Acker

Die ersten Felder sind abgeerntet, das Korn steht in Garben gebündelt, in der Ferne zieht der Trecker seine Bahnen. Ein Schwarm Krähen stiebt aus den Stoppeln wie auf dem berühmten Gemälde Vincent van Goghs — einem seiner letzten. Ein andere Acker wurde bereits umgepflügt. Die Hitze der letzten Tage hat die aufgeworfene Erde staubig werden lassen, grobe Stücke stapeln sich zwischen den Furchen. Der Sommer hat seinen Zenit längst überschritten, die Ernte des Jahres ist eingefahren und nun liegt der Acker brach: Bereit, neues Saatgut aufzunehmen, bereit, sich vom nächsten Regen durchtränken zu lassen, bereit für eine neue Runde Leben.

Ich betrachte das Ganze vom Fenster eines träge vorbeiruckelnden Zuges aus und ich hoffe, dass auch ich so ein Ackerboden bin, jetzt nach bald 8 Wochen in der Klinik. Einmal umgepflügt, und nun wieder zugänglich. Offen für Neues und produktiv. Ich kann wieder Dingen Raum geben; kann sie wachsen lassen und mich gleich mit. Die Kraft ist zurück. Ebenso wie das Licht. Die Zeit in der Klinik geht bald zuende. Der erste Wochenendurlaub steht an, in Kürze dann die Entlassung.
Und tatsächlich: Ich habe Heimweh. Das Schiff ist so voll, dass ich nur unter Deck Platz finde, aber es ist ein schönes Grfühl, nach all den Jahren schon am Fahrgeräusch erkennen zu können, auf welchem Abschnitt der Überfahrt man sich in Etwa befindet, oder in welchem Stadium des Anlegeprozesses die Fähre ist.

Von der Inselbahn aus sehe ich erste bekannte Gesichter. Die Schwalben, die treuen Begleiter sommerlicher Inselbahnfahrten, sehe ich allerdings nicht mehr, ebensowenig wie die duftende Pracht der Kartoffelrosenblüte: Einen Großteil des Inselsommers habe ich verpasst. Eine Weihe kreist über der Weide; die Touristen sind begeistert. „Hast du den Vogel gesehen? Der war riesig!“ Ich schmunzele, denn ich hab mit ebensolcher Faszination hingesehen, auf einmal voll wiederbelebter Liebe zu den Wundern meiner Heimat. Auf einmal kann ich wieder voll nachempfinden, wie es Leuten geht, die nach mehreren Monaten oder gar einem Jahr Abwesenheit das Wiedersehen mit „ihrer“ Insel feiern, und ich freue mich, dass dieses Gefühl zurück ist.
Das hier ist mein Zuhause denke ich. Und dass mir die Freude daran nie wieder jemand nehmen wird. Oder etwas. Keine Depression, kein Mobbing, keine Angst vor explodierenden Lebenshaltungskosten und kalter Wohnung im Winter; keine noch so giftige Gesellschaft oder korrupte „Regierung“. Das hier ist meins. Auf den letzten Metern der Bahnstrecke sauge ich all diese Schönheit in mich auf. Bald werde ich endgültig wieder hiersein. Ich werde bleiben — mit Leib und Seele.

Die Hitze hat auch auf Langeoog gewütet; das bei meiner Abreise noch sattgrüne Gras ist stellenweise verbrannt, ebenso wie die Bienenweide auf meinem Balkon, trotz bestmöglicher Pflege durch liebe Menschen.
Aus dem Briefkasten quillt mir Post entgegen. Werbung, Rechnungen, Postkarten und Zeitschriften. Ich sehe die Sachen nur grob durch. Es ist schön, wieder zuhause zu sein. Die Wohnung erscheint mir kleiner als früher, zugleich aber auch viel schöner. Dinge, an denen ich mich fast sattgesehen hatte, wärmen mir plötzlich wieder das Herz und ich erinnere all die Geschichten hinter den Dingen: Meine Geschichten. Das hier, denke ich, ist kein Zweckbündnis auf Zeit. Das hier bin ich.
Ich möchte wieder hier sein, zwischen meinen eigenen Sachen, bei meinen Pflanzen, in meinem Büro, im eigenen Bett. Und ja, ich freue mich sogar wieder auf die Arbeit.
Der Grauschleier ist fort; diese undurchdingliche Milchglasscheibe zwischen mir und der Welt. Die Depression ist vorbei — wenn auch vielleicht nicht für immer, so doch zumindest fürs Erste. Der Acker ist umgepflügt. Jetzt warte ich auf den nährenden Regen und das erste, kräftige Grün.

Kunst

Zunächst weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Ein Malset zum Geburtstag, für Anfänger und Wiedereinsteiger. Setzte mich das nicht unter Druck, jetzt, da die Schmerzen in meinen Fingern kein kleinteiliges Zeichnen mehr erlaubten, dennoch etwas Kreatives schaffen zu müssen? Hatte es nicht gar etwas Marie-Antoinette-eskes an sich, im Sinne von „Wenn er nicht mehr zeichnen kann, soll er halt malen?“ Hätte es nicht an mir gelegen, mich wieder dafür zu entscheiden? Die Kunst und ich, wir hatten schon eine wesentlich längere Beziehung als die Schenkende und ich, und, bei Gott, es war kompliziert. Fast fühlte ich mich auf unangenehme Weise verkuppelt.

