Lichtreserve

Es regnet seit Tagen. Über der Insel liegt Novemberdüsternis und fast unbemerkt hat sich der Erste Advent mit seinem Kerzenreigen dazwischengemischt. Auf den nassen Straßen ist niemand. Vereinzelt blakt eine Lichterkette gegen die Dunkelheit an. Viele Häuser sind jetzt wieder unbewohnt, dort leuchtet nichts. Ich selbst habe lange überlegt, ob es sinnvoll ist, überall in der Wohnung an Strom und Heizung zu sparen und dann die menschenleere Inselnacht mit Adventsdekorationen zu illuminieren. Aber dann habe ich doch die Lichterkette aus dem Schrank gekramt und sie mit klammen Fingern durchs Efeu gewoben und um mein pieksendes Wacholderbäumchen gewickelt. Ist mein Wohnviertel ohnehin schon als „Geisterviertel“ verschrien, weil hier im Winter fast niemand wohnt, so will ich zumindest nicht selbst zum Geist werden und trotz physischer Anwesenheit in der Seelenlosigkeit, die die verwaisten Häuser und Ferienwohnungen atmen, untergehen. Jedenfalls leuchtet es jetzt trotzdem bei mir und irgendwelchen Berechnungen zufolge machen die paar LED-Lämpchen das Sparschwein auch nicht viel magerer, als es eh schon ist. Ein komplett lichtloser Advent würde dagegen noch an ganz anderen Reserven zehren. Auch was diese betrifft, ist es zurzeit nicht einfach; die Depression liegt stetig auf der Lauer und lässt sich nur noch schwer einhegen. Medikamente sorgen dafür, dass der schwarze Hund weitgehend eingesperrt bleibt, aber man darf ihn nicht aus den Augen lassen, denn dann schiebt er sofort seine gierigen Krallen unter der Zwingertür hindurch. Die Düsternis auch am Tage, der ewige Regen und eine Dämmerung, die bereits kurz nach 15 Uhr in den grauen Himmel sickert, macht die Sache nicht besser. Und so stelle ich täglich den Wecker, obwohl ich das nicht müsste, um nicht zuviel vom ohnehin spärlichen Tageslicht zu verpassen, setze Seele und Netzhaut dem mit Glück etwas hellerem Lichtstreif überm Meer aus, atme die aerosolhaltige Luft, schaue Möwen, Sanderlingen und Schneeammern zu und versuche, so irgendwie diese dunklen Tage zu überstehen ohne größere Blessuren. Mein Vogelhaus auf dem Balkon beschert mir zwar eine Menge zusätzlicher Putzarbeit (wer frisst, kackt auch ordentlich), bringt aber auch eine Menge wohltuendes Leben auf die Bude. Sogar ein Zaunkönig, über den ich mich immer besonders freue, kommt beinahe täglich vorbei. Dazu Meisen, Spatzen, Rotkehlchen, Drosseln. Ich stehe gerne am Fenster und schaue den Tieren zu. Wie sehr sie sich über das Wenige freuen. Auch wenn es unter ihnen natürlich auch eine Menge Streit um die Knödel gibt.

Streit ist auf der Welt rund ums Vogelhaus noch zur Genüge. Auch das lässt mich nicht wirklich los; es ist immer noch Krieg in der Ukraine, aber die Solidarität und das Mitgefühl nehmen spürbar ab, erschreckenderweise sogar im Bekanntenkreis. Die Ukrainer könnten das doch beenden, wenn sie verhandelten, heißt es. Aber was gibt es bei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu verhandeln? Diese Leute sitzen in ihren warmen Wohnzimmern und ich frage mich, wenn jetzt ein Einbrecher dort einmarschierte, würden diese Leute dann allen Ernstes anfangen zu verhandeln, damit der Überfall schneller vorbei ist? Den Kronleuchter ja, das Bild nein. Nein?
Und hätte ein Einbrecher da überhaupt Interesse dran? Zumindest wohl keiner, dem es um die ganze Immobilie geht und nicht nur ums Porzellan. Ich höre mir diesen Mist meist widerstandslos an, mir fehlt die Kraft, oft bin ich auch einfach feige, weil ich die Leute eigentlich mag oder zumindest mal mochte. „Mit dem Adolf hätten sie damals auch nicht verhandeln können, als er in Polen einfiel“, fällt mir vielleicht noch ein, aber spätestens, wenn sogar dazu noch Relativierungen kommen, hat mein Heldentum ein Ende. Es ist zwecklos.

Dieser Tage fällt es schwer, das Licht des Advents zu entdecken. Natürlich, in der Kirche hängt der Kranz und die Gemeindechefin sorgt auch dafür, dass die Adventskerzen dauerhaft leuchten. Hinzu kommen die Opferkerzen, die noch immer — auch um diese Jahreszeit — in erstaunlich großer Zahl entzündet werden. Im Fürbittbuch herzzerreißende Einträge, viele voll Trauer mit der Bitte um Trost. Etliche kirchliche Nachrichtenportale bemühen sich um frohe Botschaft dieser Tage, betonen die Wichtigkeit von Hoffnung als Kern des Glaubens. Die Hoffnung darauf, dass SEIN Licht immer da ist, auch wenn wir es kaum noch zu erkennen glauben. Ich glaube daran, aber es ist trotzdem manchmal anstrengend, danach Ausschau zu halten, und man muss viel Schutt in der Seele und um sich herum beiseiteräumen, um Zugang zum Licht zu bekommen. Ich weiß, dass es da ist, und dass man jederzeit Herz und Hände daran wärmen kann. Dennoch ist das an manchen Tagen mühsamer als an anderen: Kälte draußen, Kälte in der Gesellschaft. Und irgendwo ganz weit drinnen ein einziges, kleines, aber lebenserhaltendes Licht.

