Acker

Die ersten Felder sind abgeerntet, das Korn steht in Garben gebündelt, in der Ferne zieht der Trecker seine Bahnen. Ein Schwarm Krähen stiebt aus den Stoppeln wie auf dem berühmten Gemälde Vincent van Goghs — einem seiner letzten. Ein andere Acker wurde bereits umgepflügt. Die Hitze der letzten Tage hat die aufgeworfene Erde staubig werden lassen, grobe Stücke stapeln sich zwischen den Furchen. Der Sommer hat seinen Zenit längst überschritten, die Ernte des Jahres ist eingefahren und nun liegt der Acker brach: Bereit, neues Saatgut aufzunehmen, bereit, sich vom nächsten Regen durchtränken zu lassen, bereit für eine neue Runde Leben.

Ich betrachte das Ganze vom Fenster eines träge vorbeiruckelnden Zuges aus und ich hoffe, dass auch ich so ein Ackerboden bin, jetzt nach bald 8 Wochen in der Klinik. Einmal umgepflügt, und nun wieder zugänglich. Offen für Neues und produktiv. Ich kann wieder Dingen Raum geben; kann sie wachsen lassen und mich gleich mit. Die Kraft ist zurück. Ebenso wie das Licht. Die Zeit in der Klinik geht bald zuende. Der erste Wochenendurlaub steht an, in Kürze dann die Entlassung.
Und tatsächlich: Ich habe Heimweh. Das Schiff ist so voll, dass ich nur unter Deck Platz finde, aber es ist ein schönes Grfühl, nach all den Jahren schon am Fahrgeräusch erkennen zu können, auf welchem Abschnitt der Überfahrt man sich in Etwa befindet, oder in welchem Stadium des Anlegeprozesses die Fähre ist.

Von der Inselbahn aus sehe ich erste bekannte Gesichter. Die Schwalben, die treuen Begleiter sommerlicher Inselbahnfahrten, sehe ich allerdings nicht mehr, ebensowenig wie die duftende Pracht der Kartoffelrosenblüte: Einen Großteil des Inselsommers habe ich verpasst. Eine Weihe kreist über der Weide; die Touristen sind begeistert. „Hast du den Vogel gesehen? Der war riesig!“ Ich schmunzele, denn ich hab mit ebensolcher Faszination hingesehen, auf einmal voll wiederbelebter Liebe zu den Wundern meiner Heimat. Auf einmal kann ich wieder voll nachempfinden, wie es Leuten geht, die nach mehreren Monaten oder gar einem Jahr Abwesenheit das Wiedersehen mit „ihrer“ Insel feiern, und ich freue mich, dass dieses Gefühl zurück ist.
Das hier ist mein Zuhause denke ich. Und dass mir die Freude daran nie wieder jemand nehmen wird. Oder etwas. Keine Depression, kein Mobbing, keine Angst vor explodierenden Lebenshaltungskosten und kalter Wohnung im Winter; keine noch so giftige Gesellschaft oder korrupte „Regierung“. Das hier ist meins. Auf den letzten Metern der Bahnstrecke sauge ich all diese Schönheit in mich auf. Bald werde ich endgültig wieder hiersein. Ich werde bleiben — mit Leib und Seele.

Die Hitze hat auch auf Langeoog gewütet; das bei meiner Abreise noch sattgrüne Gras ist stellenweise verbrannt, ebenso wie die Bienenweide auf meinem Balkon, trotz bestmöglicher Pflege durch liebe Menschen.
Aus dem Briefkasten quillt mir Post entgegen. Werbung, Rechnungen, Postkarten und Zeitschriften. Ich sehe die Sachen nur grob durch. Es ist schön, wieder zuhause zu sein. Die Wohnung erscheint mir kleiner als früher, zugleich aber auch viel schöner. Dinge, an denen ich mich fast sattgesehen hatte, wärmen mir plötzlich wieder das Herz und ich erinnere all die Geschichten hinter den Dingen: Meine Geschichten. Das hier, denke ich, ist kein Zweckbündnis auf Zeit. Das hier bin ich.
Ich möchte wieder hier sein, zwischen meinen eigenen Sachen, bei meinen Pflanzen, in meinem Büro, im eigenen Bett. Und ja, ich freue mich sogar wieder auf die Arbeit.
Der Grauschleier ist fort; diese undurchdingliche Milchglasscheibe zwischen mir und der Welt. Die Depression ist vorbei — wenn auch vielleicht nicht für immer, so doch zumindest fürs Erste. Der Acker ist umgepflügt. Jetzt warte ich auf den nährenden Regen und das erste, kräftige Grün.