Die überraschende Konfrontation mit dem Thema „Malen“ warf mich unvermittelt in meine Schulzeit zurück; einen Zeitraum, den ich rückblickend verabscheue wie keinen zweiten in meinem Leben. Ich habe die Schule an jedem einzelnen Tag, an den ich mich nicht davor drücken oder schwänzen konnte, gehasst. Außer die Kunststunden. 
Kunst war das einzige Fach, in dem mich die mobbenden Mitschülerinnen in Ruhe ließen und in dem ich nicht der ewige Zweite neben vermeintlich universalbegabten Geschwistern war. Kunst war etwas, das nur mir gehörte; etwas, in das ich mich flüchten konnte und etwas, in dem ich nicht angreifbar war. Kunst war gut, weil ich in Kunst gut war. Der Lehrer gab mir eine Empfehlung für die Kunstakademie in Düsseldorf; kurz darauf fuhr ich zum Tag der offenen Tür hin, betrat die Akademie mit großen Augen und pochendem Herzen als vermeintliches Tor zur Welt meiner Zukunft — und kehrte demütig heim. Ich liebte alles, was ich dort gesehen hatte. Ich liebte die farbbeschmierten Schürzen der Studierenden, die hellen, riesigen Räume; den Esprit, die Kreativität, die alles und jedes winzige Detail und jedes Lebewesen in diesem Gebäude atmete. Ich liebte den Geruch nach Steinstaub, Terpentin und Farben. Aber ich wusste auch: das kann ich nicht. Hier hat der liebe Gott meinem Talent eine deutliche Grenze gesetzt. Die Leute hier an der Akademie waren so, wie ich nie sein würde. Ich trage keinen solchen Geysir an Kreativität in mir und ich besitze weder die Neugier noch die Experimentierfreude oder den Innovationsgeist, um mich in diesem wirklich hart umkämpften Feld durchzusetzen. Und vor allem besitze ich nicht die Frustrationstoleranz, die es für ein Dasein als Berufskünstler braucht; in einem ständig belächelten Berufsfeld, das selbst bei Menschen, die wesentlich talentierter sind als ich, oft kaum die Miete zahlt.
Es folgten Jahre, in denen ich irgendwann nur noch mit Sprache Bilder erschuf. Aber ganz wurde ich die Kunst nicht los. „Man merkt an deinen Texten, dass du viel gemalt hast“, sagte mir eine Sprachdozentin, „,man sieht jedes Detail in Farbe vor sich.“ Bis heute gehört das zu den schönsten Dingen, die mir je jemand in beruflichem Kontext gesagt hat, und ich trug es all die Jahre mit mir wie einen seelischen Notfallproviant — für Zeiten, in denen es wieder dunkel wurde um mich. Letzlich war es aber genau so eine Zeit, in der ich das Malen wieder begann. Genaugenommen: Man zwang mich. In einer Tagesklinik für Menschen mit Depressionen. Dort musste ich kreativ tätig werden, Speckstein schleifen, Malen, Lavendelsäckchen nähen, Basteln, Mosaikkleben, Weben, irgendwas. Ich fürchtete mich davor, weil ich meinen Anspruch an mich selbst fürchtete. Mir war klar, dass diese Tätigkeiten vom Grübeln befreien und der Seele Ausdruck verleihen sollten, wo die Sprache versagte, und auch, dass es dabei nicht um den künstlerischen Wert ging. Aber ich wollte nicht. „Ich war mal ganz gut in sowas“, sagte ich. „Aber irgendwann habe ich eingesehen, dass ich mich nicht mehr steigern kann, egal, wie sehr ich mich anstrenge. Dass mein Talent Grenzen hat. Dass ich nie so gut werden werde, wie ich gern wäre. Das jetzt erneut zu erfahren, zöge mich noch mehr runter.“ Ich glaubte nicht daran, dass es mir helfen würde und fragte, ob ich nicht lieber etwas anderes machen könnte. Ein Beet umgraben, den Sandsack verhauen oder sowas. Es half nichts. Ich musste Malen. Viele Frustrationen und Dutzende Bilder, die ich schamesrot zerknüllte später, zeichnete ich ein Rotkehlchen, das abflugbereit auf dem Rand eines Blumentopfes saß. Die Mitpatienten und Therapeutinnen liebten es und es wurde in den Klinikflur gehängt. Und dann war es kurz zurück: Das Gefühl, dass ich doch irgendetwas konnte.
Es war ein wohliges, duftendes Bad, aus dem mich die nächste toxische Beziehung und der nächste wirtschaftliche Misserfolg aber schnell wieder auskippten. Das Rotkehlchen starb irgendwo allein im Dreck. Es kommt ja nicht nur auf den gelungenen Abflug an. Sondern auch darauf, wo und wie man landet.

Doch das nächste Mal, bei dem ich wieder zu Zeichenstift und Pinsel griff, war erneut mit einem Abflug verbunden. Obwohl ich es damals noch nicht ahnte, leitete ich mit einer Serie von Vogelzeichnungen den Abflug nach Langeoog ein. Es gab Erfolge und Rückschläge mit den Zeichnungen. Verkäufe und Ausstellungen ebenso wie Phasen, in denen kein einziges Bild gelang. Doch das Malen mit Sprache war längst zum ersten, sicheren Standbein geworden: Der Druck, auch mit Pinsel oder Zeichenstift etwas schaffen zu müssen, war weg.

