Insel-Inseln

Wieviel Inselsommer mir in diesem Jahr wirklich entgangen ist, merke ich erst, als ich nach der Messe ins Freie trete. Hinter der Kirche hat sich die Sonne bereits tief gesenkt und den Himmel mit pastellfarbenem Dunst überzogen. Ich beeile mich, um von St. Nikolaus ans Meer zu kommen, denn auch den Strand und die wunderbare Weite der offenen Nordsee sah ich lange nicht. Zwar liegt auch die Stadt meines Klinikaufenthaltes im Norden, aber man hat von dort aus lediglich Blick über einen Meerbusen — auch das durchaus hübsch, aber nicht wirklich mit einem Inselstrand vergleichbar. Auch die Luft erscheint mir weicher auf Langeoog; glücklich atme ich ein paar tiefe Züge und genieße das Abendlicht am Flutsaum.
Hinter mir kuschelt sich die Kirche St. Nikolaus in ihr Dünennest. Auch sie hatte ich vermisst wie einen alte Freundin. Nach dem abendlichen Marsch durchs Dorf, wo ich viele Fremde und einige Fremdgebliebene traf, von denen niemand grüßte, öffnete ich mit dem Kirchentor einen Hort der Geborgenheit. Schon von Weitem sah ich unzählige Opferkerzen brennen; fast kein einziger Steckplatz war mehr frei. So viele Gebete, so viel Dank für ein paar schöne Tage auf der Insel, aber natürlich auch: Flehende Bitten, um Trost, Heilung, Zuflucht. Mich rührt jedes Mal, wie gut die Kerzen angenommen werden, an diesem schönen Kirchenstandort zwischen Land und Meer.
Drinnen winkte mir die Organistin und strahlte, bevor sie mit geübter Hand die Königin der Instrumente erklingen ließ. Auch der Kurpriester erkannte mich wieder und nickte beim Einzug, ebenso die Gemeindechefin. Es war schön, vermisst worden zu sein; diese vertrauten, wohlgesonnenen Menschen zu sehen und ihre vertrauten Stimmen zu hören. Mein zweites Zuhause: Ich hege keinen Zweifel daran. Der Priester trug eine bunte Stola mit Langeooger Motiven über seiner Franziskanerkutte: Der Wasserturm war darauf, ein Austernfischer und natürlich das Meer. Auch das brachte ein Gefühl sommerlicher Leichtigkeit. Die letzten Wochen waren nicht leicht. Und auch die nächsten Wochen, Monate werden es vielleicht nicht, aber dennoch wurde ich mir in diesem Moment einmal mehr des Privilegs bewusst, in diesem Naturparadies leben zu dürfen. Mit meinen ganz eigenen, langsam gewachsenen kleinen Inseln der Geborgenheit darauf; so nah am Meer und im Bewusstsein, dort und nirgendwo sonst hinzugehören.

Die See liegt ruhig an diesem Abend und hat sich weit zurückgezogen. Bald ist das letzte Licht des Tages erloschen. Nur mit Mühen kann ich noch die weiße Gischt erkennen. Menschen sind kaum noch unterwegs. Auch der Mensch, der zu mir gehört, ist an diesem Wochenende nicht da, aber wie die Flut wird auch sie wiederkommen, und so gräme ich mich nicht darüber, denn alles, was ich liebe, ist hier — so oder so.

Widersprüche

Es ist ein Inselfrühling wie aus dem Bilderbuch. Wie in einer Werbeanzeige für irgendeine Familienversicherung sitze ich im Innenhof in der Sonne und putze mein schönes, neues, zitronenfaltergelbes Fahrrad, dessen fröhliche Farbe alles Wintergrau vertreibt. Meine zukünftige Ehefrau trägt eine salbeigrüne Bluse mit Tulpenmotiv, darüber ein zartes Strickjäckchen in Petrolblau und strahlt; schön wie Nachbars Schneeglöckchen in ihrem Sonnenfleck. Es weht kaum Wind; Möwen kreisen im Himmelsblau und man hört die Austernfischer vom Dach, die ihre Brutplätze beziehen.
Ein paar hundert Kilometer weiter liegt jemandes Ehefrau auf dem Asphalt, zerrissen von Granatsplittern. Die beiden Kinder ebenfalls, alle sind tot, sie haben die Flucht über eine Brücke nahe Kiew nicht geschafft. In den Redaktionen gab es lange Streit darum, ob man solche Bilder zeigen darf, aber der Ehemann und Vater, jetzt Witwer, hat zugestimmt. Man sollte das sehen.
In Europa ist Krieg und meine älteren Verwandten, die das schon mindestens einmal durchhaben, werden von ihren Erinnerungen heimgesucht; 90jährige, die nicht gedacht hätten, dass ihnen das Grauen noch einmal so nahe käme.
Ich habe keine Ahnung von Osteuropa; weder von Russland noch von der Ukraine, vom Üblichen an historischer und kultureller Allgemeinbildung einmal abgesehen. Aber dass es noch nie eine gute Idee war, irgendwo einzumarschieren, sollte sich doch nun wirklich inzwischen herumgesprochen haben. Und dass dabei immer die am meisten leiden, die am wenigstens Schuld tragen.
Und so schaue ich, wie alle anderen auch, mit Entsetzen, Trauer und Fassungslosigkeit auf zerbombte Häuser, Tote, Verletzte und Flüchtlingsströme. Ebenso mit einem warmen Gefühl im Herzen auf eine ungeheure Welle der Hilfsbereitschaft. Dennoch: Es zerreißt einen förmlich, es ist so nah, und man merkt einmal mehr, wie unglaublich fragil dieses Konstrukt „Frieden“ ist und dass es immer neu verhandelt und ausgehandelt werden muss, ebenso wie Demokratie. Sonst schlägt früher oder später immer die Stunde der Despotinnen und Despoten und jenes Teils des Volkes, der einfach nur regiert werden will, egal wie. Der Teil des Volkes, der noch schweigt, wenn es um Minderheitenrechte geht und sich dann wundert, wenn plötzlich jeder in seinen Rechten beschnitten wird, denn so fängt es nunmal an: Menschenrechte sind kein Luxusgut und kein Almosen, das eine Gesellschaft netterweise auch den Randfiguren hinwirft, wenn’s gerade mal läuft. Man kann diese Menschenrechte auch nicht einfach jederzeit wieder einsammeln, wenn man mal wieder Sündenböcke braucht oder Testkaninchen dafür, was das Volk so alles schluckt, solange es nicht die eigene Gruppierung trifft. Und doch geschieht genau das immer wieder.