Die vielen Adventsfeiern, die ich beruflich besuchen muss, tun ein Übriges dazu, dass bei mir keine rechte Stimmung aufkommen kann, denn zu sehr verknüpfe ich Glühwein- und Plätzchenduft und dekoriertes Tannengrün inzwischen mit Arbeit. Die Freundin und ich versuchen uns Lichtinseln zu schaffen, in dem wir Kurzurlaube planen; einen Ausflug zum Weihnachtsmarkt auf dem Festland, einen Zoobesuch. Irgendwas, an dem wir uns, die Vorfreude wie ein Tau nutzend, durch die trübe Zeit hangeln können. Wenn mich in der dunklen Umklammerung des Winters die Enge meiner Wohnung zu ersticken droht und klamme Feuchtigkeit in alle Ecken zieht, versuche ich mir vor Augen zu halten, wie verdammt privilegiert ich allein durch das Vorhandensein von fließendem Wasser und Strom, sei er auch noch so teuer, bin; zumindest im Vergleich zur gesamten Weltbevölkerung. Wir jammern hier ja durchaus auf hohem Niveau, das ist schon richtig. Also will ich nicht undankbar sein, denn immerhin, und auch das ist mir beständiger Trost, habe ich ja noch die Weite des Meeres um mich und zumindest Richtung Osten die nahezu unberührte Natur der Dünenlandschaft und der Salzwiesen. Der Wetterbericht verspricht noch wenig Hoffnung auf hellere Tage, aber auch die werden kommen, sie kamen ja immer.

Wie merkwürdig hingetupft dieser letzte Satz klingt, denke ich. Wie ein unachtsam verprengter Farbklecks. Weil man irgendwann mal gedacht hat, dass die Leute nichts lesen wollen, was nicht zumindest mit irgendeinem Hoffnungsschnipsel endet. Vielleicht sollte man den Leuten aber auch einfach mehr zutrauen. Oder, zumindest manchmal, auch bewusst eine Zumutung sein.

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Allen Leser:innen wünsche ich eine gesegnete Adventszeit mit möglichst vielen Lichtinseln!

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Furcht

Irgendwo in den Tiefen des www freut sich jemand über seinen baldigen Umzug nach Langeoog. „Herzlich willkommen“, schreibe ich. „Der Inselkoller kommt schon noch“, unkt jemand anderes. Ich ärgere mich über diese Miesmacherei, erinnere ich mich doch gut an die Euphorie der ersten Inseltage. Kann man das jemanden nicht einfach mal gönnen? Zugleich ziehe ich innerlich Bilanz. Hatte ich ihn wirklich nie, diesen berüchtigten Inselkoller, der laut des Kommentierenden ja zu kommen hat wie das brühmte Amen in der Kirche? Die Antwort ist auch nach acht Jahren auf Langeoog ein rundum überzeugtes Nein.
Zweifelsohne gibt es Momente, in denen es nervt, nicht jede Einkaufsoption und nicht jede kulinarische Richtung an Restaurants verfügbar zu haben; keine Auswahl an Kinos, keine größere Bandbreite Kleinkunst, keinen Botanischen Garten und keinen Nadelwald.
Aber ein Gefühl der Enge, des Eingeschlossenseins oder gar der Langeweile? Nein. Enge sind für mich graue Häuserschluchten; verloren fühle ich mich in den blinkenden, lärmenden und nimmermüden Straßen einer Großstadt; einsam in anonymen Menschenmassen. Weite geben mir das Meer, die vom späten Sonnenlicht vergoldete Dünenkette, die Zugvogelschwärme im Frühjahr und Herbst. Die Stille im Winter, wenn man am Strand nur das Knacken der dünnen Eisschicht unter den Schuhsohlen, den Wind und das Zwitschern der Schneeammern hört, gibt mir Seelenfrieden. Auch dass die besten Freunde Hunderte Kilometer entfernt leben, empfinde ich nur gelegentlich als Fluch; viel öfter aber als Segen. Schließlich ist die physische Distanz ein Garant dafür, dass man bei diesen Freunden unzensiert über die Undelikatessen des Insel-Alltags reden kann, weil sie kein Teil des Langeooger Mikrokosmos sind und man nicht erst Nachforschungen anstellen muss, wer mit wem alles verwandt ist und ergo befangen sein könnte. Es ist ein schönes Leben.

Trotz allem möchte ich ein Insulanerdasein nicht pauschal empfehlen, denn es ist wohl vor allem eine Typfrage, ob man auf Langeoog dauerhaft leben kann oder nicht. Oder eine Frage der persönlichen Bindung an die Insel, denn wer hier quasi schon immer lebte oder viel Familie vor Ort hat, hat natürlich noch einmal einen ganz anderen Bezug (und einen anderen Alltag) als jemand, der neu hinzukommt und sich erst einmal durch das Dickicht gesellschaftlicher Verflechtungen und Tabuthemen fräsen muss, bevor er oder sie überhaupt seinen eigenen Platz finden kann. 
Was ich jedoch pauschal empfehlen kann, ist, sich Neuem ohne Angst zu stellen und an seinen Träumen festzuhalten. Es lohnt sich. Sofern sie nicht in Leichtsinn umschlägt, lohnt sich Furchtosigkeit eigentlich immer. Sei es bei einem Insel-Umzug oder in der Liebe.

Meine Liebe ärgert sich gerade über eine querfliegende Haarsträhne, als ich mit ihr an den Strand eile, um den letzten Rest Sonnenuntergang einzufangen. Die Luft ist weich und warm; die Priele füllen sich mit glitzerndem Wasser und über allem liegt der Dunst eines Spätsommertages. In der Nähe ankert ein hell erleuchtetes Arbeitsschiff, und ich denke an die Leute, deren Übergangsheimat nun dieses Schiff ist. Vielleicht essen sie gerade, machen ein Spiel oder unterhalten sich irgendwo in den engen Räumen; vielleicht sucht auch jemand Luft und Ruhe an der Reling und schaut auf den Strand, so, wie ich jetzt auf dieses Schiff schaue. Und dann steht da dieses Pärchen am Wasser, eins von vielen, und das sind wir.

In diesem Jahr hat sich auch die Natur ein gutes Stück Strand erobert. Büschel von rosablühendem Meersenf spießen zwischen den Strandkörben und ich bin froh, dass sie niemand untergepflügt hat. Dass es oft gut ist, Dingen einfach ihren Lauf zu lassen, zeigt sich aber nicht nur am Meersenf. Denn auch die Frau an meiner Seite wäre nicht ebenda, wenn wir uns auf das Wagnis „Zweisamkeit“ nicht eingelassen hätten. Und die Versuchung, es einfach wieder zu lassen, war groß. Zu sehr hatten wir uns im Alleinsein eingerichtet; zu schlecht waren frühere Erfahrungen mit der Einsamkeit zu Zweit. Und ich muss zugeben, dass die Angst vor diesem Wagnis wesentlich größer war als die vor dem Umzug nach Langeoog, denn hier gab es keinen Plan B und keine Probezeit. Auf die Liebe, das war mir klar, müsste ich mich in diesem Fall ganz einlassen — oder gar nicht.