Und nun lag da vor mir dieser Malkasten und der Druck kehrte zurück; ebenso wie alle Erinnerungen. Verschiedene Materialien lagen zum Ausprobieren bereit: Aquarell? Bin ich zu ungeduldig für. Acryl? Riecht und braucht zuviel Platz in der Wohnung. Kohle? Been there, done that. Stoff meiner destruktivsten Teeniephasen. Was eignete sich dafür auch besser als ein Herumsauen in tiefschwarzem Staub? Furchtbare Zeit, weg damit. Ölpastellkreiden? Nur selten gemacht, riecht nicht, trocknet schnell, die Handhaltung bedarf weniger Feinmotorik, also her damit. Tipps bei einer befreundeten Künstlerin mit Expertise in dieser Technik geholt. Freude gehabt. Ergebnisse noch stark ausbaufähig, aber ansehnlich.
Es ging also doch noch ein bisschen. Viele Erinnerungen an Hilfsmittel und Techniken kamen zurück und ich spürte, dass sich ein Dranbleiben lohnen könnte. Und ja, ich hatte das Malen vermisst. Ich hatte vermisst, wie sehr man dabei Raum und Zeit vergessen konnte. Ich hatte vermisst, wie sehr man sich darin verlieren und dabei abschalten konnte, und wie gut es tat, schönen Erinnerungen, Träumen und Phantasien Leben einzuhauchen, indem man sie zu Papier brachte.

Es ist faszinierend zu sehen, wie die Motive im Schaffensprozess eine Eigendynamik entwickeln: wie der Baum, den man im Sommergrün geplant hatte, plötzlich Herbstrot werden möchte; wie das Gewand der Gottesmutter, auf dem Vorlagen-Foto sandfarben, sich fast von alleine Marienblau färbt.
Vor allem aber liebe ich, wie sehr das Malen einen neuen Blick auf Gewohntes ermöglicht. Plötzlich teile ich die Langeooger Dünenlandschaft im Vorbeiradeln in Farbflächen auf. Beobachte Licht und Schatten genauer; überlege, wie ich die Lichtreflexe auf einer Pfütze anlegen könnte oder ihr zartes Wellenspiel. Überlege, wie man welches Motiv abstrahieren könnte. Mit welchen Strukturen man welchen Effekt erzeugen könnte. Knüllen, Kratzen, Streichen? Eine neue Welt öffnet sich, allein dadurch, dass ich jetzt mit diesem neuen — oder wiederbelebten — Blick durch die Gegend fahre. Mir hätte gerade jetzt, zur Pandemiezeit, wo ich nicht reisen und anderswo neue Impulse sammeln kann, eigentlich nichts Besseres passieren können.
Denn auch ich bin inzwischen an einem Punkt, wo ich zugeben muss: Das Reisen fehlt mir. Oft erwische ich mich dabei, wie ich nächtelang im Internet Pauschalreiseangebote anschaue, die ich mir eh nie leisten könnte. Nordlicht-Safari in Norwegen. Thermalquellenbaden auf Island. Ein grasgedecktes Häuschen auf den Färöern: Einsame Landzunge, nur ich, die Seevögel, viele Bücher und der Blick auf winzige Inselchen. Noch mehr Nordlichter. Noch mehr Norwegen: Stabkirchen, Fjorde. Endlose Wälder. Papageientaucher auf schroffen Felsen. Irland, schottische Heide im Nebel und südenglische Küstenromantik. Lavendelfelder irgendwo; der Vatikan und Mont St.Michel. Klöster, uralte Bibliotheken. Freundliche Mönche, die weißen Alben so rein und duftend wie die rosige Unschuld ihrer alterslosen Gesichter. Die Sehnsucht ist groß. Die Unerreichbarkeit auch. Doch nun kann ich all das zu mir holen, indem ich es male. Die ganze Welt ist in uns: Wir müssen sie nur rauslassen. Welche Erkenntnis könnte an Tagen, die sich mit ihren ewiggleichen Routinen zu einer erdrückenden Art von Leere verdichten, denn schöner sein?
Kunst befreit. Kunst heilt. Kunst eröffnet neue Horizonte, ungeachtet der eigenen Talentgrenze. Kunst erweitert das eigene Selbst, wo man sich selbst für limitiert hält: Denn auch ein unter handwerklichen Aspekten schlechtes Bild ist immer noch etwas Selbstgeschaffenes und damit einzigartig und nicht kopierbar — wie eine Menschenseele. Heute kann ich all das bezeugen. Und auch, dass ein auf den ersten Blick falsches Geschenk letzten Endes genau das Richtige sein kann.