Winterliebe

Es ist ein traumhaft schöner Wintertag. Nach einem eher unsanften Auftakt mit heftigem Schneefall, steingrauem Himmel und rabiaten Windböen, zeigt sich die verschneite Insel nun in voller Pracht. Der Schneefall ist zum Erliegen gekommen; das Grau am Himmel ist einem satten, leuchtenden Blau gewichen, durch das nur noch vereinzelt Wolken treiben. Die Müdigkeit der vielen dunklen Tage sitzt mir noch in den Knochen, und ohne berufliche Verpflichtungen hätte ich mich an diesem Tage wohl kaum weit vor die Tür begeben. Doch nun mache ich mich auf zum Hafen, ein Auftrag wartet. Ich hefte die Augen fest auf die Straße, um nicht hinzufallen, und halte immer wieder an, um mir den Winterzauber rechts und links des Weges anzusehen. Nur gedämpft hört man das Schnattern der Graugänse auf den Weiden; sie haben sich in die Nähe schützender Sträucher und Gebäude zurückgezogen.
Ein großer Greifvogel gleitet über mich hinweg; ich kann noch sein dunkelbraunes Gefieder erkennen; vermutlich ein Mäusebussard. Der Greif lässt sich auf einem hohen Baum nieder und späht von diesem Ansitz aus nach Beute.
Je mehr ich mich Hafen und Seedeich nähere, umso mehr Stimmen dringen an mein Ohr: Stimmen, bei denen sich mein Herz öffnet. Ich höre das Trillern von Austernfischern, die wehmütigen Laute Großer Brachvögel, das Piepsen der niedlichen Sanderlinge, dazu Entengeschnatter und natürlich: Möwen. Aus den Bäumen melden sich Rotkehlchen und Meisen; eine Drossel labt sich an letzten Hagebutten.
Die nackten Zweige der Bäume erheben sich majestätisch in den Himmel, der sich am späten Nachmittag schon in Rosé und Apricot färbt. Aber die Sonne hat noch Kraft; ich öffne meine Jacke und lasse mich von Licht und Vogellauten beschenken.
Liebe erfüllt mich: Zu dieser wunderbaren Natur, zu diesem Tag, zu diesem Leben. Und auch in die Insel verliebe ich mich wieder neu, als wäre es nicht schon mein achtes Jahr hier. Beinahe fühle ich wieder die Anfangseuphorie von 2014, als ich in jeder freie Minute in die Natur radelte und dabei jede Farbe, jede Pflanze, jedes Tier mit einer Innigkeit ins Herz schloss, als würden sie mir tags darauf wieder fortgenommen. Nun war bis zu meiner Insel-Ankunft mein Leben auch nicht durch Beständigkeit ausgezeichnet, und so war diese Verlustangst und dieses Gefühl von „Mitnehmen, was geht, solange es nur geht“ vermutlich nur natürlich. Auch heute möchte ich die Insel freilich nicht hergeben, aber es sind mir doch einige Ängste genommen: Die Wohnung ist fest und auch beruflich fühle ich mich endlich angekommen und angenommen. Die Kirche gibt meiner Seele Halt. Es ist ein gutes Leben.

