Momentaufnahme, Gut

Vor dem Haus steht eine Kiste mit ausrangierten Büchern, daneben eine kleine Spardose. „Standlektüre? Zum Mitnehmen gegen Spende“ sagt ein Schild. Erfahrungsgemäß funktioniert die Kiste gut, ich kann das wissen. Denn es ist meine Kiste.
Normalerweise spende ich überzählige Bücher der Vertrauensbibliothek, aber es gibt Monate, da kreist der Pleitegeier über dem Künstlerhaushalt, und dann ist es gut, wenn man noch den ein oder anderen Euro abends aus der Spardose schütteln kann.
Als ich an diesem Abend schüttele, höre ich nichts, obwohl viele Bücher fehlen.
Schweine, denke ich, zumindest ein Anstandskupferling hätte ja drin sein können. Zwar sah ich vom Fenster aus kurz Freunde in der Kiste wühlen, bei denen ich keinerlei Zweifel hegte, dass sie etwas dalassen, aber vielleicht, denke ich, haben sie ja kein passendes Buch gefunden — und ‚kein Buch, kein Geld‘ ist eine faire Rechnung.
Aber bevor ich mich über die Geiz-ist-Geil-Mentalität im Allgemeinen und Menschen vom Stamme Nimm im Besonderen aufregen kann, schüttele ich die Spardose noch einmal.
Ich höre auch jetzt keine Münzen. Aber das Rascheln von Scheinen.
Was mir am Ende des Tages entgegenfällt, ist also nicht nur ein wiederhergestellter Glaube an das Gute im Menschen, sondern auch der Gegenwert von zwei Tagen Essen oder einem halben Monat Internet.
Dank sei Gott.

„ER sorgt für uns. Auch wenn wir manchmal kaum noch Land sehen. Das glaube ich. Ich habe es oft genug erfahren.“ — Tröstete ich nicht erst kürzlich so einen Menschen, den ebenfalls schlimme Existenzängste plagten? Es ist gut, dass ich nun einmal mehr weiß, dass das keine hohle Phrase ist. 
„I have always depended on the kindness of strangers“, würde ein lieber Freund jetzt vielleicht aus Tenessee Williams’ „A Streetcar named Desire“ zitieren, obwohl dieser Freund als belesener Mensch natürlich weiß, dass die Protagonistin des Theaterstücks alles andere als „kindness“ erfahren hat, als sie diesen Satz sagt. 
Aber wenn man den literarischen Kontext hier außer acht lässt, passt es: Manchmal retten einem eben, man verzeihe den wenig prosaischen Ausdruck — nur noch ein paar Fremde den Arsch.
Und wenn man das nicht tut: Dann passt es auch.
Denn wie oft erwiesen sich zunächst als überaus freundlich auftretende Fremde als das Gegenteil davon? Und wie oft wird Güte von Gier missbraucht? Den Spruch mit dem kleinen Finger und der Hand kennt wohl jeder.
Hinzu kommen die Fälle gespielter Güte aus Gier nach Anerkennung, Altruistischer Narzissmus. Auch nicht fein. 
Es gibt wohl keinen Menschen, der nicht die ein oder andere Variante davon schon erlitten hat. Oder sich der ein oder anderen Variante davon schuldig gemacht hat.
Und doch: Das Ideal der Random acts of kindness. Es existiert.
Da ist zum Beispiel dieser eine Freund, in Schweden, der so riesig ist wie sein Herz. Selbst arm wie eine Kirchenmaus, schickt er mir das Wenige, das er eigentlich selbst nicht hat. Ich tue das auch für ihn, natürlich, aber es ist nicht selbstverständlich, und ich würde es auch nicht erwarten. Es erfüllt mich in demütiger Dankbarkeit und ich weiß, dass Gott ihn sehr dafür liebt. Vermutlich sogar noch mehr als ich.

Ich bin überzeugt, dass das Gute, das wir aus freiem Herzen für andere tun, irgendwann zu uns zurückkommt, Gott entgeht so etwas nicht. Manchmal kommt es nicht von jenen, wo wir damit rechnen sollten. Selten kommt es sofort. Aber es kommt. Und „rechnen“ sollte im Kontext mit Güte eigentlich ohnehin nicht vorkommen. Natürlich sind der materiellen Dienste am Nächsten Grenzen gesetzt — was ich an Geld selbst nicht habe, kann ich nicht herschenken — aber ein liebes Wort muss drin sein. Eine Umarmung. Zeit. Eine Tüte mit Lebensmitteln. Respekt für den Gedemütigten. Augenhöhe für den Gebeugten. Vertrauen für den Verratenen. Fürsprache für den Verleumdeten. Oder die schlichte Frage: Was kann ich tun? Es ist erstaunlich, mit wie wenig man etwas bewirken kann. Es braucht nicht die große Geste. Aber es braucht Aufrichtigkeit.

Abends bin ich am Strand. Nochmal davon gekommen. Die Scheine sind in der Tasche. Es war ein warmer Tag, meine Hosenbeine werden nass, als ich durch den Spülsaum laufe. Mir ist das egal, ich liebe es, hier und jetzt eins mit der Natur zu sein. Mit diesem großen, wunderbaren Geschenk, dass ich jeden Tag vor meiner Tür finde.
Ich liebe das Meer noch immer.
Die Flut kommt, das Wasser läuft in rasender Geschwindigkeit auf. Von einer Sandburg schauen nur noch die Zinnen raus. Bald wird sie verschwunden sein.
So ist das, wenn man auf Menschengeschaffenes baut, denke ich resigniert. Es mag auf den ersten Blick prachtvoll wirken und stabil. Aber letztlich ist es vergänglich, wie wir selbst, wie alles, das uns umgibt. Wir können nichts mitnehmen.
„Das letzte Hemd hat keine Taschen“, sagt mein Vater immer. Aber das Herz lässt sich immer füllen, wenn man es öffnet. Und das Gute an dieser Fülle ist, dass sie wächst, wenn man davon gibt.