Momentaufnahme, Körper

Das Meer wartet noch. Seit einigen Tagen bin ich zurück auf der Insel, krankheitsbedingt ans Haus gebunden, der Weg zum Strand ist zu weit. Aber dieses einzigartige Blau des Himmels am Ende der Straße, hinter der das Meer liegt, lässt mich wissen, dass es da ist. Und auch das leise Wellenschlagen, das sich heute kaum hörbar in das Rauschen des Windes und des Herbstlaubs an den Bäumen webt, erzählt davon. Wie eigenartig es ist, zu dieser Übergangszeit fortgewesen zu sein. Ich betrat das Haus mit Schal und Mütze; im Bad trockneten noch Badehose und Strandtuch. Die abgerissenen Kalenderblätter, die meine liebe Blumensitterin säuberlich auf dem Regal stapelte, berichten von der verronnenen Zeit.
Es fühlt sich an, als hätte ich eine ganze Jahreszeit verpasst; in Wirklichkeit waren es keine drei Wochen. Vor zwei davon steckten noch Chirurgenhände in meinem Gedärm, andere zerrten meine Bauchdecke nach oben, auf der Suche nach etwas, das dort nicht hingehörte und freigeschnitten werden musste. Bei der Narkoseeinleitung hielt eine warmherzige und verständnisvolle Ärztin meine angstzitternde Hand. Ihr Kollege wartete respektvoll, bis ich mich bekreuzigt hatte, bevor er mir kalte Flüssigkeit in die Venen leitete. Ich hatte meinen Frieden. Und dieses Mal ging alles gut.
Mit dem Erwachen war aus dem eher geistig veranlagten Menschen ein durch und durch körperlicher geworden. Im Inneren herrschte eine unheimliche Grabesstille; noch war jede Darmbewegung gelähmt. Aus mir ragten Schläuche; aus der Bauchdecke, aus der Harnröhre. Dann explodierte der Schmerz. Aber ich fühlte, und deswegen wusste ich: Ich bin am Leben. Dank sei Gott.
Mit einer Tablette Oxycodon glitt ich in einen vertrauten Schmerzmittelrausch: So wunderbar, so weich, und so gefährlich. Ich schlief und erwachte davon, das mir kühle zarte Finger über die Wange strichen, ich roch Rosenduft. Ich vermutete die Schwester, aber im Zimmer war niemand. Ein Drogentrip, sagte mir die Vernunft, aber das Herz wollte glauben, dass es jemand vom Himmel war, der mich auf diese Weise tröstete. Der mir damit sagte, dass mir verziehen war und der wollte, dass ich lebte. Zwei Etagen über meinem Zimmer gab es eine Kapelle, ich schleppte mich mit meinen Schläuchen dahin, sobald ich das Bett verlassen durfte.
Nun aber scheint mir auch das schon wieder so weit weg. Auf dem Heimweg döste ich im fast leeren Salon der Fähre und sah den Reflektionen des Wassers an der Decke zu, die das Sonnenlicht durch die Bullaugen des Schiffes dorthin malte.

Nun sehe ich vom Bett aus dem Wolkentreiben zu und horche nach dem Meer. Mittags ist es noch warm genug, um mit Isoliermatte und Schlafsack auf eine Feldliege auf dem Balkon umzuziehen. Eine Primel hat sich von März bis in den Oktober gerettet und erfreut mich mit ihren Blüten und ihrem Vorbild an Lebenskraft. Inselarzt, Freundinnen und Freunde, Kollegen und Eltern kümmern sich. Ich leide keinen Mangel.
Und ich bestaune einmal mehr — und trotz kleinerer Rückschlage — was für ein Wunderwerk der menschliche Körper doch ist. Zwar sind die vier Schnitte in der Bauchdecke noch nicht verheilt, zwar scheint noch immer eine gewisse Unordnung im Gedärm zu herrschen, aber es ist doch erstaunlich, dass es heute überhaupt möglich ist, jemandem den Bauch aufzuschneiden, ohne damit sein Todesurteil zu fällen. Und dass man einen Menschen überhaupt halbwegs schmerzarm da durchbringen kann. Ich habe großen Respekt vor den Errungenschaften der Medizin. Vor allen Pflegenden und Helfenden sowieso. Am meisten aber erstaunt mich das Wunder der Heilung.
Diesem Wunder muss ich nun Zeit zur Entfaltung geben. Es ist nicht immer leicht: Man hat keine Geduld, man schämt sich um Hilfe zu bitten, man ist es nicht gewohnt, sich so sehr mit seiner eigenen Körperlichkeit beschäftigen zu müssen, auf seine physischen Funktionen zu achten und auf seine Grenzen. Ich muss auch mir Zeit geben. Das Meer, in seiner wundervollen Unendlichkeit, wird mich ohnehin überdauern. Es ist da. Und es wird auch weiter warten.

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Momentaufnahme, Skellig

Der Hochsommer hält die Insel in glühenden Zangen. Zwei große Bundesländer haben gleichzeitig Schulferien, die Insel biegt sich vor Touristen.
Die Regale der Lebensmittelgeschäfte sind leer, die Restaurants voll. Vor der Bäckerei, den Eiscafés und Fischbuden bilden sich meterlange Schlangen. Wer auf der Insel lebt und kein Privatier ist, ackert bis zum Umfallen. Es ist laut, es ist wuselig, fast nirgends im Dorf oder an den dorfnahen Strandabschnitten finden Augen und Ohr noch Ruhe. Statt einsamem Vogelruf und Brandungsrauschen: Trotzgebrüll, Ehekrach, wildes Fahrradklingeln und dröhnende Lautsprecher.
Nachts findet man der Wärme wegen kaum Schlaf, und morgens geht es sehr früh mit den Aktivitäten der menschlichen Mitbewohner rund. Ich kann nicht behaupten, dass dies meine Lieblingszeit auf Langeoog wäre.

„Ich fühle mich wie ein Strandspielzeug, bei dem man die Luft rausgelassen hat“, klage ich am Morgen einem Freund, und tatsächlich schleppe ich mich reichlich geplättet durch den Tag: Uninspiriert und übermüdet.
Urlaub muss her. Also genehmige ich mir einen halben freien Tag, miete ein Pedelec und mache mich auf ans Ostende.