Nun sitze ich hier in meinem kleinen nestwarmen Inselglück und weiß nicht, ob man das jetzt einfach noch so darf, kann, sollte: Glücklich sein. „Den anderen geht es nicht besser, wenn man jetzt keine Feste mehr feiert oder sich freut“, sagte mir eine liebe Bekannte dieser Tage, und natürlich: Das Unglück macht vor niemandem Halt, das Glück aber auch nicht. Und oft genug hat beides einen denkbar seltsamen Zeitpunkt. Mein Vater wurde 1942 bei Bombenalarm geboren, und zugleich mit der Angst, dass die neue Familie gleich zusammen mit dem Krankenhaus in Trümmern liegen könnte, wird bei Opa O. sicher dennoch auch eine Schnapsflasche oder Zigarrenbox gekreist sein oder womit auch immer man damals die Geburt von so einem Würmchen mitten im Krieg feierte. Vielleicht hat sogar noch jemand Blumen verkauft für die werdende Mutter, irgendwo zwischen dem Schutt einer zerbombten, grauen Stadt.

Dennoch brummt das schlechte Gewissen mit, wenn man sich dieser Tage freut; man spendet und hilft im Rahmen seiner Möglichkeiten, man schaut mit Angst auf all die Prophezeiungen bezüglich Preissteigerung, nährt seine Existenzangst damit, fürchtet sich vor kalten Wintern mit Heizkörpern nicht über 16°C, obwohl es einem doch immer noch so gottverdammt gut geht, weil man überhaupt noch ein Zuhause hat, das man heizen kann und darf und weil man Dreckflecken vom Fahrrad wischt anstatt Blut von den Wänden.

Vermutlich muss ich diesen Widerspruch einfach aushalten: Hinter mir liegt der schönste Jahresbeginn, an den ich mich erinnern kann. Wundervolle Urlaube, ein ewiges Versprechen im denkbar schönsten Setting, dazu dann — endlich — eine seelenstreichelnde Reihe milder Sonnentage auf der Insel und das stete Glück eines Zuhause am Meer. Für unser armes Europa, für die Menschen in der Ukraine ist es ein furchtbarer Frühling. Der Blick in die Welt tut weh.

Auszeit

Der Regen wird stärker. Ich stehe am Fenster des alten Bauernhauses und sehe zu, wie die Tropfen auf dem Seerosenteich kleine Krönchen bilden. Allmählich fällt Dunkelheit über das Land; über die blühenden Wiesen, die Weiden und die Felder mit ihren wogenden, goldenen Ähren. Die Pferde haben sich unter den Schutz der Baumdächer gestellt; die Rinder mit ihren Kälbchen drängen sich um ihre Raufe. Und um all das herum breitet sich der schier endlose Nadelwald wie eine duftende, stille Umarmung. Jetzt, in der Nacht, werden ihn Wölfe durchstreifen und andere nachtaktive Tiere ihre Höhlen, Bauten und Nester verlassen. Die Eule kann ich bereits hören.
Auch aus der Wohnung duftet es; die Freundin nimmt ein Vanillebad. Ich rufe sie ans Fenster, damit auch sie die Eule hören kann, und dann stehen auch wir da: In stiller Umarmung. Die Ohren in die Nacht gerichtet; in Vorfreude auf die Tage, die vor uns liegen. Wir haben es tatsächlich gewagt: Wir sind im Urlaub. Wenigstens eine Woche kein Alltag, keine Verpflichtungen, kein Haushalt. Eine Woche neue Impulse, Inspirationen und ein Hauch von Normalität nach all den Restriktionen der Pandemie.

Letzteren können wir indes nicht ganz entfliehen: „Ihr Test ist vier Minuten zu alt“, sagt der Rezeptionist, „es tut mir Leid, aber wir müssen darauf achten“. Ich finde diese Gründlichkeit löblich, erkläre die vier Minuten mit der frühen Schließung der Langeooger Testzentren plus Reisezeit und zeige mich willens, den Test vor Ort zu wiederholen. Aber er drückt ein Auge zu, und dann sind die Formalitäten geschafft: Urlaub.
U-R-L-A-U-B. Man weiß ja kaum noch, wie sich das schreibt.
Am frühen Morgen ist der Ruf der Eule verstummt, sie sitzt irgendwo im Nadelbaumdickicht und hat die schönen Augen geschlossen. Stattdessen setzt ein gewaltiges Vogelkonzert ein. Gewaltiger als alles, was ich je hörte. Der Seerosenteich liegt wieder ruhig da. Ein erster Lichtschimmer lässt die weißen, runden Blüten aufleuchten wie kleine Monde. Es ist atemberaubend schön. Die Tage verbringen wir mit sehr vielen Tieren in der traumhaften Landschaft der Lüneburger Heide, mit Stöbern und Bummeln, mit Pläneschmieden und Freude: An der Natur, aneinander, an allem, was uns auf dieser Welt geschenkt wird. In der Kirche zünden wir Kerzen an, über die eine hölzerne Gottesmutter wacht; davor blüht samtrot ein gewaltiger Rosenstock: Danke für diese Zeit.

Erst auf der Rückfahrt werden mir die Schattenseiten des wiederbelebten Reiseverkehrs und der Urlaubssaison bewusst: Stau in brütender Hitze. Der Anblick furchtbarer Unfälle. Aggressive Verkehrsteilnehmer:innen, die uns am Kofferraum kleben. Lebensmüde Rechtsüberholende. Dazu Asphalt, Leitplanken, LKW, trostlose Rastplätze, Baustellen, noch mehr LKW. Und LKW. — Was für ein grässlicher Kontrast zu all dem Frieden, den Düften und der Schönheit!
Ich war Jahre nicht mehr mit dem Auto im Urlaub; so solange, dass ich nicht einmal wusste, dass heutzutage nicht mehr „Benzin“ an den Zapfsäulen steht, sondern irgendwas mit Super XYZ und ich somit schon mit dem Tanken heillos überfordert wäre. Die Freundin hat all das souverän im Griff, aber auch sie ist erschöpft, als wir nach dem Doppelten der geplanten Reisezeit mit der allerletzten Fähre nach Langeoog zurückkommen.
Auch auf der Insel ballen sich die Urlaubenden; am Haus ist kaum noch ein freier Fahrradparkplatz zu finden. Dennoch stelle ich fest, dass ich nun, da ich selber wieder Tourist war, innerlich etwas mehr Milde walten lasse mit der Gästeschar. Denn ich verstehe ihr Bedürfnis nach Tapetenwechsel, nach Erholung; ebenso wie die euphorische Freude darüber, endlich wieder Neues sehen und erleben zu dürfen; endlich füreinander und für sich selbst Zeit zu haben. Für den Nachmittag verabrede ich mich mit der Freundin zum Waldspaziergang.