Ich stelle mein Fahrrad in der Nähe des Zugangs zur Deichkrone ab. Das Schloss benutze ich nicht, denn außer mir, Hunderten von Vögeln und ein paar anderen Tieren ist hier niemand. Ich setze meine Fußspur in die eines Feldhasen, der scheinbar ordnungsgemäß den schmalen Weg auf dem Deich entlanggehoppelt ist, ohne auch nur den kleinsten Haken zu schlagen. Doch lange kann ich seine Spur ohnehin nicht verfolgen, weil ich den Blick nicht mehr senken kann: Vor mir breitet sich das Paradies. Zuletzt sah ich Deich, Watt und Salzwiese irgendwann im Herbst aus dieser Richtung. Im Schnee war ich tatsächlich noch nicht hier. Und nun liegt dieser atemberaubend schöne Teil Langeoogs in so traumhaften Farben vor mir, dass ich mich automatisch in die Tundra oder ins sommerliche Spitzbergen versetzt fühle. Tatsächlich erstreckt sich das Weiß des Schnees nicht über die gesamte Landschaft. Ein bisschen grünes Deichgras ist zu sehen, dazwischen die warmen Gelb- und Rottöne der Salzwiese; das tiefe Blau des Meeres und das Graubraun der Schlickflächen. Im Hintergrund erhebt sich die Dünenkette Richtung Ostende; mit ihrer Schneehaube sieht sie aus wie ein stattliches Gebirge. Alles, was in den letzten Tagen, Monaten, Jahren anstrengend und hässlich war auf der Insel, fällt von mir ab, und ich spüre, dass ich diese Euphorie des Frischverliebtseins lange vermisst habe. Ein Verliebtsein, das die Neugier mit sich bringt, immer mehr Facetten am Gegenüber entdecken zu wollen, von denen dann eine schöner als die andere zu Leuchten beginnt. Ich habe das 2014er-Langeooggefühl vermisst. Und nun ist es zurück, als sich die Insel mir an diesem Tage noch einmal ganz neu zeigt.

„Dein Bild in der Hand, träum’ ich vom Schnee / Und nichts tut mehr weh“, singt Ulla Meinecke in dem Lied „Hafencafé“, und ich muss unwillkürlich Lächeln, als mir diese Liedzeile einfällt. Nicht nur, weil sie mich tatsächlich an eine alte Schwärmerei erinnerte — an jemanden, in den ich mich einst während eines Winterurlaubs verguckte und der mir damit sehr über eine andere, äußerst schmerzhafte Erfahrung hinweghalf — sondern auch, weil ich wusste, dass diese Zeile mir auch künftig helfen würde.
Denn immer, wenn mir das Inselleben eine hässliche Seite enthüllen würde — zwischenmenschlichen Unrat oder sonst etwas Gärendes und Faules — würde ich ab jetzt an diesen Satz und an diesen Tag denken. An diesen Anblick. An den schneebedeckten Deich mit der Hasenspur, an die wundervollen Tundra-Farben, an die Sonnenwärme und ans glitzernd vereiste Watt. Und die Rufe der Brachvögel würden mir sagen, dass alles gut wird. Weil alles gut ist.