Schon kurz vor dem Deich zerrt heftiger Gegenwind an mir, was mich für das treue Summen des Hilfsmotors an meinem Rad überaus dankbar sein lässt. Auf diese Weise ist die Fahrt nicht anstrengend; dennoch ist der Wind unangenehm. Ich blende sein ohrenbetäubendes Rasen aus, indem ich mir die Ohren mit Musik verstöpsele. Loreena McKennitt soll mich begleiten, bis die Langeooger Zivilisation außer Sicht- und Hörweite ist. Die zeitlose Melancholie der Melodien und Texte lässt mich von kühlenden Regennächten, taufeuchter, grüner Weite und schattigen Wäldern träumen, von rauen Klippen, tosender See, von Loyalität, Mut und Gottvertrauen.

Many a year was I
Perched out upon the sea
The waves would wash my tears,
The wind my memory

Vor den Schloppseen mache ich Halt. Das Wasser gleißt tintenblau unter einem makellosen Himmel. Der große Schlopp liegt eingebettet in ein wogendes Blüten- und Schilfmeer wie in einem bunt bezogenen Federkissen. Gänse ziehen vorbei, auf dem Absperrdraht am Ufer reihen sich Schwalben wie eine schwarzglänzende Perlenkette.
Unweit davon ruht ein Turmfalke auf einem Pfosten. Einige Menschen sind mit großen Objektiven nah an ihn herangerobbt, aber es beeindruckt den eleganten Vogel nicht. Mit seinen schönen, dunklen Augen blickt er um sich, aufrecht und würdevoll. Gegenüber, in den Salzwiesen, kreisen Austernfischereltern warnend über ihrem Nachwuchs.

I’d hear the ocean breathe
Exhale upon the shore
I knew the tempest’s blood
Its wrath I would endure

Das Lied, das mich derweil in seinen Bann zieht, heißt „Skellig“ wie die Felseninsel vor Irland, die einst ein Kloster beherbergte. Heute wohnen dort nur noch Seevögel, die Mönche sind seit Jahrhunderten fort. Eine liebe Freundin war einst dort, sie zeigte mir Fotos des schwarzglänzenden Gesteins, der Ruinen des Klosterfriedhofs und Bilder der Papageientaucher, die aus dem Dunst über dem Boot auftauchten. Ihre Erzählungen dazu ließen mich die kalte Gischt auf der Haut spüren, den Schiffsdiesel riechen und die eigenartig unmelodischen Schreie der clownesken Alkenvögel hören. Ich spürte die Erschütterungen der Wellen und ihren dumpfen Aufschlag am Bootsrumpf; die Freundin drehte sich zu mir um und lachte, aber in Wirklichkeit saßen wir gar nicht zusammen im Boot vor Skellig, sondern nur auf ihrem Sofa.

And so the years went by
Within my rocky cell
With only a mouse or bird
My friend, I loved them well
Am Vogelwärterhaus wird es Zeit für eine Rast. Die schönen Kiefern hinter dem Haus beschatten die Aussichtsplattform; hinter der Vogelkiekerwand baden Nilgänse, Möwen und etliche Entenarten in einem Tümpel.
Der Ranger ist gerade dabei, sein Büro abzuschließen, ich sitze mit ihm noch eine Weile vorm Haus.
Vor uns liegen Salzwiese und Vogelkolonie, die allgegenwärtigen Schwalben nisten in der Dachkonstruktion über uns und fliegen zwitschernd ein- und aus. „Das erinnert mich an meine Kindheit“, erzählt der Ranger, „aber wer kennt das heute schon noch.“ Ich lächele und nicke.
Der Menschenlärm ist verstummt, auch der Wind hat nachgelassen. Und so plaudern der Ranger und ich noch ein wenig in die Stille des späten Nachmittags; uns gegenseitig darin bestätigend, welch Glück es ist, hier leben zu dürfen.
Vor dem Abschied verrät mir der Naturexperte noch eine Stelle, an der ich auf Sumpfohreulen treffen könnte. Ich bedanke mich und setze meinen Weg fort.
Über dem Rainfarn links und rechts des Weges tanzen winzige blaue Schmetterlinge, Spatzen klammern sich an üppig erblühte Stauden von Schafgarbe, die schweren Blütendolden taumeln im Wind.

Hinter der Meierei finde ich mehrere Möwenkadaver. Vielleicht vom Hund gerissen, vielleicht vom Habicht. Aber auch das ist Natur. Die Wiese leuchtet derweil in ihren schönsten Farben. Auch hier sind die Schwalben, sie begleiten mich in beeindruckender Geschwindigkeit auf meinem Weg. Ich muss an den heiligen Franziskus denken, wie er den Vögeln predigte, denn auch ich könnte das jetzt problemlos tun, weil die gefiederte Gemeinde ja förmlich an meinen Reifen hängt. Indes: Mir fehlt die Heiligkeit, also erfreue ich mich nur leise an meinen kleinen Weggefährten.

