch der Inselherbst, den ich Jahr um Jahr vor meiner Haustür erleben darf; allem gelegentlichen Gewitterdrama zum Trotz. Nicht umsonst spricht man hier, in Anlehnung an den kanadischen „Indian Summer“, auch vom „Frisian Summer“, wenn sich der Queller in den Salzwiesen tiefrot verfärbt, überall Sanddorn und Hagebutten leuchten und das Dünengras mit dem Gold der Abendsonne um die Wette glänzt.

Als ich am Nachmittag das Haus verlasse, liegt über dem Höhenweg leichter Dunst. Ein Fasan schreitet über das regennasse Pflaster. Auch von seinem Gefieder perlen noch einzelne Wassertropfen. Als er mich wahrnimmt, marschiert er etwas schneller, fliegt aber nicht auf. Ich warte ein wenig, bis der schöne Vogel in der Vegetation entlang des Pfades verschwunden ist und setze meinen Weg fort. Für mich gibt es kaum ein schöneres Herbstmotiv auf Langeoog: Weiches Licht, neblige Morgen. Menschenleere Wege, die maximal ein Fasan kreuzt, mit aller Farbenpracht des Herbstes in seinem Gefieder. Ein milchiger Sonnenball, der sanft die kürzer werdenden Tage beleuchtet. Die Stare sind schon fast alle wieder fort, dafür kommen die Wintergäste: Sanderlinge, Schneeammern. Die Insel bettet sich zur Ruhe, ungeachtet des noch immer regen Gästetreibens.

Das Meer ist heute bleigrau und ich frage mich, wie der ostfriesische Himmel es schafft, sogar diese, eigentlich doch recht triste Farbe zum Leuchten zu bringen. Aber er schafft es, und ich berausche mich an dem Anblick, als sähe ich all das zum ersten oder zum letzten Mal. Ich betrachte die langsam heranrollenden Wellen. Selbst das sich überschlagende Wasser erinnert heute eher an einen kostbaren Stoff, den ein Dekorateur mir ruhiger, versierter Hand zu Volants legt, als an eine potentiell todbringende Urgewalt. Nur noch wenige Strandkörbe und Spielgeräte zeugen vom zurückliegenden Sommer.

Mit dem Nachlassen des Regens füllen sich Strand und Wege wieder; es sind Herbstferien. Nach vielen Wochen, die ich größtenteils allein in der Wohnung verbrachte, bin ich diese Menschenmassen nicht mehr gewohnt, mit all ihren lauten Geräuschen und der Unberechenbarkeit ihres Durcheinanderwuselns. Umso dankbarer bin ich dafür, mit welcher Behutsamkeit mich die Natur an diesem Tage empfängt. Die Insel und ich, wir brauchen wohl beide eine Pause vom Drama.

Momentaufnahme, Roh

Meinen Reifen hat es zerlegt. Nicht schon wieder, denke ich, als ich nur wenige Meter hinter dem Haus mit dem Fahrrad hart über das Klinkerpflaster zu hoppeln beginne und den Platten entdecke. Entnervt schiebe ich das Rad heim und mache mich zu Fuß erneut auf den Weg zu meinem Ziel. Später inspiziere ich den Schaden. Vermutlich hat es den Schlauch dieses Mal sogar aus Altersschwäche zerlegt, aber es gab schon andere Zeiten. Und andere Gründe.

Ich kann nicht zählen, wie oft mein Reifen schon platt war. Und wie oft deutliche Messerstiche die Ursache waren.
Klar, mag man denken, das gab es zu aller Zeit. Wo Menschen sind, sind Gewalt und Vandalismus. Wo aber, frage ich mich, verläuft der Grat zwischen jugendlichem Grenzenaustesten und dem Grundstein zu einer lebenslangen Gewaltneigung?
Fachleute der Jugendpsychiatrie könnten das sicher recht schnell beantworten; ich indes denke mit Grausen an eine Szene vom Vortag zurück:

Ich trete nach der Messe, heiteren Gemüts, aus der Kirche und richte den Blick zunächst auf die wunderbaren Rosen unweit des Gotteshauses. Dann blicke ich in den Lauf einer Waffe, direkt auf mich gerichtet, in den Händen eines dicklichen Teenagers; fast noch ein Kind. Natürlich erkenne ich sofort, dass es ein Spielzeug ist, aber die Dreistheit, mit der da ungerührt „Passanten erschießen“ gespielt wird, lässt mich doch etwas erblassen. Ich setze meinen Weg möglichst unbeeindruckt fort; der Junge drückt noch zweimal ab. Ich bedenke ihn wortlos mit einem Blick, der ihm beim nächsten Abdrücken alle Qualen der Hölle verheißt. Ein eher zierlicher blonder Junge, der daneben steht, sagt „Moin“ und blickt leicht eingeschüchtert zu mir hoch. Wiewohl der Gruß inmitten dieser Szenerie etwas Absurdes hat, nehme ich die verlegene Höflichkeit wohlwollend zur Kenntnis und grüße zurück — nicht ohne dabei zu wünschen, das vernichtende Lippenkräuseln einer Meryl Streep zu beherrschen: The Devil wears Barbour.