Momentaufnahme, Platz

Mit dem Eintreffen der Inselbahn für die 7:10-Uhr-Fähre bricht die Sonne durch die Wolken. Wenig später hat sich die Wolkendecke ganz aufgelöst, hier und da zieren noch ein paar winzige Cummulus-Flöckchen den türkisfarbenen Morgenhimmel. Um diese Uhrzeit sind fast nur Insulaner unterwegs, die zu Besorgungen aufs Festland müssen, zum Arzt oder Ähnliches. Das aus Bensersiel eintreffende Schiff spült zunächst eine Ladung ArbeiterInnen auf den Kai; danach werden sofort die Fahrgäste für die Gegenrichtung an Bord gelassen. Abstand halten ist schwierig; dennoch geht das Procedere ruhig und halbwegs gesittet vonstatten. Ich bleibe an Deck, um wegen der Maske besser atmen zu können. Und um mir die Insel endlich einmal wieder aus Touristen-Perspektive ansehen zu können. Denn der einzige, der hier gerade Urlaub macht, bin vermutlich ich.
Tatsächlich verlasse ich die Insel das erste Mal seit Januar wieder für mehrere Tage. Vor uns wendet das Frachtschiff im Hafenbecken. Ich schaue auf seine sprudelnde Hecksee und frage mich, was ich wohl fühlen würde, wenn dies jetzt ein Abschied für immer wäre. Wenn ich die Insel nicht nur für 5 Tage verlassen würde, sondern auf unbestimmte Zeit. Wenn ich dort keine Heimat mehr hätte.
Es ist mir unerträglich. Die anderen Leute an Bord, die Geräusche, sogar das Wendemanöver des hellblauen Frachters — All das verschwindet auf einmal, während sich Herz und Augen an den Konturen der Insel festsaugen, die mit dem Ablegen der Fähre immer kleiner wird. Bald ist der Wasserturm nur noch ein winziger weißer Strich; kurz vor dem Übergang zum Ostende wähne ich meine Wohnung, die still meine Wiederkehr erwartet. All meine Sachen sind darin; meine Bücher, mein ganzes Leben. Und ein paar Meter Luftlinie davon entfernt macht sich der Mensch, der zu mir gehört, wohl gerade für die Arbeit zurecht.
Der Duft aus Salzwasser und Schiffsdiesel, die Schreie der Möwen und die Morgensonne, die das Meer glitzern lässt; die letzten sichtbaren Meter grünendes Ostende: Es ist Heimat. Die Liebe zur Insel ergreift mich plötzlich wieder in einem Ausmaß, das mich nach sechs Jahren fast schon überrascht. Natürlich: Es gab keinen Tag, an dem ich die Wunder der Schöpfung hier nicht täglich aufs Butterbrot geschmiert bekam. Die Langeooger Natur ist überirdisch schön. Aber was ist mit den menschengemachten Hässlichkeiten? Gibt es hier nicht genauso viele UnsympathInnen wie anderswo; nicht mindestens genauso viel Gier, Falschheit, Dummheit und Bösartigkeiten? Ja. Aber einmal mehr ist mir das alles nur egal: „Ich bin hier, weil ich hier hingehör’“, singen MIA in einem Lied meiner jungen Erwachsenenjahre, das inzwischen auch schon uralt ist. Dass ich für etliche „Ureinwohner“ hier eben nicht hingehöre und nie hingehören werden — wie jede Person, die nicht mindestens 10 Häuser mit Abkömmlingen aus 4 Generationen besetzt —: Geschenkt. Es ist auch mein Langeoog.
Unser Langeoog, korrigiere ich mich im Geiste, denn nun gibt es hier ja noch jemanden, den ich in meine Zukunft einplanen muss. Ein Zustand, der, so schön er auch ist, tatsächlich noch ein wenig Gewöhnung bedarf.

Nun aber bin ich erst einmal allein unterwegs. In einem nicht allzuweit entfernten Städtchen warten die Eltern auf mich. Die Freundin wird in Kürze nachkommen, und so sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben für eine Weile vereint und man hat ein wenig Burggefühl in diesen wahnsinnigen Zeiten.

Ich sehe dem Urlaub ruhigen Herzens entgegen. Im Hafen von Bensersiel schaukeln weiße Segelboote. Ich versuche, die hübschen Böötchen jetzt gänzlich mit den Augen eines Touristen zu betrachten: Einfach die Schönheit genießend, ohne Pläne, ohne Termine. Es ist pures Glück. Ich freue mich auf die Reise — Aber auch schon jetzt auf die Wiederkehr.