Winterliebe

Es ist ein traumhaft schöner Wintertag. Nach einem eher unsanften Auftakt mit heftigem Schneefall, steingrauem Himmel und rabiaten Windböen, zeigt sich die verschneite Insel nun in voller Pracht. Der Schneefall ist zum Erliegen gekommen; das Grau am Himmel ist einem satten, leuchtenden Blau gewichen, durch das nur noch vereinzelt Wolken treiben. Die Müdigkeit der vielen dunklen Tage sitzt mir noch in den Knochen, und ohne berufliche Verpflichtungen hätte ich mich an diesem Tage wohl kaum weit vor die Tür begeben. Doch nun mache ich mich auf zum Hafen, ein Auftrag wartet. Ich hefte die Augen fest auf die Straße, um nicht hinzufallen, und halte immer wieder an, um mir den Winterzauber rechts und links des Weges anzusehen. Nur gedämpft hört man das Schnattern der Graugänse auf den Weiden; sie haben sich in die Nähe schützender Sträucher und Gebäude zurückgezogen.
Ein großer Greifvogel gleitet über mich hinweg; ich kann noch sein dunkelbraunes Gefieder erkennen; vermutlich ein Mäusebussard. Der Greif lässt sich auf einem hohen Baum nieder und späht von diesem Ansitz aus nach Beute.
Je mehr ich mich Hafen und Seedeich nähere, umso mehr Stimmen dringen an mein Ohr: Stimmen, bei denen sich mein Herz öffnet. Ich höre das Trillern von Austernfischern, die wehmütigen Laute Großer Brachvögel, das Piepsen der niedlichen Sanderlinge, dazu Entengeschnatter und natürlich: Möwen. Aus den Bäumen melden sich Rotkehlchen und Meisen; eine Drossel labt sich an letzten Hagebutten.
Die nackten Zweige der Bäume erheben sich majestätisch in den Himmel, der sich am späten Nachmittag schon in Rosé und Apricot färbt. Aber die Sonne hat noch Kraft; ich öffne meine Jacke und lasse mich von Licht und Vogellauten beschenken.
Liebe erfüllt mich: Zu dieser wunderbaren Natur, zu diesem Tag, zu diesem Leben. Und auch in die Insel verliebe ich mich wieder neu, als wäre es nicht schon mein achtes Jahr hier. Beinahe fühle ich wieder die Anfangseuphorie von 2014, als ich in jeder freie Minute in die Natur radelte und dabei jede Farbe, jede Pflanze, jedes Tier mit einer Innigkeit ins Herz schloss, als würden sie mir tags darauf wieder fortgenommen. Nun war bis zu meiner Insel-Ankunft mein Leben auch nicht durch Beständigkeit ausgezeichnet, und so war diese Verlustangst und dieses Gefühl von „Mitnehmen, was geht, solange es nur geht“ vermutlich nur natürlich. Auch heute möchte ich die Insel freilich nicht hergeben, aber es sind mir doch einige Ängste genommen: Die Wohnung ist fest und auch beruflich fühle ich mich endlich angekommen und angenommen. Die Kirche gibt meiner Seele Halt. Es ist ein gutes Leben.

Ich stelle mein Fahrrad in der Nähe des Zugangs zur Deichkrone ab. Das Schloss benutze ich nicht, denn außer mir, Hunderten von Vögeln und ein paar anderen Tieren ist hier niemand. Ich setze meine Fußspur in die eines Feldhasen, der scheinbar ordnungsgemäß den schmalen Weg auf dem Deich entlanggehoppelt ist, ohne auch nur den kleinsten Haken zu schlagen. Doch lange kann ich seine Spur ohnehin nicht verfolgen, weil ich den Blick nicht mehr senken kann: Vor mir breitet sich das Paradies. Zuletzt sah ich Deich, Watt und Salzwiese irgendwann im Herbst aus dieser Richtung. Im Schnee war ich tatsächlich noch nicht hier. Und nun liegt dieser atemberaubend schöne Teil Langeoogs in so traumhaften Farben vor mir, dass ich mich automatisch in die Tundra oder ins sommerliche Spitzbergen versetzt fühle. Tatsächlich erstreckt sich das Weiß des Schnees nicht über die gesamte Landschaft. Ein bisschen grünes Deichgras ist zu sehen, dazwischen die warmen Gelb- und Rottöne der Salzwiese; das tiefe Blau des Meeres und das Graubraun der Schlickflächen. Im Hintergrund erhebt sich die Dünenkette Richtung Ostende; mit ihrer Schneehaube sieht sie aus wie ein stattliches Gebirge. Alles, was in den letzten Tagen, Monaten, Jahren anstrengend und hässlich war auf der Insel, fällt von mir ab, und ich spüre, dass ich diese Euphorie des Frischverliebtseins lange vermisst habe. Ein Verliebtsein, das die Neugier mit sich bringt, immer mehr Facetten am Gegenüber entdecken zu wollen, von denen dann eine schöner als die andere zu Leuchten beginnt. Ich habe das 2014er-Langeooggefühl vermisst. Und nun ist es zurück, als sich die Insel mir an diesem Tage noch einmal ganz neu zeigt.

„Dein Bild in der Hand, träum’ ich vom Schnee / Und nichts tut mehr weh“, singt Ulla Meinecke in dem Lied „Hafencafé“, und ich muss unwillkürlich Lächeln, als mir diese Liedzeile einfällt. Nicht nur, weil sie mich tatsächlich an eine alte Schwärmerei erinnerte — an jemanden, in den ich mich einst während eines Winterurlaubs verguckte und der mir damit sehr über eine andere, äußerst schmerzhafte Erfahrung hinweghalf — sondern auch, weil ich wusste, dass diese Zeile mir auch künftig helfen würde.
Denn immer, wenn mir das Inselleben eine hässliche Seite enthüllen würde — zwischenmenschlichen Unrat oder sonst etwas Gärendes und Faules — würde ich ab jetzt an diesen Satz und an diesen Tag denken. An diesen Anblick. An den schneebedeckten Deich mit der Hasenspur, an die wundervollen Tundra-Farben, an die Sonnenwärme und ans glitzernd vereiste Watt. Und die Rufe der Brachvögel würden mir sagen, dass alles gut wird. Weil alles gut ist.

Frühlingshauch

Schon am Morgen ist die Insel von einem prächtigen Blau überwölbt. Ein klarer, sonniger Tag steht bevor, und es ist so mild, dass ich endlich wieder meinen geliebten Übergangsmantel anziehen kann anstelle der voluminösen Winterdaunen. In der Straße nebenan turnen Schwanzmeisen an herabhängenden Erlenzweigen; erste Kätzchen stehen kurz vor der Blüte. Und auch das Jelängerjelieber, das sich durch nahezu sämtlichen Dünenbewuchs und viele Hecken der Insel rankt, reckt erste hellgrüne Blätter und zahlreiche Knospen in die Sonne.