Als ich den Osterhook erreiche, herrscht brüllende Hitze. Ich fühle meine Unterarme verbrennen, aber noch ist der Schatten weit. Es herrscht Niedrigwasser, auf den verschlickten Wattflächen sammeln sich Lemikolen, am Strand liegt der Überrest eines angespülten Schleppnetzes. Dass der Mensch auch überall seine Spuren hinterlassen muss, denke ich traurig. Das Nylonnetz wird noch intakt sein, wenn ich längst verwest bin. Und ist es nicht seltsam? — So vieles erschaffen wir für die Ewigkeit. Und gleichzeitig machen wir so viel kaputt. Und das nicht nur in der Natur, sondern auch in uns. Und zwischen uns.
Die Zeitungen waren voll von Abscheulichkeiten in der letzten Zeit, Hass und Elend überall, und nicht einmal die Kirche ist frei davon. Verglichen mit anderen Ländern und früheren Zeiten geht es uns immer noch verdammt gut, das ja — aber manchmal hege ich Zweifel, ob das so bleibt. Wir sollten in nichts zu sicher sein.

In der Wetterhütte am Osterhook sitzen einige erschöpfte Menschen, ich stelle mich dankbar unter das schattenspendende Dach. Spiekeroog liegt nur ein schmales Seegatt von mir entfernt, ich kann die katholische Kirche der Nachbarinsel von hier aus sehen.

Zwischen St. Peter und mir, auf einer Sandbank im Gatt, scharen sich Möwen um ein angespültes Wrackteil. Auf einer weiteren Sandbank haben sich Segler trockenfallen lassen. Ich bleibe, bis die anderen Menschen gegangen sind. Dann bin ich allein. Nichts ist zu hören außer dem Wind, der durchs Schilfrohr streift, den Lauten der Vögel und der See. Durch meine Zehen quillt Sand, die unzähligen kleinen Muschelschalen schmerzen etwas unter den Sohlen, ebenso wie die sonnenverbrannte Haut. Aber es macht mir nichts aus. Denn hier ist sie: meine ersehnte Einsiedelei, meine Kirche, mein Kloster. My little Skellig. Der Heimweg hat Zeit.

O light the candle, John
The daylight’s almost gone
The birds have sung their last
The bells call all to mass
(Liedzeilen entnommen aus: Loreena McKennitt, „Skellig“. Album: „The Book of Secrets“, 1997. ©Quinlan Road)

 

Momentaufnahme, Drama

Und dann war es plötzlich wieder da, an einem dunstigen, gewittrig-feuchten Spätsommertag. Es sprang einen an wie ein irgendwo im Gesträuch lauerndes Tier, wild und gnadenlos, während sich eine riesige Gewitterwolke über dem Strand ballte, der bis vor wenigen Minuten noch zartblau überdacht worden war. 
Ich fühlte das Wegreißen des dünnen Schorfs wie durch einen kurzen Krallenhieb, zu schnell für irgendeine Reaktion; zu plötzlich, um gleich zu schmerzen. 
Der warme Regen fiel in ersten, dicken Tropfen. Weich, süß. Das Blut rann warm und zäh. 
Ich saß im Strandkorb und vermisste.

So lange nun schwieg er schon. Aber egal, wie unsere Freundschaft endete, dachte ich, während der Himmel auf den Sand weinte, du warst der beste Freund, den ich je hatte.
Ich dachte an seine treuen braunen Augen und daran, dass er mir nie das Gefühl gegeben hatte, irgendeine Mitleidsnummer zu sein oder ein Zeitvertreib. Und auch wenn wir gleichermaßen eloquent waren, gleichermaßen belesen, herrschte nie irgendein Wettbewerb zwischen uns. Im Gegenteil: Wir schenkten uns gegenseitig Worte wie andere Menschen sich Pralinen, Tausende von Seiten lang. Mehr als zwei Jahre lang. Jeden Tag.
Und nun ist da diese Stille und dieses Band, das nicht reißt. Seine Bücher in meinem Regal und die schöne Postkarte, die ich noch immer als Lesezeichen benutze.
Es ist wohl zu früh.

Doch mit dem Nachlassen des Regens verschwand auch das Vermissen. In kurzer, heftiger Anflug von Traurigkeit, dann war es wieder vorbei.
Er hat so viele Meere gesehen, denke ich, als ich mich aus dem Strandkorb erhebe, was nützt es, dass ich nun auf das meine starre und an ihn denke, immer noch. Mein Meer war grau und langweilig, als wir zusammen darauf sahen, gefühlte Äonen her. Sein Hund trottete durch den Flutsaum, roch hier und da an einem Krebs. Er ging als Fremder.

„Das ist die Liebe der Matrosen“ summt mir irgendeine zynische Stimme den alten Schlager ins Ohr. Und dass man es hätte gleich wissen können. Dass dieses wie auch immer geartete Verhältnis gar nicht erst hätte sein dürfen. Dass Kunst noch lange keinen Alltag macht. Aber was wäre das Dasein ohne Kunst, ohne Menschen, mit denen man sich Gedichte schicken kann; Menschen für die die See eben nicht nur eine große Ansammlung von Wasser ist. 
Er hatte das Meer in seiner Seele und war ihm in so vielen Dingen gleich: Unberechenbar, nicht zu greifen, punktuell überraschend kalt. Und dann wieder so tief und unergründlich, so heimatgebend und so schön. Eine Welt, die es sich immer wieder zu entdecken lohnte, gerade weil ich wusste: Ich werde nie fertig damit.