Den Verlobungsring meiner Freundin ziert ein kleiner Stern aus Brillantsplittern, und ich mag es, wie sein Glitzern wiederum viele kleine Sterne erzeugt, ebenso wie die Wellen im Priel, die das Sonnenlicht spiegeln. Ein Leuchten und Funkeln, obwohl darunter und drumherum soviel Dunkelheit ist, soviele Gefahren — und soviel, von dem wir nichts wissen und das uns wohl immer fremd bleiben wird. 
Die Tage durchforsteten wir die Bibel nach einem Trauspruch, denn auch wenn uns unsere Kirche schmerzlicherweise das Sakrament verweigert, soll uns doch zumindest eine kleine, private Segensfeier vor Gott einen. 
„Furcht gibt es in der Liebe nicht. Die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht“, heißt es im Johannes-Evangelium, und wir wussten sofort: Der ist es.

Furcht ist, das kann ich wirklich bezeugen, fast immer ein schlechter Ratgeber, und das sage ich als jemand, der eigentlich alles andere als risikofreudig ist, der Rückzugsräume braucht und immer etwas, das Halt und Heimat gibt. Wo aber genug Liebe ist — die zum Meer, die zu einem Menschen — da ist die Furcht nicht. Und sollte sie sich doch einmal wieder als brummendes Hintergrundgeräusch bemerkbar machen, so lässt sie sich trefflich vom Seewind übertönen.

Mai

Schon wieder muss ich den Wandkalender umblättern. Es ist Mai; das neue Blatt zeigt blühende Kirschbäume. Es fühlt sich nicht an wie Mai. Seit Wochen kletterte das Thermometer nicht über 10°C; kein Abend, an dem mir nicht die Fingergelenke vor Kälte schmerzen und ich nicht in Decken gewickelt im Büro sitze. Die Heizung meiner kleinen Räume kommt gegen die in den Wänden festsitzende Kälte des Hauses nicht an, in dem alle Wohnungen außer meiner seit Monaten leerstehen. Vor der Heizkostenrechnung graut mir jetzt schon. Aber es ist nicht nur die meteorologische Kälte, die mich dieser Tage erschauern lässt. Der Ton im Netz ist von einer Verrohung, sozialdarwinistischen Brutalität, Missgunst, Neid und Häme geprägt, die ich kaum noch ertragen kann; und zunehmend schwappt auch all das ins Analoge. In der Langeooger Lokalpolitik mehren sich die Unappetitlichkeiten, und es braucht sehr viel Gottvertrauen, um noch daran zu glauben, dass sich daran mit den nächsten Kommunalwahlen etwas bessert. Indes fallen mir außer „Exorzismus“ auch nicht mehr viele Lösungsansätze zu diesem Desaster ein, und der Rest der Welt ist auch nicht unbedingt ein Trost: Das Internet erwähnte ich ja bereits.
Dazu all die kleinen und großen persönlichen Dramen und Schicksalsschläge. Eine liebe Freundin weint um ihren Hund und ich mit ihr. Etliche sensible Seelen in meinem Kreis resignieren und ziehen sich komplett zurück: Depressionen, Ängste, Schlafstörungen, wohin man blickt und horcht. Mir Freund gewordene Geistliche sehen sich in den immer berohlicher brodelnden Sumpf von Missbrauch und Missbrauchsvertuschung hineingezogen: Generalverdacht, Sippenhaft, pauschale Verurteilung eines ganzen Berufsstandes; der Kirche rennen mehr Leute davon als sich Austrittsformulare drucken lassen. Mir selbst schwimmen die finanziellen Felle davon; die Preise für Lebenshaltung steigen ins Absurde, für meine Kunst findet sich keine Bühne, und kaum haben ein paar trotz Pandemie verkaufte Bilder oder Bücher das gröbste Loch gestopft, wird die nächste Rechnung fällig.
Natürlich bin ich noch immer vergleichsweise weich gebettet und darf zumindest an einem wunderschönen und weitgehend virenfreien Ort vor mich hinleiden, aber für etliche meiner Mitmenschen geht es dieser Tage wohl nur noch ums Durchhalten und Überleben statt um irgendwelche Maienwonnen.
Nichtsdestotrotz hat sich irgendjemand erbarmt und im Dorf die Laternenpfähle mit Kreppblumen geschmückt; vor einem geschlossenen Restaurant stehen ein paar Leute unter einem improvisierten Maibaum in einer improvisierten Normalität und lachen. Einen großen Maibaum gibt es in diesem Jahr nicht.
Was bleibt einem auch sonst. Und doch sind diese bunten Farbtupfer, ist dieses Lachen kaum mehr als ein Tropfen Wasser im Ozean. Die Pandemie ist noch längst nicht vorbei und alle anderen Seuchen und Pestilenzgestänke, die diese Zeit so mit sich — und auch auf die Insel bringt—, sind es auch nicht.

Meine Balkonblumen, bisher eine sichere Bank für farbenfrohe Lichtblicke noch im schietigsten Frühjahrswetter, sterben einsam vor sich hin. Es ist viel zu kalt, um draußen zu sein und oft vergesse ich sie deswegen einfach. Ab und zu sehe nehme ich Notiz von den bräunlichen Blättern, den hängenden Köpfchen. Dann denke ich, dass ich jetzt endlich was machen muss und mache es doch nicht. So ist es doch oft auch mit Freunden oder Verwandten, denke ich. Man hat sie ja schon lieb irgendwo und denkt, dass man sich morgen aber wirklich mal meldet, ein Lebenszeichen sendet, eine Frage nach dem Befinden, irgendwas. Und dann ist morgen schon wieder ein Jahr vorbei, in dem man es doch nicht gemacht hat, und dann stirbt der Verwandte oder der Freund hat sich schon längst innerlich verabschiedet. Vielleicht kommt noch irgendwas Höfliches zurück oder auch gar nichts, und die Welt dreht sich weiter.
Mir tun meine Blumen Leid. Aber ich kann ihnen auch keine Wärme bringen. Am Liebsten ist mir die Welt zurzeit mit zugezogenen Vorhängen.