Wenig später setzt sich die Bande wieder in Bewegung; ich höre den dicklichen Jungen, der entweder der Anführer ist oder es gern wäre, rufen: „Da ist ja auch der Kiosk, den wir überfallen werden!“ Ich denke an die nette Inhaberin dieses Büdchens, die ich gerne mag, und verfluche das Kind jetzt wirklich ein wenig. „Nee“, ruft eines der anderen Kinder, „wenn, dann überfallen wir einen Ort, wo echt Geld ist. ‚Ne Bank oder eine Tankstelle oder so.“
Zauberhaft, meine angeblichen späteren Rentenzahler, denke ich seufzend: Ob Einkommen aus Überfällen da wohl auch miteinberechnet wird? Hinter mir knallt es noch ein paar Mal aus dem Spielzeugrevolver: Wenigstens stürbe ich direkt an der Kirchenmauer, wenn er echt wäre.

„Hast Du nie Räuber und Gendarm gespielt? Oder als Kind Waffen gebaut?“ fragt mich der Freund, dem ich im Anschluss davon erzähle. „Natürlich habe ich das“, antworte ich, „aber immer eingebettet in ein klar erkennbares Rollenspiel: ‚Stehenbleiben, Polizei!‘ — sowas halt. Oder Burgfräuleins retten als Ritter; ein Ast diente dabei als Schwert.
Aber ich erinnere mich nicht, im Spiel je auf einen realen Menschen geschossen zu haben: Auf jemanden, der nicht ebenfalls eine Rolle spielte. Und ich erinnere auch keinen auf blanker Zerstörungswut basierenden, vorsätzlichen Vandalismus — vom unbeabsichtigten Zerstören von Dingen durch Anfälle vermeintlicher Kreativität oder schlichter Tollpatschigkeit soll hier nicht die Rede sein.
„Die Menscheit verroht“, räumt schließlich auch der Freund ein; wir sind beide müde.
„Sieh dir doch nur die Kommentare im Internet an“, sagt er, „und bei jedem Mist wird heute ein Messer gezückt, wo es früher maximal einen Tiernamen für gegeben hätte.“
Uns ist nicht wohl um diese Jugend.

Draußen senkt sich die Dunkelheit auf die Insel und lässt das leuchtende Grün meines gemeuchelten Fahrrads allmählich verblassen. Auf einem Holunderstrauch sitzt ein Bluthänfling; auch er sieht aus wie das Opfer eines Messerangriffs.

Die Menschen haben zu wenig Worte, denke ich. Niemand liest mehr gründlich, oder liest überhaupt. Niemand hat noch Lust, mehr als eine Tweetlänge zu schreiben. Es wird nur noch ins Wort gefallen statt zugehört; ich schaue deswegen schon lange keine Fernsehdebatten mehr. Und allerorten faseln die Leute von Dialog und preisen sich als TeamplayerInnen — um dann ins Beleidigen, Mobben oder Schweigen zu verfallen, wenn nicht das kommt, was sie hören wollen oder wozu schon einfache Antworten parat liegen. Rührt vielleicht auch daher die zunehmende Gewalt? Dass Fäuste und Waffen da zum Einsatz kommen, wo der Wortschatz abnimmt, wo die Fähigkeit zum zivilisierten Verbalduell, zum gepflegten Disput — früher eine Art Kulturgut! — abhanden gekommen ist?
Oder ist es gar die zunehmende Bedeutungslosigkeit christlicher Tugenden wie Nächstenliebe, Nachsicht, Barmherzigkeit, die einem immer mehr als Schwäche ausgelegt werden? Ich weiß es nicht. Aber ich bin dieser Rohheit überdrüssig.

Hinter dem Meer versickert nun der letzte Streifen pastellfarbener Dämmerung; die Wolken haben sich zu bedrohlichen schwarzen Haufen zusammengeballt. Blitze durchzucken die Dunkelheit. Dann kracht ein gewaltiger Donner, binnen Sekunden gefolgt von rauschendem Platzregen.
Auch der Himmel ist heute auf Krawall gebürstet über Langeoog. Und ehrlich gesagt, erstaunt mich das wenig.