 

Stilles Glück

Am frühen Morgen steigt Nebel aus tauglitzernden Feldern.
Ein breites, dichtes Nebelband zieht sich durch die Dünentäler wie ein weicher, weißer Schal. Verhüllt sind Gebäude, Bäume, Straßenlaternen. Nur die Anderaskreuze des Bahnübergangs zeichnen sich noch schemenhaft ab, als die erste Inselbahn daran vorbeirattert. Dann bricht die Sonne hervor und taucht die Szenerie in Gold; sofort wird es warm und die Menschen in der Bahn wickeln die Schals ab und öffnen ihre Jacken. 
Ich bin unterwegs zu einem Besuch auf dem Festland. Erneut verspricht es ein strahlend schöner Tag zu werden. 
Der Oktober ist schon weit fortgeschritten; dennoch scheint der Sommer meteorologisch kein Ende zu nehmen. Mit winzigen Unterbrechungen ist es tagsüber noch über 20°C warm und fast durchgehend sonnig. Lediglich die Zugvogelschwärme, die überreifen Sanddornbeeren und das sich verfärbende Laub künden vom angebrochenen letzten Viertel des Jahres.

Auf der Inselkirche haben sich Stare versammelt: Mit ihrem prächtigen, schillernd-gesprenkelten Gefieder sind die kleinen Vögel wunderschön anzusehen; ordentlich Radau machen sie außerdem. Bald werden sie weiterziehen. In der Dämmerung kann man morgens und abends die spektakulären Formationen sehen, zu denen sie sich im Fluge über den Dächern des Inseldorfes, den Dünen, Deichen und Weiden sammeln.
Die Löffler sind bereits fort; die Rotschenkel stehen — „Ein Stein, ein Bein“, wie unser Naturführer sagt — dicht gedrängt an der Hafenmole und lassen ihr sehnsüchtiges „Tjüüt“ erklingen.
Ich sehne mich nach nichts mehr. Ich möchte da sein, wo ich jetzt bin und genau das Leben führen, das ich jetzt führe. Mit der Neugier auf alles, was noch kommen mag — ob Begegnung oder Berufung. Aber es ist kein schmerzerfülltes Vermissen mehr da, keine innere Unruhe mehr, keine bohrenden Fragen nach dem Warum. 
Der Klosteraufenthalt hat mir gut getan. 
Es ist nicht leicht, nach so viel Einkehr wieder in den Alltag zu finden, der auch auf Langeoog sehr trubelig sein kann. Aber die innere Einkehr bringt eine Menge Leichtigkeit in die Dinge.

Die Frühfähre zum Festland ist nicht allzu voll, aber das entgegenkommende Schiff birst bereits vor Menschen: Tagesausflügler, die das schöne Wetter ausnutzen möchten. Ein Saisonende ist noch lange nicht spürbar, wiewohl die ersten Strandkörbe bereits wieder abtransportiert wurden. Und die Herbstferien stehen erst noch bevor. 
Ich verbringe mit meinen Eltern ein paar schöne Stunden im Schlosspark Lütetsburg und in der angrenzenden Stadt Norden. Auch dort ist Lebensqualität spürbar und ich genieße das Flanieren und Schauen, den Kaffee und den Pflaumenkuchen, für den man nicht gefühlt Haus und Hof verkaufen muss: Die Preise haben auch dieses Jahr noch einmal ordentlich angezogen auf Langeoog. 
Aber ich möchte nirgendwo anders mehr sein.

Als ich die letzte Fähre zurücknehme, verabschiedet sich der Tag ebenso spektakulär, wie er begann.
Ein prachtvoller Sonnenuntergang verfärbt den Himmel in weiches Pastell. Die Sonne schickt ihr letztes Licht in goldenen Strahlen durch die Wolken, die aussehen wie die Corona einer kostbaren Monstranz.

Tantum ergo sacramentum
Veneremur cernui,
Et antiquum documentum
Novo cedat ritui,
Præstet fides supplementum
Sensuum defectui

Ich denke an die tägliche Aussetzung und Anbetung im Kloster und wie würdevoll und festlich dieses Ritual doch war. Der Weihrauchduft, der lateinische Gesang, die Kerzen. Die beinahe zärtliche Geste, mit der ein anderer Mönch den Zelebranten in das weiße, goldbestickte Schultervelum hüllte, bevor dieser nach einer tiefen Verbeugung hinter den Altar trat und die Monstranz vor Entnahme der Hostie zur letzten Anbetung emporhob. Die Gläubigen bedeckten derweil das Gesicht.
Das Tageslicht, welches durch die Buntglasfenster der Kirche fiel, spiegelte sich im Goldglanz des liturgischen Geräts und warf seine Reflektionen in reichen Farbfacetten auf das Altartuch.