Ich habe mir neue gekauft; sie sind nachtblau mit einem stilisierten Sternenhimmel darauf; sie vergrößern meine kleine Welt auf gewisse Weise, selbst wenn ich den Rest der Welt da draußen lasse. „Es gibt Vieles, das der Welt zurzeit die Farbe nimmt“, predigte unser Weihbischof dieser Tage, und tröstete im Anschluss mit der Heilsbotschaft und mit den Möglichkeiten, die wir als Christen dennoch haben, um Farbe zu bringen und Farbe zu sein. Ich bin wirklich froh, in dieser Zeit noch glauben zu können.

Tatsächlich stellte ich dieser Tage fest, dass in meinem Leben im letzten Jahr mehr Farbe eingezogen ist, als ich für möglich gehalten hatte; und nichts davon war geplant. Nach jahrelangem Zeichnen in Graustufen male ich jetzt mit bunten Kreiden, die ihre Leuchtkraft im Halbdunkel besonders eindrucksvoll entfalten. Und nach vielen Jahren, in denen mir zarte Streifen das Maximum an erträglichen Mustern waren, bedeckt nun ein farbenfroher ausgemusterter Sarong in Grün, Rot und Gold meinen Tisch und ich finde ihn wirklich schön. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ist es der Kontrast zur Farblosigkeit des Pandemie-Alltags; zur fehlenden Möglichkeit, Neues zu entdecken? Ist es die Sehnsucht nach einem echten Frühling, in dem die gleißende Sonne nicht nur wie ein Dekoartikel am preußischblauen Himmel hängt, sondern wirklich wärmt? Ist es das Verlangen nach dem Anblick aller Facetten kraftvollen Lebens statt der traurigen Realität halbwelker Blüten mit erfrorenen Rändern? Am Strandübergang wehen die Federreste eines ausgerissenen Möwenflügels im Wind, und kaum ein Symbol beschreibt die Lethargie dieser Tage wohl treffender: Flügellahm, am Boden, grau und leblos.

An der Kirche hat die Felsenbirne ihre zarte Pracht entfaltet, aber der Strandhafer ist noch gelb, das Grün blieb irgendwo auf halbem Wege stecken. „Ungefähr einen Monat hinkt die Natur hinterher im Vergleich mit meinen Fotos vom Vorjahr“, doziere ich der Freundin bei einem Spaziergang, auf dem wir mit kalten Nasen das Stagnieren des Frühlings betrachten. Vermutlich ist sie es auch, die mehr Farbe in mein Leben brachte, denke ich, während ich ihr puppenhaftes Profil mit dem winzigen Näschen und den rosigen, weichen Wangen betrachte. Als uns der Weihbischof von der farblosen Zeit erzählt, sitzt sie in einem leuchtend grünen Pulli neben mir. Im goldenen Kelch spiegelt sich das warme Licht der Altarkerzen, daneben liegt der violette Bischofspileolus. Der Herr ist mein Licht und mein Heil.

Vielleicht, denke ich, ist Liebe Farbe. Und vielleicht habe ich nun mehr Mut zur Farbe, weil auch diese Partnerschaft mehr Mut als cleanes Understatement erforderte. Und doch bin ich froh, es gewagt zu haben. Zweifelsohne war ich auch ohne sie glücklich und gut eingerichtet in meiner Welt, aber nun kenne ich auch noch eine andere Art von Glück. Und eine andere Art von Einrichtung. Und beides hat mich, deo gratias, nicht überrannt, sondern sich mit einer Sanftheit eingenistet, dass ich all diese Neuerungen mir zu eigen machen konnte. Es lag kein Überrennen darin, kein Überstülpen.
Und nun ist es wohl wichtig, sich auch von der neuen Zeit nicht überrennen zu lassen. Standhalten muss man gegen den Ungeist der Zeit; sich keine Rohheiten überstülpen lassen, keine Häme, und dem tumben Populismus den Weg versperren — Mit dem, was man eben so hat, kann und schafft. Für eine bessere Zeit. Für einen neuen Mai.

Halleluja

Es ist ein eisiges Osterfest. Sturmböen peitschen Hagel durch die Straßen, am Strand zeigt eine brüllende See ihr Drama vor leeren Rängen. Zwischendurch eine kurze Illusion von Frühling: Leuchtende Himmelsbläue, zart hingetupftes Wolkiges. Goldene Strahlen, die sich aus schwarzen Gewitterfäusten zwängen, bevor der nächste Platzregen einsetzt. Verirrte Schneeflocken tanzen über frierenden Narzissen. So geht das drei Tage lang, und eigentlich, denke ich, passt dieses Bilderbuch-Aprilwetter auch perfekt zum heiligen Triduum mit seiner Abfolge aus Erstarrung, Trauer, Leere, Hoffnung und Freude. Zum Spazierengehen hätte ich mir indes etwas anderes gewünscht, denn schön ist das Sauwetter nicht. Die Fotos für die Arbeit mache ich mit halb zugekniffenen Augen, immer auf der Hut, dass die Kamera nicht zuviel Sand frisst. Der Wind ist grob; er schubst und schlägt und zerrt an Allem. Heruntergehen zum Meer? Unmöglich. Kommt der Sturm von vorn, drückt es mir die Brust zusammen und ich kann kaum atmen. Selbst zu Fuß geht es nicht voran.
Auf den Bildern sieht es wildromantisch aus: Der tiefblaue Himmel mit seinen majestätischen Quellwolken. Dünenkämme, auf denen sich lauter kleine Sandwirbelstürme bilden, sodass es scheint, als würden sie dampfen. Und natürlich: Das Meer mit seinen gewaltigen Wogen, die sich teerschwarz unter sprühend weißer Gischt aufbäumen und an den Strand donnern. In den Herzen der Tourist:innen, die jetzt gerne auf der Insel gewesen wären, regt sich Sehnsucht: Ach, wie gerne würde man sich da jetzt die Seele freipusten lassen. Wie schön das raue Nordseewetter doch ist.
In der Tat hat das zweifelsohne seinen Reiz. Von drinnen betrachtet, mit einer heißen Tasse Tee.
Ich jedenfalls bin erst einmal froh, als die Kirchentür hinter mir zufällt.
Lumen Christi.
Deo gratias.

Die Osterkerzen leuchten warm; ein letztes Heulen des Sturms verklingt mit dem Einsetzen der Orgel: Halleluja, Jesus lebt!

Auf die Freundin und mich regnet Weihwasser zum Taufgedächtnis; rechtzeitig haben wir die Brillen abgesetzt und halten sie in den Händen. Der Priester zielt gut mit dem Aspergil. Es ist ein junger Mann mit Elan, dem man das Halleluja glaubt.
Und es ist gut, dass er da ist.