Nach dem Schauer bricht wieder Sonnenlicht durch die Wolken, die jetzt wieder strahlendweiß sind und in harmlose, kleine Flöckchen zerfallen. Die Menschen öffnen ihre Jacken und verlassen den Schutz ihrer Strandzelte. Am Horizont kreuzt ein Schiff der Küstenwache. Das Gefühl verweht, aber ich weiß, dass es mich noch eine Weile umfloren wird wie ein Trauerkranz. Es ist schwer, aufzugeben.

Zu schnell ist alles Vergangenheit. Die Zeit heilt, sagt man, aber ich glaube nicht, dass das auf Liebe oder auch nur auf eine innige Zuneigung zutrifft. Warum sonst sollte man sich in der Kirche ein „Für immer“ versprechen, in guten und in schlechten Tagen, bis das der Tod uns scheidet? Ich glaube an diese Ewigkeit. Ich glaube daran, dass es ein „Für immer“ geben kann, auch wenn es nur selten von gegenseitiger Dauer ist. 

Und dann ist da immer einer, der zurück bleibt mit seinem Teil von Ewigkeit und nicht weiß, wie er das abkürzen soll.
„Gott, hilf mir tragen“ betet man dann vor dem eisernen Kerzenständer unter den Blicken der Gottesmutter, dem Kerzenständer, an dem man so viele Lichter für ihn entzündete. Das Kerzenlicht leuchtet weich und warm wie der Regen; wie die Umarmung, mit der sie das Jesuskind hält.
Und man hofft, dass der HERR die Welle schickt, welche das Gefühl der Ewigkeit des Meeres übergibt und einem das Herz, sauber gewaschen, mit sanfter Dünung zurück ans Ufer legt.

 

Momentaufnahme, Krähen

Das Geschrei der Krähen in den Ästen ist ohrenbetäubend. Die alten Baumkronen sind schwer beladen mit ihren Nestern, an denen, Zweiglein im Schnabel, unermüdlich geflickt wird. Der Widerhall ihres Gekrächzes kleidet das Gewölbe zur Vorburg aus und dringt bis ins Innere der dicken, weißgetünchten Burgmauern.

Hinter diesen beinahe 1000 Jahre alten Mauern stehe ich an einem winzigen Fenster und schiebe die Spitzengardine beiseite; vom Alter patiniert wie die Burg als solche. Die Kammer, in der ich für einige Tage lebe, ist mit den gleichen Möbeln ausgestattet wie sie mein Jugendzimmer aufwies. Das erweckt eine gewisse Nostalgie: Zugleich ist er eigenartig, dieser Stillstand von Jahrzehnten, Jahrhunderten, gar einem Jahrtausend auf so wenig Raum.

Vor dem Fenster fließt ruhig das Wasser im Burggraben. Das Schnattern von Enten mischt sich in das Gezänk der Krähen.

Aber zanken sie überhaupt? Wer weiß, worüber die sich unterhalten, denke ich. Den ganzen Tag geht das so: Kräh, kräh, kräh. Selbst in der Nacht höre ich es vereinzelt noch. Dennoch, das muss ich eingestehen, stresst mich die Dauerberieselung mit dem Geschwätz der Rabenvögel nicht halb so viel wie der Lärm der Welt, vor dem ich hierhin floh.

Die Krähen, denke ich, bewerfen sich in ihrer Kommunikation immerhin nicht mit Dreck. Ihr Geschrei, was auch immer dessen Inhalt sei, beinhaltet eines jedenfalls mit Sicherheit nicht: Neid, Missgunst, Spott, Häme, Verachtung. Da eine Krähe bereits sprichwörtlich der anderen kein Auge aushackt, wird in keinen Laut vorsätzlich Gift gestreut sein; kein Krächzen wird, und sei es auch zuweilen aggressiv, bewusst als verletzende Spitze eingesetzt, es ist, wenn überhaupt, dann ein direkter Angriff ― aber niemals feige, hinterhältig und berechnend. Kein langsam wirkendes Toxin ist darin, kein Kuss eines Verräters, kein kalt lächelnder, schleichender Liebesentzug.
Es wird, so vermute ich, durchaus Besitzanspruch geklärt. Revier verteidigt. Territorium abgesteckt. Das ja. Aber auf eine erholsam durchschaubare, profane, im besten Sinne „bestialische“ Art. Von der Bestie Mensch würde man sich das auch öfter wünschen, resigniere ich, aber da tarnt sich die Aggression doch zu oft hinter falschem Lachen, hinter einem dünnen Mantel an Zivilisation, der weder wirklich zu wärmen noch zu bedecken vermag.  Unter beschwichtigenden Beruhigungen folgt das strategisch geplante Wühlen in Wunden, deren Lage und Tiefe zuvor mit vermeintlich freundschaftlichem Gestus ausgekundschaftet wurde. Man sagt sich: Es ist nicht so schlimm. Es tut bald nicht mehr weh. Es hat auch etwas Gutes.
Doch der nagende Schmerz all der kleinen Demütigungen, die einzeln betrachtet nichtig und in summa vernichtend sind, lässt sich nicht für immer ausblenden. Man wird so müde irgendwann. Zu müde zum Weinen. Zu müde für Wut. Es bleibt nichts bis auf ein in seiner Monotonie narkotisierendes Grundrauschen von Traurigkeit: Einschläfernd, ohne Schlaf zu bringen, lähmend. Ein stilles, sinn- und schmutzloses Verbluten.

Homo homine lupus.