Über den Wiesen und Weiden treiben jetzt kleine Quellwolken im Blau. Die Wintersonne hat links und rechts blasse Nebensonnen ausgebildet; eine Folge der Eiskristalle in der Luft. Ich weiß, dass es in Kürze wieder Schneien wird, aber noch erscheint das vollkommen unwirklich. Denn es liegt bereits eine Menge Frühling in der Luft.
Auf der Weide tummeln sich eine Menge taubengroßer Vögel, und obwohl sie von Weitem noch nicht genau zu erkennen sind, lässt ihr charakteristisches, akrobatisches Flugbild keinen Zweifel: Die Kiebitze sind wieder da. Dutzende; wenn nicht gar über Hundert der hübschen Häubchenträger. Sie plantschen in den Tauwasserseen, die sich nach dem letzten Schneefall in den Ackermulden gesammelt haben und durchforsten das saftige Grün nach Insekten.
Ich sehe ihnen eine Weile fasziniert zu; nur selten muss ich dabei anderen Menschen Platz machen. Ich denke an den letzten Frühling; das erste vollkommen stille Osterfest im Lockdown und die soeben erblühte Liebe, die nun auch schon ein Jahr währt. Und nun steht der nächste Frühling unmissverständlich vor der Tür. Zugleich ist mir klar, dass ein Frühling im Januar nicht mehr sein kann als eine schöne Vorahnung, oder vielmehr: Eine Erinnerung. Daran, dass jeder Winter endlich ist. Und jede Dunkelheit und Kälte auch.
Ich sehe mich an dem leuchtenden Blau des Himmels, den Kiebitzen, den friedlich grasenden Rindern und den Schwärmen von Grau- und Weißwangengänsen noch eine Weile satt; dann fahre ich heim und warte auf den Schnee.

Der Schnee kommt nicht sanft. Ich erwache davon, dass grober Eisregen hart gegen die Fensterscheiben klatscht und Sturmböen am Haus rütteln. Erst ganz allmählich werden die Laute sanfter. Ich habe mich noch nicht überwunden, aus dem Fenster zu sehen, aber dem Geräusch nach sind es jetzt wohl nur noch große Schneeflocken, die der Wind an die Fenster treibt. Letztlich öffne ich doch die Vorhänge: Der kräftige Südostwind schickt gerade eine große Ladung Schnee vom Dach gegenüber direkt auf meinen Balkon. Wäre die Tür geöffnet gewesen, hatte ich die Schneewehe wohl voll ins Gesicht bekommen. Eine Amsel macht sich über das am Vortag ausgelegte Fettfutter her. Sie ist so hungrig, dass sie sich weder von mir noch von den Windböen beim Fressen stören lässt. Einige Handwerker kämpfen sich fluchend mit Rädern, Anhängern und Handkarren durch die ansonsten einsamen Straßen. In der Nähe meiner Wohnung kratzt eine Schneeschaufel gegen den ununterbrochenen Schneefall an. Eine Sisyphosarbeit.

„Raus!“ sage ich mir irgenwann mit aller Vehemenz, „Raus!“ Denn auch ich muss arbeiten. Die Fotos für den Wetterbericht müssen gemacht werden; das ist nicht delegierbar. Und in zwei Stunden würde es wieder dunkel. Ich steige in die Thermounterwäsche, in Jeans, Pullover, Mütze und Handschuhe; in dicke Socken und Trekkingschuhe, dazu den Kunstdaunenmantel, in den ich die Kamera einknöpfe wie einen Säugling.
Der Schnee vor meinem Haus ist noch vollkommen jungfräulich, obwohl es bereits auf zwei Uhr zugeht. Die Zweitwohnungsbesitzenden, die trotz aller Warnungen der Bundesregierung in den letzten Wochen noch im Haus gewesen waren, sind offenkundig doch wieder abgereist. Die ersten Fußspuren, die sich an diesem Tag in den Schnee vorm Haus graben, sind meine.

Mich führt der Weg zum Dünenfriedhof. Tief verschneit habe ich den Friedhof noch nie betreten, aber heute zieht es mich vor Allem wegen der Nadelbäume hin. Es gibt für mich kaum etwas Schöneres als den Anblick und den Geruch schneebedeckter Kiefern und Tannen. Das Gräberfeld liegt ruhig und weit unter der weißen Decke, und mir fällt plötzlich das Gedicht Kurt Tucholskys über den wunderschönen jüdischen Friedhof in Weißensee ein:

„ (…) Es tickt die Uhr. Dein Grab hat Zeit,
drei Meter lang, ein Meter breit.
Du siehst noch drei, vier fremde Städte,
du siehst noch eine nackte Grete,
noch zwanzig–, dreißigmal den Schnee –
Und dann:
Feld P.“

So ist das Leben. Es hat nichts Beängstigendes in diesem Augenblick, daran zu denken, dass die Male, die ich noch den Schnee sehen kann, von Gott längst abgezählt sind. Aber es ist mir Mahnung, den Anblick zu würdigen. Wie auch den ganzen Winter, der gerade erst Anlauf nimmt.
Manchmal plagt mich fast ein schlechtes Gewissen, wie gut ich bisher durch diese Pandemie gekommen bin. Keine gravierenden Sorgen, und alle, die ich liebe, sind gesund. Nicht einmal die heilige Eucharistie ist mir verwehrt, denn in unserer winzigen Kirchengemeinde dürfen weiter Messen stattfinden, wenn auch unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Der Kurpriester ist ein sympathischer Prämonstratensermönch; eine natürliche Demut und Würde ausstrahlend, die man nicht einstudieren kann. Sein Ordensgewand ist weiß wie der Schnee.

Auch das Ruhen des Tourismus auf der Insel macht mir nichts, im Gegenteil. Es ist schön, ab und zu wieder ganz alleine unterwegs zu sein: Mit den Vögeln, dem Wind und dem Knirschen der weißen Pracht unter den Schuhen. Von Ferne dringt Kinderlachen an mein Ohr: Langeooger Familien, die jetzt Zeit haben, mit ihren Kleinen auf den Hängen hinter der Wohnsiedlung zu rodeln, anstatt gestresst von A nach B zu hetzen. Wenn man von den wirtschaftlichen Aspekten absieht — die zweifelsohne für viele Menschen eine Katastrophe bedeuten — hat der Virus-induzierte Stillstand durchaus auch Gutes.
Und es liegt ja nicht nur die Hoffnung auf Frühling in der Luft: Die ersten Impfungen auf der Insel sind erfolgt; schon bald werden die Neuansteckungszahlen sinken. Auch die Pandemie wird zur Ruhe kommen, da bin ich zuversichtlich. Wir müssen nur warten. Und unseren Beitrag leisten.