Das Licht durchdringt alles, und plötzlich kann man sie fast greifen: Die Hoffnung. Die Freude, die Zuversicht. Es wird eine Zeit kommen nach dem Virus — oder zumindest eine Zeit nach der Durchimpfung. Es wird weitere Osterfeste geben. Das nächste vielleicht schon ohne Masken. Oder mit Gemeindegesang. Und das übernächste ist dann vielleicht sogar wie vor Corona.
Die letzte Osternacht feierte ich allein mit dem Gotteslob und einer Kerze vor dem Rechner. Während unser Bischof tapfer im einsamen Dom vor der Webcam zelebrierte, pries ich den HERRN in schiefen Tönen. Aber das Haus war leer in der Pandemie, wen sollte das dann stören?

Es ist schön, dass es in diesem Jahr wieder Präsenzgottesdienste gibt, wenn auch unter strengsten Bedingungen und mit halbleeren Bänken. Fast unwirklich scheint jetzt die Erinnerung an die letzte Osternacht vor der Pandemie, in der die Kirche so voll war, dass wir sämtliche Notsitze an den Bänken ausgezogen hatten und trotzdem nicht alle Menschen sitzen konnten. Ich kniete recht unsanft auf dem Lüftungsgitter; den Rest der drei Stunden stand ich. Aber auch das sorgte für bleibende Erinnerungen.

„Frohe Ostern!“ ruft der junge Geistliche der Freundin und mir nach, als wir die Kirche verlassen. Seine golddurchwirkte Stola strahlt mit ihm um die Wette. Vor uns liegt die Schwärze der Inselnacht.
Am nächsten Morgen sitzen die Freundin und ich beim Osterfrühstück. Wir haben die Eier gemeinsam gefärbt, es ist unser zweites gemeinsames Ostern. Ich sehe sie an und kann gar nicht glauben, dass dieser Mensch nun schon so lange an meiner Seite ausharrt. Die Zeit rast, obwohl doch objektiv betrachtet kaum etwas passiert durch die Corona-Beschränkungen: Man kann nicht groß etwas erleben, nicht verreisen, sich nur mit einer kleinen Auswahl an Dingen ablenken. Natürlich machen wir schon Pläne für „Danach“: Suchen Unterkünfte, die längst noch geschlossen sind, planen Elternbesuche, Museen-, Zoo- und Einkaufsbummel; träumen von Reisen, die wir uns ohnehin nicht leisten können. Aber wir leben auch gut im Jetzt; genießen die leere Insel und die überschaubare Arbeitsbelastung. Es ist ein gutes Leben. Und wir hatten verdammt viel Glück.

Dieser Tage räumte ich meinen Posteingang auf; löschte jahrealte E-Mails von irgendwelchen Menschen, denen ich einst auf höchst ungesunde Weise verfallen war und noch mehr Mails, in denen ich mich bei Familie und Freunden über diese Menschen ausheulte; über all die Machtspielchen, die emotionale Erpressung und das Leid; all diesen toxischen Scheißdreck, den ich nie als solchen erkannt hatte. Der Fairness halber sei erwähnt, dass ich aber auch all den toxischen Scheißdreck, den ich selbst angerichtet hatte, selten als solchen erkannt hatte. Vielmehr wähnte ich mich stets als den allein aufrichtig Liebenden; als den einzigen, dem in dieser Beziehung Unrecht geschah; als den, den man für sein Lieben kurz über lang immer grausam bestrafte.
Nun aber, mit vielen Jahren bis Jahrzehnten Abstand, las ich all diese Sachen und schämte mich sehr. Wie sehr hatte ich mich ausnutzen, manipulieren, demütigen und bloßstellen lassen, nur damit mir jemand ein paar Krümel Anerkennung, einen Anflug von Zärtlichkeiten hinwarf oder mich überhaupt zur Kenntnis nahm? Von „Liebe“ mag ich gar nicht reden. Ich schämte mich dafür, wie bedürftig ich mich anderen gezeigt hatte — und wie nackt. Und wie oft ich selbst dabei Grenzen übersehen und übertreten hatte; im Verlangen nach Gegenliebe, die mir vermeintlich zustand, weil ich dafür doch alles getan hatte. Aber ein „Lieb mich gefälligst!“ funktioniert nicht. Liebe ist kein Imperativ. Man kann sich Liebe nicht erarbeiten, nicht verdienen. Liebe lässt sich auch nicht einfordern. Sie ist da oder nicht.
Und wie unspektakulär sich Liebe anschleichen kann, hatte ich bisher auch nicht gewusst.

Ich hatte immer auf das große Feuerwerk gewartet und dabei übersehen, dass eine sanft leuchtende Kerzenflamme viel länger Bestand hat. Kein Getöse, keine Flamboyanz. Doch nun sehe ich diese sanft leuchtende Flamme, und drumherum ist eine warme Stube aus Geborgenheit mit der Ahnung, das ich dort bleiben kann.
Ich muss nichts besitzen und nichts darstellen. Ich muss einfach nur sein. — Musste ich wirklich 45 werden, um zu begreifen, dass es Menschen gibt, denen das reicht?
„We’re just two lost souls swimming in a fish bowl“, habe ich Pink Floyd im Ohr, und vielleicht ist das auch so, aber auf jeden Fall schwimmen wir in noch immer in wohltuend ruhigem, klaren Wasser, das von dem Paket an Verletzungen, das wohl jeder in unserem Alter mit sich herumschleppt, nur selten getrübt wird.

„So, so you think you can tell
Heaven from Hell
Blue skies from pain
Can you tell a green field
From a cold steel rail?
A smile from a veil?
Do you think you can tell?“

— So geht das Lied weiter, und nein: I don’t think I can tell.
Man kann nur erahnen, wünschen, hoffen. Man muss vertrauen. Aber gerade das fällt oft schwer.