 

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Momentaufnahme, Drama

Und dann war es plötzlich wieder da, an einem dunstigen, gewittrig-feuchten Spätsommertag. Es sprang einen an wie ein irgendwo im Gesträuch lauerndes Tier, wild und gnadenlos, während sich eine riesige Gewitterwolke über dem Strand ballte, der bis vor wenigen Minuten noch zartblau überdacht worden war. 
Ich fühlte das Wegreißen des dünnen Schorfs wie durch einen kurzen Krallenhieb, zu schnell für irgendeine Reaktion; zu plötzlich, um gleich zu schmerzen. 
Der warme Regen fiel in ersten, dicken Tropfen. Weich, süß. Das Blut rann warm und zäh. 
Ich saß im Strandkorb und vermisste.

So lange nun schwieg er schon. Aber egal, wie unsere Freundschaft endete, dachte ich, während der Himmel auf den Sand weinte, du warst der beste Freund, den ich je hatte.
Ich dachte an seine treuen braunen Augen und daran, dass er mir nie das Gefühl gegeben hatte, irgendeine Mitleidsnummer zu sein oder ein Zeitvertreib. Und auch wenn wir gleichermaßen eloquent waren, gleichermaßen belesen, herrschte nie irgendein Wettbewerb zwischen uns. Im Gegenteil: Wir schenkten uns gegenseitig Worte wie andere Menschen sich Pralinen, Tausende von Seiten lang. Mehr als zwei Jahre lang. Jeden Tag.
Und nun ist da diese Stille und dieses Band, das nicht reißt. Seine Bücher in meinem Regal und die schöne Postkarte, die ich noch immer als Lesezeichen benutze.
Es ist wohl zu früh.

Doch mit dem Nachlassen des Regens verschwand auch das Vermissen. In kurzer, heftiger Anflug von Traurigkeit, dann war es wieder vorbei.
Er hat so viele Meere gesehen, denke ich, als ich mich aus dem Strandkorb erhebe, was nützt es, dass ich nun auf das meine starre und an ihn denke, immer noch. Mein Meer war grau und langweilig, als wir zusammen darauf sahen, gefühlte Äonen her. Sein Hund trottete durch den Flutsaum, roch hier und da an einem Krebs. Er ging als Fremder.

„Das ist die Liebe der Matrosen“ summt mir irgendeine zynische Stimme den alten Schlager ins Ohr. Und dass man es hätte gleich wissen können. Dass dieses wie auch immer geartete Verhältnis gar nicht erst hätte sein dürfen. Dass Kunst noch lange keinen Alltag macht. Aber was wäre das Dasein ohne Kunst, ohne Menschen, mit denen man sich Gedichte schicken kann; Menschen für die die See eben nicht nur eine große Ansammlung von Wasser ist. 
Er hatte das Meer in seiner Seele und war ihm in so vielen Dingen gleich: Unberechenbar, nicht zu greifen, punktuell überraschend kalt. Und dann wieder so tief und unergründlich, so heimatgebend und so schön. Eine Welt, die es sich immer wieder zu entdecken lohnte, gerade weil ich wusste: Ich werde nie fertig damit.

Nach dem Schauer bricht wieder Sonnenlicht durch die Wolken, die jetzt wieder strahlendweiß sind und in harmlose, kleine Flöckchen zerfallen. Die Menschen öffnen ihre Jacken und verlassen den Schutz ihrer Strandzelte. Am Horizont kreuzt ein Schiff der Küstenwache. Das Gefühl verweht, aber ich weiß, dass es mich noch eine Weile umfloren wird wie ein Trauerkranz. Es ist schwer, aufzugeben.

Zu schnell ist alles Vergangenheit. Die Zeit heilt, sagt man, aber ich glaube nicht, dass das auf Liebe oder auch nur auf eine innige Zuneigung zutrifft. Warum sonst sollte man sich in der Kirche ein „Für immer“ versprechen, in guten und in schlechten Tagen, bis das der Tod uns scheidet? Ich glaube an diese Ewigkeit. Ich glaube daran, dass es ein „Für immer“ geben kann, auch wenn es nur selten von gegenseitiger Dauer ist. 

Und dann ist da immer einer, der zurück bleibt mit seinem Teil von Ewigkeit und nicht weiß, wie er das abkürzen soll.
„Gott, hilf mir tragen“ betet man dann vor dem eisernen Kerzenständer unter den Blicken der Gottesmutter, dem Kerzenständer, an dem man so viele Lichter für ihn entzündete. Das Kerzenlicht leuchtet weich und warm wie der Regen; wie die Umarmung, mit der sie das Jesuskind hält.
Und man hofft, dass der HERR die Welle schickt, welche das Gefühl der Ewigkeit des Meeres übergibt und einem das Herz, sauber gewaschen, mit sanfter Dünung zurück ans Ufer legt.

 

Dunkel und Hell

Aufreißende Wolken nach dem Gewitter
enthüllen das Blau
überm silbernen Meer
Möwen entsteigen dem Schlick
in strahlendem Weiß

Schön und ruhig, gänzlich unbefleckt
mit tödlicher Absicht
trachtend, watend, spähend
liegt ihr berechnender Blick
auf argloser Beute