Auf den Wetterseiten, die ich für meinen eigenen Wetterbericht sichte, finde ich historische Daten über den Winter 1942. Mein Vater wurde in diesem Jahr geboren; die Temperaturen fielen im Januar dieses Jahres fast im ganzen Land auf -30°C; auch in Gelsenkirchen, seiner Geburtsstadt. 1942 war Krieg; die Menschen mitunter ausgebombt, an der Front oder im KZ. Dazu diese grässliche Kälte. Lebensmittelknappheit obendrein, viele hungerten. Was könnte man -30°C da schon entgegensetzen? In diesen Winter wurde mein Vater geboren. Und heute, im Januar 2021, fühlen sich Menschen von einem Stück Stoff vor Mund und Nase an Leib und Leben bedroht. Manchmal würde schon ein kurzer Blick in die Gechichtsbücher helfen, um sein Weltbild zurechtzurücken. Oder auch nur ein Blick in historische Wetterdaten.
Auf Langeoog wird es am Wochenende maximal -4°C kalt. Die Sonne wird ganztags scheinen; in Europa ist Frieden.

Winterzauber

In der Nacht hat es zu Schneien begonnen. Als ich in die Dunkelheit spähe, liegt bereits eine dünne Schicht dicker, glitzernder Flocken auf den Blättern des Rhododendrons, auf den Zaunpfählen und auf meinem Balkongeländer. Auch meine Bornholmer Margeriten, die noch immer blühen, als wäre der Sommer nie zuende gegangen, tragen ein weißes Häubchen. Die verschneite Straße leuchtet im spärlichen Licht der wenigen Straßenlaternen hell wie der Mond. Den Wetterprognosen nach verspricht die Pracht noch einige Stunden liegenzubleiben. Ich stelle den Wecker auf kurz vor Sonnenaufgang.

Als ich am Morgen in die verwandelte Welt hinaustrete, stockt mir der Atem. Nicht vor Kälte, denn die Temperatur bewegt sich nur knapp unterhalb 0°C — aber vor Schönheit. Ich habe lange keinen Schnee mehr gesehen.
Da zurzeit nur wenige Menschen auf der Insel sind, befinden sich viele der verschneiten Wege und Flächen noch im Stande der Unschuld und präsentieren eine Schneedecke von makelloser Eleganz. Kaum eine Fußspur schlängelt sich durchs Gelände, und fast plagen mich Gewissensbisse, die meine jetzt dort zu hinterlassen.
Am Strandaufgang steht ein verlassenes Fahrrad; der Schnee türmt sich hoch auf dem Sattel. Dahinter bilden die weißbezuckerten Nadelbäume des Dünenfriedhofs die Weihnachtsidylle, von der wir Ende Dezember noch 10°C entfernt waren. Ich sehe unzählige Vögel, die auf dem Weiß nun viel leichter auszumachen sind als sonst.
Am Strandaufgang sitzt ein Rotkehlchen; aufgeplustert gegen die Kälte.

Der Strand ist leer. Die weite Fläche zeigt sich so unbescholten, wie man das vergangene Jahr — und auch die ersten Wochen des neuen — wohl gerne gehabt hätte. In der Ferne sehe ich jubelnde Kinder rodeln. Die Helligkeit des Schnees tut mir gut nach all den dunklen, grauen Tagen. Das Licht bahnt sich seinen Weg durch all die verstaubten und verwinkelten Tunnel meines Gemüts, um schließlich inmitten der Seele aufzuleuchten wie eine Signalrakete über nachtschwarzer See. Ich sauge den Anblick ein mit allem, was ich habe: Licht. Wie schön das ist. Wie sehr ich diese Helligkeit vermisst habe, spüre ich erst jetzt.

Auf dem Weg durchs Dorf turnt ein Zaunkönig flink durch braunes Brombeergestrüpp. Ich höre sein lautes Zwitschern. Eine Fasanenhenne hat vor mir ihre Fußabdrücke hinterlassen; ich sehe sie noch im Dünental verschwinden. Dahinter ragt unser Kirchturm auf.

Die Landschaft sieht aus wie auf einer alten Fotografie. Die Reste der Morgendämmerung weben einen Hauch von Sepia in den schneegrauen Himmel. Ich wähne mich inmitten einer wunderschönen, über viele Generationen vererbten Schwarzweißaufnahme; durch zahlreiche Hände gegangen und mit Unmengen Liebe betrachtet. Ich liebe die Farben der Langeooger Natur und weiß, dass mir lange Phasen von Schnee auch irgendwann aufs Gemüt schlagen, da mir die Farbe fehlt. Aber jetzt und hier finde ich den Schnee einfach nur herrlich.

Ich bin trotz zweier Lockdowns weit davon entfernt, den berüchtigten „Inselkoller“ zu erleiden, und es vergeht auch nach all den Jahren kaum ein Tag, an dem ich nicht „schön hier“ denke, während ich über die Insel streife. Und doch schleicht sich manchmal eine gewisse Routine ein. Umso erbaulicher ist es dann, Langeoog auf diese Weise noch einmal ganz neu erleben zu können. Und wenn der Schnee schmilzt und der Frühling Einzug hält, werden die Farben umso strahlender sein.

Kleine Welt

„Kleine Welt“ nennen wir es hier in Norddeutschland, wenn Nebel das Land verhüllt und die Fernsicht auf wenige Meter zusammengeschnürt wurde. Im Winter gibt es viele neblige Morgen auf Langeoog, die oft in überraschend klare, strahlende Tage münden. Vom zuweilen enervierenden Tuten des Nebelhorns an der Mole einmal abgesehen, mag ich diese Morgen, an denen sich alles Vertraute nur noch erahnen lässt und sich weiße Bänder dichten Nebels durch einsame Dünentäler weben. Schön ist es, wenn die Sonne, die man anfangs nur in pastellig-verwaschenen Tönen hinter den Wolken erkennt, dann plötzlich hervorbricht und die feuchtglänzende Vegetation vergoldet. Dann vergrößert sich auch die „kleine Welt“ wieder und man kann das vormals verhüllte ganz neu betrachten.