Tatsächlich komme ich damit zurück zur Osterbotschaft, denn auch die Jünger mussten vertrauen, dass Jesus wirklich auferstehen würde. Dass Leid und Tod überwunden würden. Qui tollis peccata mundi. Und dann gab es den ungläubigen Thomas, der erst in der Wunde herumstochern musste, um zu glauben. Und ich? Ich musste erst glauben, nein: wie Thomas begreifen, dass Christus tatsächlich auch mich nicht aus den Augen verloren hatte, dass er da war, dass ich bei IHM Trost und Liebe fand. Liebe, die ich mir nicht erst erarbeiten oder verdienen musste und die ER nicht als Almosen aus Mitleid oder als Leckerli fürs Gehorchen verteilte, sondern die er einfach so gab: Im Vertrauen; aus Vertrauen. Christus, dem ich nichts präsentieren musste, was ich nicht war. Und der mich gesehen und angesehen hatte, ohne dass ich mich dafür auf irgendeine entwürdigende Weise hatte entblößen müssen. Er sah mich an, bevor ich es selber konnte. Damit ich es konnte.

„Sehen Sie sich in erster Linie Mal als Christ, dann erst als Katholik“, sagte einst ein Beichtvater, als ich im Kontext mit „Liebe“ mal wieder mit dem Lehramt haderte, „denn Liebe kommt immer von Gott. Egal, wo — und bei wem — sie uns trifft.“ Was man dann daraus mache, könne zwar von Gott entfernen — hier verwies er auf die ignatianische Unterscheidung der Geister —, aber die Liebe als solche? Das Empfinden von Zuneigung, Schmetterlinge im Bauch, die Freude am anderen, dem anderen eine Freude sein? Göttlichen Ursprungs, immer.

Und doch bleibt die Liebe wohl ein Geheimnis, dem man sich mit dem menschlichen Verstand nicht nähern kann. Man muss vertrauen: auch hier.
Man muss vertrauen, dass weder Gott noch die Freundin eine Kartei nach Flensburger Vorbild führen; mit der Liebe als „Lappen“. Zuviele Sündenpunkte? Lappen weg, Liebesentzug, wochenlanges Anschweigen und das Bettzeug auf dem Sofa. Und ja, ich hatte solche Beziehungen: War Schrott, um bei den Auto-Metaphern zu bleiben.
Dass Gott keine derartige Kartei in Flensburg führt, durfte ich inzwischen überreichlich erfahren. Mit Vorsatz durchs Leben pflügen wie die berühmte gesengte Sau sollte man natürlich trotzdem nicht.
Und die Freundin? Hat gerade anderes zu tun. Sie entzündet die Osterkerze, die wir in der Kirche geschenkt bekamen. Ich sehe den warmen Widerschein der Flamme in ihren Pupillen und Brillengläsern.
Lumen Christi.
„Unser zweites Ostern“, sagt sie. Ja, sage ich: Zu ihr. Zu Gott. Zu uns.
Deo gratias.

Das bisschen Sonne

Das bisschen Sonne
vor dem Frost
vermag nicht recht zu wärmen

Die Zeit rast
und doch
steht noch so Vieles still

Das Herz wird matt
vor Sorge
um Menschen und Welt

Ein Trost ist mir
das Licht
das trotzdem scheint


(MDO Januar 2021)

Band 7 ist da!

Moin,

wenn die Corona-Krise, vegane Hipster-Kondome, der Morallimbo von Donald Trump, die heilige katholische Kirche, Langeooger Insel-Klüngel und die atemberaubende Schönheit des Wattenmeeres zusammen in einem Prosa-Band vorkommen, ahnen geneigte Leserinnen und Leser schon, worum es geht: Richtig, ein neuer Band „Momentaufnahmen“ ist erschienen. Die Geschichten aus diesem Jahr wurden zwangsläufig vom Thema „Virus“ geprägt, es gibt aber auch — wie gewohnt — leichte Plaudereien, idyllische Sprachmalerei und mitunter bissiges Sezieren des Insel-Alltags.
Außer auf Langeoog entstanden auch wieder einige Geschichten unterwegs: Vor allem in der erhabenen Stille uralter Klöster, aber auch auf Ausflügen in urbanes Umfeld.

NEU: Die Episoden sind nicht nur das 2020er-„Best of“ meines Blogs, sondern das Buch umfasst auch acht (8!) bisher unveröffentlichte Texte.

Band 7 HIER kaufen: https://www.bod.de/buchshop/momentaufnahmen-7-mayk-d-opiolla-9783751993838

Klappentext:

Das siebte Jahr auf Langeoog. Mit dem Erwachen des Frühlings bricht die Corona-Krise auch über die Insel herein. Zum ersten Mal erfolgt der große Vogelzug fast unbeobachtet; zum ersten Mal ist es sogar an Ostern so still, dass man die Blütenblätter von den Bäumen fallen hört. Die Touristen sind fort, das Dorf rottet sich zusammen. In der Isolation entsteht neue Nähe, aber es gärt auch Gift im Langeooger Mikrokosmos. Die Zukunft erscheint zerbrechlich, Existenzsorge nagt. Und doch prägt die Prosastücke dieses Bandes keine Verzweiflung, sondern ein lebenshungriger Blick auf die Welt, die Geborgenheit im Glauben sowie das Wunder unverhoffter Liebe. Gezeichnet in eindrucksvollen Sprachbildern führt der Ich-Erzähler über eine Insel im Ausnahmezustand, aber auch an Orte tiefen Friedens. Jenseits von Langeoog bilden u.a. ein uraltes Zisterzienserstift in Niederösterreich, die tiefen Wälder der Südeifel oder die Hansestadt Bremen die Kulisse. 42 neue Geschichten, mit einem Themenspektrum von Liebe bis Weltpolitik.
Die aktuelle Themenauswahl sowie ein farbenprächtiger Erzählstil, schonunglos ehrlich, mit unbestechlichem Blick und garniert mit bissigem Wortwitz, haben der „Momentaufnahmen“-Reihe von Mayk D. Opiolla mittlerweile eine feste Fangemeinde beschert: Auch weit über die Inselgrenzen hinaus. Alle Bände sind unabhängig voneinander lesbar.

Band 7 kann über den Buchshop von BoD sofort bestellt werden. Über den stationären Buchhandel, amazon und Co wird es in wenigen Tagen erhältlich sein.