Aber selbst das absichtsloseste Menschengeplauder, fern jeder bösartigen Intention, das Sprechen um des Sprechens willen, weil niemand mehr Stille aushält ― auch daran kann man erkranken, denn irgendwann ist es einfach zu viel, zu schnell, zu laut, zu überall.
Man sehnt sich nach Stille, Inhalt, nach Wahrheit, nach Substanz. Und muss sich doch erst durch den Lärm der eigenen Seele, durch die eigenen Fassaden, durch Schutzwälle, vernarbtes Gewebe, Trümmerreste von Träumen, Sickergruben der Desillusionierung und eine gewaltige Leere wühlen, um auch nur ansatzweise zu finden, was man ersehnt.

Auf der Insel ist die Saison angebrochen, die Karwoche steht kurz bevor. Am Anleger wimmelte es bereits vor Menschen bei meinem Aufbruch. Hier hingegen, in meinem Refugium, wo ich die Terra incognita der Seele im absoluten Nichts des ostfriesischen Niemandslandes zu ergründen suche, liegt die Quote Corvus vs. Homo sapiens bei gefühlten 200:1.
Die abendlichen Lichter in den kleinen, geduckten Friesenhäuschen lassen auf Einwohner schließen, indes: man sieht sie nicht. Auch die Wirtin der Gaststube, in die ich einkehre, huscht wie ein freundliches kleines Gespenst nahezu unsichtbar durch den Raum, zart und blass.
Der einzige andere Gast des Wirtshauses, in dem ich Tee trinke und eine analoge, beruhigend heimelig raschelnde Zeitung lese, entpuppt sich als neu hinzugezogene Pastorin.
Es gibt weit und breit keine katholische Kirche in dieser Ortschaft und auch nicht in den angrenzenden Dörfern, also gehe ich am Palmsonntag zu den Lutheranern und höre mir an, was diese Theologin über Gott zu sagen hat.

Das Haus Gottes steht auf einer Warft und ist so alt wie die Burg; es ist benannt nach einem katholischen Heiligen, aber bereits seit der Reformation evangelisch. Aus dem schiefen, gemauerten Glockenturm schwingt eine gewaltige Bronzeglocke, die bereits seit Jahrhunderten Christen zum Gebet ruft, in Zeiten von Pest, Hunger, Krieg wie auch in Zeiten des Überflusses und prosperierenden Handels.
Die 200 Jahre alte Buche vor der Kirche hat ebenfalls beide Weltkriege überlebt und ist einer der schönsten Bäume, die ich je sah. Zwischen ihrem flechtenüberwachsenen Wurzelwerk verwittern Kreuze und Grabsteine längst profanierter Grabstätten. Schneeglöckchen schmiegen sich zwischen die gewaltigen Lebensadern dieses ehrfurchteinflößenden Gewächses. Wie klein man dagegen ist, wie kurzlebig! Meine ausgespannten Arme könnten kaum ein Fünftel des Stammes umfassen; meine gesamte Lebensspanne ist für die Buche wohl kaum ein Wimpernschlag: ich bin nur eines der Tausenden und Abertausenden Mitgeschöpfe, die im Laufe ihres Lebens unter der perfekt geformten Krone dieses Baumes herumkrochen.
Eine Straße am Rande des Ortes heißt „Galgenhügel“: Über deren Geschichte möchte ich lieber nicht genauer nachdenken. Was ich jedoch spüre ist, dass die Beschäftigung mit der Vergänglichkeit, das Zurechtrücken der eigenen Unwichtigkeit für den Lauf der Welt, dabei hilft, wieder ins Leben zu finden und auch den Lebenswillen zurückzuerlangen.
Was uns eine persönliche Katastrophe erscheint, ist für die Natur: Nichts.
Staub bin ich, Staub werde ich, ebenso wie der Mensch, der mir das Herz brach, und: wie leider alle, die ich geliebt habe, liebe, lieben werde.
Also lohnt sich der Blick aufs Jetzt gar nicht, wenn wir ohnehin fast alle nur eine Randnotiz der Geschichte sind? Doch, denke ich. Das irdische Leben, das Jetzt zu würdigen, bin ich meinem Schöpfer schuldig, nicht nur obwohl, sondern weil ich an das Ewige Leben im Jenseits glaube.

In einem kleinen Wald begegne ich der Ruhe.
Auf einem gefällten Baum sitzt eine Krähe reglos. In ihrem schönen, schwarzen Gewand sieht sie mich an und ich frage mich, ob da nicht doch ein Anflug von List in ihren dunklen Augen blitzt.
Doch den Vogel interessieren meine Fragen nicht. Er wendet den Kopf ab, breitet die Schwingen aus und fliegt mit einer raschen, fließenden Bewegung davon. Ich sehe dem Vogel nach, wie er jetzt hoch oben auf einem Baum thront, näher am Himmel, als ich auf diesem Waldweg sein kann.
Der Flügelschlag verhallt; kurz wähne ich mich in absoluter Stille. Dann füllt das leise Fließen von Wasser die Synkope, das Rascheln von Kleintieren im Unterholz, das ferne Rauschen der Straße. Zuletzt nehme ich auch den omnipräsenten Radau der anderen Krähen wieder wahr.

Es ist noch zu früh für eine Rückkehr in die Welt. An den Wald grenzen Äcker, auf denen sich hungrige Möwen sammeln. Ich werfe ihnen meinen Kummer hin, während ich durch die ausgetretenen Pfade schnüre, als läse ich eine frische Fährte.

BucheDornum

SchlossDornum