Für manche Menschen hat der Begriff „kleine Welt“ vermutlich auch etwas Klaustrophobisches; zumal in Zeiten der Pandemie. Wenn es nicht mehr um die Frage geht, ob man reisen will, sondern ob man es darf oder ob man es soll. Unter diesem Aspekt ist die Insel aktuell auch ohne Nebel eine kleine Welt, denn verantwortungsbewusste Zweitwohnungsbesitzer kommen zurzeit nicht her — und andere Gäste dürfen es nicht. Es herrscht, von ein paar (erlaubten) Verwandten auf Festtagsbesuch und einsichtsbefreiten BesucherInnen abgesehen, noch immer „Insulaner unner sück“ auf Langeoog — und das sogar an Weihnachten. Normalerweise wäre jetzt Hauptsaison; Hotels und Restaurants würden aus allen Nähten platzen, ebenso wie sämtliche Ferienwohnungen und überhaupt jedes vermietbare Mauseloch.
Ich empfinde glücklicherweise keine Beengung durch die Unmöglichkeit des Reisens, obwohl ich meine Eltern zweifelsohne auch gerne gesehen hätte. Denn ebenso zweifelsohne bin ich durch meinen Erstwohnsitz gesegnet: Angesichts der Weite des menschenleeren Strandes, der See und des sternenübersääten Winterhimmels ist es zumindest mir nahezu unmöglich, mich hier auf irgendeine Weise eingesperrt zu fühlen. Und die ungewohnte Stille hat gerade jetzt, an Weihnachten, eine ganz eigene Magie.

„Ich bin so froh, dass du jetzt jemanden bei dir hast“, sagt meine Mutter am Telefon, und natürlich freut es mich ebenfalls, meine Freundin an den Festtagen bei mir zu haben, die in ihrem eleganten Winterwollkleid wunderschön aussieht.
Aber es wäre nicht schlimm, allein zu sein. Es war all die Jahre für mich nicht schlimm; da war keine menschenförmige Lücke neben mir, die nur danach schrie, mit einem Partner, einer Partnerin besetzt zu werden. Da waren die Heilige Familie und ich, da war das Jesuskind in seiner Krippe, da war der immerwiederkehrende Zauber der Weihnacht. Und, zugegeben, es lauerte in „normalen“ Jahren sowieso immer ein Haufen Arbeit, weil den mein Beruf gerade zu Festzeiten nun einmal mit sich bringt. Wie hätte da Einsamkeit aufkommen können?

Immer wieder denke ich darüber nach, warum es für einige Menschen so ein Tabu ist, an Weihnachten allein zu sein; mitunter an ein Stigma grenzend. Als dürfe man an sämtlichen Tagen im Jahr alleine sein, aber müsse sich doch bitte zumindest an Weihnachten (hinzugenommen: Silvester, Geburtstag) zwingend vergesellschaften, mit wem auch immer. Ich kann dazu nur sagen, dass ich alleine nie einsam war; unter Menschen, mit denen ich mich nicht wohlfühlte, aber sehr. Und in unglücklichen Beziehungen erst Recht.
In diesem Jahr sind vermutlich mehr Menschen an Weihnachten alleine als sonst. Ein lieber Freund ist in Quarantäne; ihn erwischte der Virus pünktlich zum Fest. Wer keine Familie in der Nähe und kein Auto hat, vermeidet ebenso die Reise; allein der öffentlichen Verkehrsmittel wegen. Vielleicht, denke ich, ist das eine der wenigen positiven Begleiterscheinungen der Pandemie: Mehr Leute als sonst werden aus eigener Erfahrung wissen, dass man es überlebt, an Weihnachten alleine zu sein. Und dass es sich durchaus lohnt, auch für sich alleine etwas Feines zu kochen oder sich einfach einmal selbst(!) Zeit zu schenken. Zeit, von der man (ohne die aktuelle Zwangsentschleunigung durch die Pandemie) doch eigentlich immer zu wenig hatte. Freie, unverplante Zeit: Ist das nicht eines der kostbarsten Luxusgüter dieser Tage?
Man kann es sich schön einrichten in seiner kleinen Welt. Und, sobald sich der Nebel gelichtet hat, umso mehr über die Wunder der großen staunen.

Aber ich blende das Leid nicht aus. Es gibt Menschen, die sich jetzt wirklich einsam fühlen. Deren Liebste in Krankenhäusern um ihr Leben ringen oder die bereits gestorben sind. Oder die sich gerne mit anderen Menschen umgeben würden, dies aber aufgrund der Pandemie jetzt nicht können oder einfach, weil sie niemanden haben. Freunde wachsen nicht auf den Bäumen, und es ist nicht immer gerade dann jemand da, wenn man jemanden bräuchte. Oft sind nämlich genau dann gerade alle weg: Ich kenne das. Ich kenne jede Ausprägung von Alleinsein, und ich werde das auch nicht vergessen, nur weil da jetzt wieder jemand ist, der seine kleine Welt an meine anzuknüpfen wagt: Mit einer romantischen Schnittmenge, aber noch immer genügend Freiraum zu beiden Seiten — Anders ginge es für mich auch nicht.

Aber natürlich weiß ich zu würdigen, dass es meine Eltern freut, mich von jemandem geliebt zu wissen, ob nun an Weihnachten oder wann auch immer. Denn irgendwann müssen sie den Staffelstab des Liebens auf dieser Erde ja weiterreichen, das wissen wir alle — leider.
Nicht zuletzt darum wünsche ich mir, obwohl ich die Stille und Reduktion dieser Weihnacht auch sehr zu schätzen weiß, dass sich die kleine Welt in Kürze vielleicht doch wieder ein wenig weitet: Dass man sich sehen kann, wenn es das Herz befiehlt; und nicht nur dann, wenn es gerade erlaubt ist. Die Zeit auf Erden ist begrenzt: Auch das bekommen wir gerade recht deutlich aufs Butterbrot (respektive die Scheibe Christstollen) geschmiert.
Immerhin, denke ich, den Blick auf die Krippe gerichtet, reicht die Pandemie nicht bis in den Himmel.
Deo gratias.