Hinweis: Beim Direktbezug über BoD bleibt etwas mehr Geld beim Autor, also mir, hängen, da kein Händlerrabatt mehr abgezogen wird. Wer meine Schreiberei auch finanziell unterstützen will, bestellt also bitte da; den lokalen Handel unterstütze ich aber ebenfalls jederzeit gerne! Also keine Hemmungen, falls Euch der Weg in den Buchladen nebenan lieber ist 🙂

Momentaufnahme, Herbstanfang

In das Flussrauschen mischt sich der langezogene Schrei eines Waldkauzes auf der Jagd. Hu-huhuhuhu. Hu-huhuhuhu, wieder und wieder. Durch das weiße Sprossenfenster meiner Klosterzelle schimmert der Abendstern. Bis auf die Eule und das Wasser der Kyll ist kein Laut zu vernehmen, nicht einmal Wind geht. Es ist genau die Art von Stille, nach der ich mich in all dem Trubel der letzten Monate gesehnt habe. Ich höre dem Waldkauz ebenso andächtig zu, wie ich etwas früher am Abend einigen Mönchen unter dem Kirchenfenster beim Singen lauschte. Ein warmes Glücksgefühl durchströmt mich; es ist ein perfekter Moment: Jetzt, hier, an diesem Fenster.
Auch die meteorologische Wärme hat nicht nachgelassen; tagsüber ist es unverändert heiß und auch nachts braucht man gerade einmal einen dünnen Pullover.
Und dennoch kam, quasi über Nacht, der Herbst.

Mit einiger Überraschung stellte ich bei der heutigen Wanderung fest, dass sich die Spitzen der wenigen Laubbäume im Wald bunt verfärbt hatten. Auch das Brombeerlaub entlang der Wege nimmt bereits Herbstfarben an. Nur die unzähligen wilden Orchideen erzählen noch vom Sommer.

Auf Langeoog soll es ebenfalls herbstlich geworden sein, schreibt mir die Freundin, und ich frage mich, wo das Jahr geblieben ist. Dieses Jahr, das wohl für niemanden einfach irgendein Jahr gewesen ist. Das Jahr, das alles veränderte; das Nähe nahm und neue Nähe brachte. Das das Verständnis von Höflichkeitsformen und Distanz teils völlig auf den Kopf stellte und uns neue Prioritäten bei unseren Sozialkontakten setzen ließ.
Lediglich die Nähe zu Gott war noch ohne größeren Aufwand zu bewerkstelligen — freilich auch das nur so lange, wie man im stillen Kämmerlein betete und nicht in die Kirche gehen oder gar die Eucharistie empfangen wollte. Aber auch dafür wurden ja letztlich Lösungen gefunden; und zumindest auf Langeoog waren die Leute mit genug Disziplin bei der Sache, um größere Ausbrüche von Corona-Infektionen zu verhindern.
Obwohl das Jahr noch 2,5 Monate übrig hat, beginne ich schnell mit dem ersten sichtbaren Herbsttag zu bilanzieren. Eine Unsitte vielleicht, denn auch in 2,5 Monaten kann so ein Jahr noch überraschen. Indes bin ich aber froh, diese Bilanz mit einem gesunden Abstand zu Insel, in der Abgeschiedenheit eines 800jährigen Klosters ziehen zu können; wo ich alles, was schön war, Gott zum Dank hinhalten kann — und alles, was nicht schön war, auch. Gott hält das aus.

Die Turmglocke schlägt 22 Uhr: Für Mönche und die anderen Klosterbewohner längst Zeit zum Schlafen. Die Eule schweigt; vermutlich ist sie satt.
Es ist traurig, dass morgen schon der vorletzte Tag anbricht, denke ich. Ich wäre gern noch geblieben: Hätte den Wald in seinem Herbstkleid angeschaut und die schön gewachsenen Obstbäume mit ihren kunstvoll gewundenen Stämmen und knotigen Zweigen. Aber so geht es mir ja in jedem Urlaub — obwohl ich sicher weiß, dass auch der Inselherbst wunderschön sein kann. Noch aber liegt die Insel in weiter Ferne. Noch bin ich hier.

Portrait im aktuellen Kirchenboten

Im Kirchenboten, der Wochenzeitung für das Bistum Osnabrück, ist jetzt ein ganzseitiger Artikel zu mir und meinen Büchern erschienen. Er basiert auf einem langen Interview, das ich mit der Redakteurin Petra Diek-Münchow im Mai führte — ihr geplanter Besuch vor Ort musste aus naheliegenden Gründen leider ausfallen. Es geht darin um Glaubensfragen, ein paar biografische Details zu Werdegang und Konversion, meine Liebe zu Langeoog und das Spannungsfeld zwischen Katholizismus und LGBTI-Anliegen.

Das e-paper kann unter www.kirchenbote.de gekauft werden. Aktuell liegt auch die Printausgabe an einigen Stellen im Bistum aus, so auch bei uns in St. Nikolaus am Schriftenstand. Reingucken lohnt sich!

Das E-Paper erschien am 8. Juli, die gedruckte Ausgabe am 10. Juli. Ausgabe Nr. 28; ich bin auf Seite 16.

Zeitgleich erschien darüber heute ein Artikel in der Presseschau der Langeoog News. (Nur am heutigen 14. Juni kostenfrei lesbar; ab dem 15. nur noch mit Langeoog News PLUS Abo.)

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Momentaufnahme, Wunder

Lumen Christi.
Lumen Christi.
Lumen Christi.

Mit diesem dreifachen Ausruf beginnt die Feier der Osternacht. „Deo gratias“, singe ich, umhüllt von Weihrauchduft. Die Flamme der großen Osterkerze im Dom erleuchtet reihum alle anderen Kerzen und erhellt das Dunkel des mächtigen Sakralbaus; das Gesicht des Bischofs ist nun wieder gut erkennbar. Auch meine Osterkerze ist jetzt entzündet. Aber ihr Lichtschein fällt auf keine Kirchenbank oder auf einen altehrwürdigen Steinfußboden. Niemand neben mir raschelt mit dem Gotteslob. Der Schatten meiner Finger zittert im flackernden Kerzenlicht über der Tastatur, und den Weihrauch habe ich selbst verbrannt.
Das Weihwasser wird gesegnet. „Fest soll mein Taufbund ewig stehen“, singe ich und erwarte fast, dass mich ein paar heilige Tropfen aus dem Aspergil erreichen; erfahrene Kirchgänger nehmen rechtzeitig dafür die Brille ab. Aber niemand singt mit mir. Und natürlich erreicht mich auch kein frisches Weihwasser. Denn ich verfolge die Messfeier lediglich im Internet, live immerhin.