Frieden

Es ist der erste Tag nach der Abwahl von Donald Trump und die erste Woche des zweiten Lockdowns. Die Insel leert sich; seit dem 2. November dürfen keine Touristen mehr kommen, nur noch Kurgäste und Menschen mit Zweitwohnsitz sind da und mischen sich unter die saisonerschöpften LangeoogerInnen.
Die USA haben den zweiten katholischen Präsidenten und die erste Vizepräsidentin in ihrer Geschichte, und ich mag die Vielfalt, die dieses interessante Gespann verkörpert. Vor allem mag ich die Hoffnung auf Frieden, die beide mit sich bringen. Die Hoffnung auf neue Einheit oder zumindest eine zivilisierte Debattenkultur — statt Spaltung, Niedertracht und Mobbing. Die Hoffnung auf die Re-Etablierung eines Wertesystems, mit dem ich etwas anfangen kann. Wie sonst sollte man seinen Mitmenschen, seinen Kindern noch vermitteln können, dass es nicht nur altruistisch ist, sondern einem auch selber nützt, wenn man die Welt nicht mit Hass vergiftet, sondern sich um Wahrheit, Fairness und Anstand bemüht? Und dass es von Größe zeugt, wenn man lernt, im schlimmsten Misserfolg noch Würde zu wahren und im größten Triumph noch Demut.
Denn leider ist Donald Trump zumindest unter dem Aspekt „schlechtes Vorbild“ weitaus mehr als ein Psychopath mit einer beschissenen Frisur, dem Wortschatz eines trotzenden Dreijährigen, fehlenden Umgangsformen und grottig sitzenden Anzügen: Er ist gefährlich — bzw. er war es. Und es tut so unendlich gut, jetzt in der Vergangenheitsform von diesem vier Jahre währenden Albtraum sprechen zu können.

Es war schön, an diesem Morgen aufzuwachen. In einer Welt, in der man den amerikanischen Präsidenten wieder ernst nehmen konnte und die USA von meiner persönlichen Reiseland-Boykottliste wieder gestrichen wurden. Es war schön, die Welt langsam, aber sicher heilen zu sehen.
Die Freundin lag neben mir; die sanftgelbe Wintersonne schickte ihr Licht durch die frisch gewaschen weißen Vorhänge. Auch die Straße sah frisch gewaschen aus: Im Morgentau waren noch deutlich die Reifenspuren früher Radler erkennbar, auf den Balkonblumen glitzerte es. Und vor uns glitzerte eine Zukunft, vor der wir nun weniger Angst hatten.
Der Friede auf Langeoogs leeren Straßen passte dabei wunderbar ins Bild, selbst wenn dieser durch den Lockdown gewissermaßen erzwungen worden war. Aber auch dieser Friede tat mir nach den übervollen Tagen der Herbstferienzeit einfach nur gut.

In den Zweigen zwitscherten Rotkehlchen, als wir zu einem Spaziergang ans Meer aufbrachen. Jetzt, wo nicht mehr allgegenwärtiges Gewusel, Geklingel und Geschrei aus den Häusern und von den Straßen drang, trauten sich die Vögel wieder hervor und hüpften ohne Scheu vor uns herum. Sogar ein kleiner Zaunkönig ließ sich blicken. Ein winziger, kugeliger Regent in seinem Vorgarten-Reich; mit wippendem Schwanz auf einem Baumstumpf thronend.
Das Meer leuchtete in einem Babyblau, als hätte es ebenfalls zu ganz neuer Unschuld gefunden. Noch zeichnete die Sonne alles weich, aber schon bald gewannen die wärmenden Strahlen an Kraft und verliehen den Dingen Kontur. Es war wirklich wahr: Ein neuer Tag lag vor uns. Und vielleicht auch eine neue, bessere Welt.

Ich ging zur Kirche. Der Kurpriester, ein überaus sympathischer Mensch mit einer gütigen, warmherzigen Ausstrahlung, predigte über das Erkennen des richtigen Zeitpunkts. Wann war es Zeit für eine Veränderung, wann für einen Kurswechsel, wann für ein Aufstehen und Eintreten für das, woran man glaubt und für das, was einem heilig ist?
Natürlich blieb er dabei nah am Lebensweg Jesu und vermied es, politisch zu werden, aber ich zog dennoch für mich Parallelen.
Der Zeitpunkt für die weltpolitische Kursänderung hätte nicht später kommen dürfen. Es musste ein Zeichen gesetzt werden: Mit so einem Charakter? — Bis hier und nicht weiter. Es ist beruhigend, dass viele wahlberechtigte US-AmerikanerInnen genau so gedacht haben müssen.
Aber natürlich ist eine Entscheidung für etwas auch immer eine Entscheidung gegen etwas. Für mich hieß das, mich endgültig von den letzten Trump-Fans im Bekanntenkreis zu verabschieden. Oder von solchen verabschiedet zu werden — es ist beides kein Verlust. Vielmehr bringt es mir ein Gefühl der Befreiung: Auch das stimmt friedlich.

Frieden ist eine schöne Sache. Ich bade mein Herz in all dieser schönen Hoffnung; ebenso wie in dieser noch immer erstaunlichen Liebe, die mir von dem Menschen an meiner Seite entgegengebracht wird. Denn auch die Freundin ist für mich zu einem Stück Frieden in der oft so lauten, kalten, unübersichtlichen und unverständlichen Welt geworden. Tatsächlich fühle ich mich heute umgeben von lauter kleinen Wundern — es ist ein magischer Tag; ein glücklicher Tag. Vor dem Fenster vergoldet die Sonne die restlichen Herbstfarben auf der Insel, und es wäre leicht, zu vergessen, dass dort draußen noch so viel anderer Unfriede tobt. Zum einen politisch betrachtet; zum anderen durch die Pandemie, welche nun auch unseren kleinen Landkreis fest im Griff hat. Und doch möchte ich all das nun einfach für einen Moment vergessen. Für einen kurzen, glücklichen und magischen Moment des Friedens.
Am Ende der Straße sehe ich die Frau, die aus irgendeinem Grunde nicht mehr von meiner Seite zu weichen plant, auf das Haus zumarschieren. Ihre Haare leuchten im späten Sonnenlicht wie frisch polierte Kastanien. Ich sehe, dass sie lächelt.

Momentaufnahme, Besitz

Es ist eine der Nächte, in denen die Natur dem Menschen zeigt, dass sie ihm überlegen ist. Und zwar immer.
Der erste Herbststurm hat die Insel erfasst, obwohl es bis zum meteorologischen Herbstanfang noch ein paar Tage hin ist. Den ganzen Tag lang peitschten Wind und Regen durch die Straßen; das Wasser sammelte sich in zitternden Pfützen vom Ausmaß mittlerer Gartenteiche.
Und nun ist die Nacht hereingebrochen. Angesichts des Tobens, Donnern und Heulens der Naturgewalten vor der Tür sollte man eigentlich nicht mehr das Haus verlassen, aber ich wollte der Freundin den Weg zu mir nicht zumuten — also wage ich mich noch kurz vor Mitternacht hinaus.

Die Dunkelheit verschluckt alles. Zwar habe ich eine Taschenlampe bei mir, aber deren winziger Lichtkegel dient eher dazu, dass mich andere Leute sehen; weniger dazu, dass ich etwas sehe. Auch der Mond nützt mir heute nichts, denn er hängt als schmutziggelbe, schiefe und schmale Sichel zwischen den dunklen Wolkenbergen. Der Wind ist brutal, und ich muss genau gegen ihn anmarschieren. Die Brille wird mir ins Gesicht gedrückt, Tränen laufen, ich komme kaum vorwärts; auch das Luftholen fällt schwer. Dazu das Toben und Brausen in meinen Ohren. Bäume und Sträucher entlang des Weges — sonst vertraut und von pittoresker Harmlosigkeit — umringen mich als bedrohliche, tiefschwarze Gestalten; der Wind lässt die Schatten ihrer Zweige wie Tentakel nach allem fingern, was sich nähert. Obwohl ich sonst die Nächte liebe, wird mir jetzt unheimlich zumute, und ich reiße mir trotz des Regens Kapuze und Mütze vom Kopf, um wenigstens noch irgendetwas hören zu können außer dem Sturm und dem flatternden Stoff an meinen Ohren. Mir wird bewusst, wie hilflos der Mensch wird, wenn man ihm auch nur zwei seiner Sinne zur Orientierung raubt; hier: Das Sehen und Hören. Der Weg zum Haus meiner Freundin erscheint mir ewig, obwohl es unter normalen Wetterbedingungen kaum 5 Minuten zu Fuß sind. Als ich mich gegen die Böen stemme und dabei immer wieder zur Seite und rückwärts gedrückt werde,  bin ich doppelt froh, sie nicht hinausgejagt zu haben bei diesem Wetter, und es beruhigt mich, ihre Fenster von Weitem schon friedlich leuchten zu sehen. Sie sitzt mit einem Buch bei Kerzenlicht und Tee, als ich atemlos hineinpoltere, nach gefühlter Endlosexpedition durch unwirtlichste Welten.

Am nächsten Morgen ist der Spätsommer in aller Pracht zurück. Nur noch ein paar abgerissene Zweige und Pfützenreste erinnern an den Tumult der Nacht; den leuchtend blauen Himmel zieren persilweiße Schönwetterwölkchen. Auch der Wind ist nur noch ein Lüftchen.
Die Freundin ist längst bei der Arbeit, und ich nutze den noch stillen Morgen für einen Ausflug zum Strand. Die Luft ist von herrlich-kühler Frische; Wolken spiegeln sich im Flutsaum, in dem unbeweglich Möwen dösen. Im Priel liegt ein Ast. Drumherum ist absolut nichts. Nicht einmal die See ist noch nennenswert aufgewühlt; sie legt ihre Wellen mit beruhigendem Rauschen ans Ufer. Ich setze mich auf eine verwaiste Schaukel und freue mich über das Wiedersehen mit einer fast verloren geglaubten Liebe. Denn das hier, denke ich, ist das Langeoog, für das ich herzog. Das ist die Insel, in der ich mich spiegele wie der Himmel im Priel, und wo mein Herz sich täglich freischwimmt. Das überlaufene, laute Langeoog des Hochsommers dagegen wird mir zunehmend fremd.

In irgendwelchen Langeoog-Fan-Foren schreiben euphorische Urlaubende oft von „ihrer“ Insel: Unser Langeoog, unser Strand, unser Meer. „Bald bin ich wieder auf meiner Insel.“
Nicht immer behagt mir der Gebrauch dieser Possessivpronomina, weil unter kritischer Betrachtung auch etwas Kolonialistisches dabei mitschwingt, und ich selbst spreche eigentlich nie von „mein“ Langeoog, obwohl ich hier dauerhaft lebe. Aber die Insel gehört mir nicht; auch nicht den Ur-Insulanern, die hier geboren wurden; nicht der Wittmunder Kreisverwaltung, nicht dem Land Niedersachsen, Frau Dr. Merkel oder sonst irgendwem. Langeoog gehört Gott, oder maximal sich selbst, und wir haben lediglich die Gnade, hier wohnen und das Eiland bewirtschaften zu dürfen; für immer oder auf Zeit. Und dass uns die Insel nicht gehört, zeigt uns jede Sturmflut, jeder Orkan und überhaupt jede Naturgewalt, die uns mit Leichtigkeit von diesem Fleckchen Erde kegeln könnte.
Angesichts des galoppierenden Größenwahns in der Gesellschaft (im Großen wie im Kleinen) finde ich es im Übrigen auch nicht verkehrt, ab und zu mal wieder an die eigene Winzigkeit unter dem Himmelzelt erinnert zu werden.

Aber auch wenn ich den Ausdruck nicht mag, so frage ich mich, auf der Schaukel sitzend, jetzt doch: Was ist eigentlich „mein“ Langeoog?
Die permanenten Spannungskopfschmerzen der wuseligen Hochsaisontage verfliegen, als ich meinen Blick über die unberührte, blaue Weite schweifen lasse. Es sind nur wenige Menschen unterwegs; viele allein, einige Paare. Die lärmenden Gruppen sind fort, kein Menschenlaut übertönt mehr die Brandung und das Rufen der Seevögel; die wenigen leisen Gespräche der anderen verweben sich mit der Musik der Natur zu einem harmonischen Grundrauschen.
Es ist kühl genug, um wieder meine geliebten Stricksachen tragen zu können, aber nicht so kalt, das man unterwegs friert. Und nachts kann man sich wieder ein Nest aus kuscheligen Daunendecken bauen; bezogen mit duftendem Leinen oder weichem Flanell, anstatt unter irgendeinem dünnen Laken zu schwitzen. Zum Einschlafen prasselt sanfter Spätsommerregen ans Fenster und morgens weht ein kühler, salziger Duft nach Herbst vom Meer hinein, während Spatzen in Pfützen baden und Finken in fröhlichen Scharen aus den Erlen stieben. Aus den Dünentälern, die jetzt das leuchtende Rotorange von Vogelbeeren und Hagebutten ziert, das satte Grün der Moose und das tiefe Violett der Krähenbeeren, steigt Nebel. Die zunehmenden Temperaturunterschiede zwischen den einzelnen Luftschichten zaubern beeindruckende Quellwolkengebirge; und schon bald badet die Sonne, die jetzt noch wärmt, aber nicht mehr verbrennt, die ganze Landschaft in Gold.

Und das, denke ich, ist dann wohl meine Antwort. Diese friedlichen Spätsommer- und frühen Herbsttage, wenn der Massentorismus ein Ende nimmt und die Natur sich wieder auf ihren berechtigten Thron setzt; wenn man am Strand allein sein kann und wieder eins wird mit der Insel, mit all ihren Gerüchen, Farben und Wundern: Diese Tage zeigen wohl am ehesten „mein“ Langeoog. Ein Langeoog, das ich aber trotzdem nie besitzen möchte, weil es — wie auch wir Menschen — in Freiheit, mit dem nötigen Respekt und aus gesunder Distanz betrachtet — noch immer am Schönsten ist.