Es ist ein sonderbares Osterfest. Ich vermisse den Gang zur Kirche, die Magie des heiligen Triduums mit seiner ganzen Bandbreite menschlichen Elends und Glücks, gekrönt von der Freude über das Wunder der Auferstehung. 
Aber alle physischen Zusammenkünfte zu religiösen Zwecken sind und bleiben des Virus wegen untersagt; das höchste Fest im christlichen Kirchenjahr bildet da keine Ausnahme. Und dennoch schafft sich das Wunder seinen Platz.
Beim allerersten „Halleluja“ nach dem Ende der Fastenzeit bekomme ich zuverlässig Gänsehaut, ebenso wie bei der Allerheiligenlitanei und dem Schlussegen, obwohl ich dem Bischof nur am Monitor dabei zuschauen und -hören kann. Ich zweifelte stark, ob diese Art von Gottesdienstersatz einem überhaupt irgendetwas bringen kann, aber nun bin ich froh, dass es wenigstens dieses Angebot noch gibt.

Aber auch die Kirchengemeinde vor Ort tut noch, was sie kann. Mit Bienenfleiß schnürte unsere Pfarrbeauftragte Osterpäckchen, die sie persönlich mit dem Fahrrad zu allen katholischen Haushalten auf der Insel ausfuhr, darin: Eine Osterkerze im hübschen Holzhalter, ein Palmzweig, ein Gebetsblatt, kleine Andachtskärtchen für den Kreuzweg. Viele Menschen zeigen sich glücklich darüber in den nächsten Tagen; auch jene, die sonst kaum zur Kirche gehen. 
Auch ich freue mich sehr darüber, und so brennt nun genau diese Osterkerze neben meinem Monitor: Lumen Christi.

Es ist Ostersonntag. Auch auf dem Esstisch meiner Freundin brennt eine solche Kerze. Sie steht neben einem Körbchen mit bunten Eiern, überdacht von den sich neigenden Blüten farbenfroher Tulpen. Es ist das erste Mal seit meinem letzten Klosteraufenthalt, dass ein Mensch mit mir vor dem Essen betet, und ich bin dankbar, dass wir so wenigstens ein bisschen richtiges Ostern haben: Ohne Datenleitungen zwischen uns, mit Gott bei uns. Ich weiß nicht, was Gott von dieser Verbindung hält. Aber da, wo Liebe ist, sollte auch Segen sein, und ich bin froh, dass sie da ist: Die Freundin ebenso wie die Liebe. Ich habe vor vielen Dingen bezüglich unserer Zukunft Angst, und der Freundin geht es genauso. Aber in einer Sache bin ich mir dennoch recht sicher: Es gibt viele Wunder in diesen Tagen. Und sie ist eines davon.

Ich weiß nicht, wie dieser Mensch die Tapferkeit aufbrachte, durch all die Bruchstücke im Sumpf meines Herzens zu schwimmen, um zu sehen, ob sich darin doch noch irgendwo ankern lässt. Und nun ist sie da, ein schönes, stilles Boot auf dem Wasser; willens, mich mitsamt dem Müll, dem Dreck und den Narben aufzunehmen. Was, wenn nicht das, ist Liebe?
„Man sollte aufpassen, wofür man betet, denn häufig wird man von Gott erhört“, sagte ich oft halb im Scherz. Wiewohl mit dem Alleinsein längst versöhnt und vertraut mit der Gnade, die freiwillige Entsagung in sich birgt, betete ich dennoch manchmal um einen Menschen, vor dem ich nichts mehr verbergen muss; um einen lieben Gefährten oder eine Gefährtin, bei dem oder der man geborgen ist. Es tut gut, in dieser unwirklichen Zeit neben der treuen und beständigen Liebe Gottes auch noch ein (überaus wirkliches) Wesen aus Fleisch und Blut bei sich zu haben. Für jemanden sorgen zu dürfen, lenkt von vielen Alltagssorgen ab. Und das Umsorgtwerden polstert all die kleinen Wunden, die der Alltag immer wieder reißt.

Es ist eine merkwürdige Zeit. Die Tage sind ebenso ereignislos wie intensiv. Das Dorf ist wie eine Filmkulisse, aber hinter den verwaist wirkenden Fassaden scheint sich mehr zu rühren denn je. Viele Menschen wachsen in diesen Tagen zusammen; helfen einander, fragen ein ernsthaft interessiertes: Wie geht es dir? Plötzlich grüßen Leute, die nie zuvor gegrüßt haben. Andere wiederum lassen es jetzt besonders demonstrativ bleiben. Einige besinnen sich auf ihre Familie, die engen Freunde, intensivieren ihre Kontakte, besinnen sich auf das, was Herzen und Seelen zusammenhält. Andere strecken die ekligen Tentakeln von Neugier, Missgunst und Klatschsucht weiter aus denn je; lauern hinter ihren Barrikaden, witternd, wütend, urteilend. — Glücklich jene, die nun ihre Kreativität ausleben; die neue Hobbys entdecken und Wege finden, um das Beste aus der wirtschaftlich schwierigen Lage zu machen, ohne ihren gelegentlichen Frust darüber an den Mitmenschen auszulassen und ihren Neid an jenen, denen es vermeintlich besser geht.

Nur die Natur gibt sich gänzlich unbeeindruckt. Der Frühling ist in vollem Gange. Erste Jungtiere zeigen sich: Winzige Gänschen folgen den Elterntieren auf dem Schloppsee, und auch bei den Highland-Rindern hängt zottelig-süßer Nachwuchs am Euter. Ich nehme mir seit Langem mal wieder Zeit für eine ausgiebige Erkundungstour. Die Liebe Gottes, die er mit all seiner wunderbaren Schöpfung in die Welt goss, ist hier, jenseits des Deiches, in jedem Vogel, in jedem Grashalm spürbar. Ich sauge mich förmlich voll damit. Ein großer Schwarm Goldregenpfeifer zieht über die Weiden nahe der Melkhörndüne; Weißwangengänse schnattern im Gras. Ein Rotschenkel durchsucht den Schlick im Siel, während Kiebitze mit lautem Ruf über den Äckern turnen. Austernfischer sitzen auf ihren Gelegen oder versuchen, akrobatisch davon abzulenken. Ein Hase mümmelt in einem gigantischen Teppich aus Gänseblümchen. Leben in Fülle überall, aber kaum ein Mensch kreuzt meinen Weg. 
Nie hätte ich gedacht, einmal einen Inselfrühling in dieser absoluten Stille zu erleben. Vielleicht rückt diese Zeit einige Werte zurecht, denke ich. Für mich ist der unbeirrbare Glauben an das Wunder der Liebe einer davon.