Und nun, hier an Bord der Langeoog I, lässt der HERR die Schöpfung leuchten, spiegelt sich die Sonne auf stiller See, erstrahlt der Himmel in den Farben der Buntglasfenster. Fast möchte man auch hier in Demut und Ehrfurcht sein Gesicht bedecken.
Es ist so schön.
Mit dem Versinken der Sonne laufen wir in den Heimathafen ein. Es tut so gut, jetzt alle Wege zu kennen. Im Gegensatz zu den Touristen, deren Aufregung mit jedem Meter Bahnstrecke steigt, muss ich mit dem Verlassen der Bahn nicht mehr suchen, keine Karten entfalten oder Apps öffnen. Ich gehe einfach nach Hause.

Momentaufnahme, Norderney

Als die Sonne um 5 Uhr morgens über die Deichkrone flutet und die Wolkenränder erglühen lässt, bin ich sofort hellwach. Ein Ausflug steht an, und so sehr man die Insel auch liebt, so schön ist es doch, auch ab und zu etwas herumzukommen. Aber ich entferne mich nicht weit von Langeoog: Norderney heißt das Ziel; die zweitgrößte der Ostfriesische Inseln, welche 1797 zur ersten Königlich-Preußischen Seebadeanstalt an der deutschen Nordseeküste ernannt wurde. 
Am Hafen besteige ich die LANGEOOG II, mit knapp 33 Metern Länge eines unserer kleineren Seebäderschiffe. Am Kai gegenüber löscht ein Arbeitsschiff Möbelcontainer der Luxusmarke „Rolf Benz“: Die Gentrifizierung hat hat ihre gierigen Ausleger bis Langeoog gestreckt.

Es ist überraschend ruhig auf dem Schiff, keiner der Tagesausflügler an Bord plappert oder quengelt. Die Windrichtung ist Nordost. 
Ich steuere den Kahn nicht, also ist diese Information für mich eigentlich ohne Belang, aber da ich seit Tagen an einer noch nicht ausgestandenen Magen-Darm-Infektion laboriere, könnte sich das Wissen um die Windrichtung, gepaart mit einem Platz nahe der Reling, im worst case durchaus als nützlich erweisen.
Wir legen ab.

An Bord Nachdenken über das Ziel: Der Wikipedia-Eintrag zu Norderney umfasst, ohne Inhalts- und Quellenverzeichnis, 51 Seiten. Meine praktische Erfahrung beschränkt sich auf einen Kurzausflug vor einigen Jahren, in dessen Rahmen ich vor allem die Naturschutzgebiete im fast unbewohnten Ostteil der Insel erkundete. Heute soll es ein Stadtbesuch werden, denn tatsächlich: Auf Norderney befindet sich eine Stadt, welche gleichnamig mit der Insel ist, sich aber nicht über deren ganzes Gebiet erstreckt.

Es riecht nach Diesel und Salzwasser. Wir passieren Baltrum. Dann schält sich das Ostende Norderneys aus dem morgendlichen Dunst, golden beleuchtet von Sonnenstrahlen, die sich aus dichten Cumulus-floccus-Feldern drängen. 
Der Kapitän mahnt aufgrund „vermehrter Schiffsbewegungen“ zum Sitzenbleiben; zwei Teeniemädchen, die sich der Mahnung widersetzen, kreischen vergnügt, als das Schiff bugabwärts in die Wellen taucht und zu rollen beginnt.
Als braver Passagier bleibe ich sitzen, obwohl ich jetzt auch lieber auf dem Achterdeck stünde, Gischt im Gesicht. Aber so schaue ich nur herab auf die brodelnde See und fühle jede Woge in meinem Herzen. Wie ich dieses Element liebe, denke ich ergriffen, wie ich es liebe. Aller Gefahren zum Trotz: Gibt es denn irgendwetwas Schöneres auf der Welt?


Das Bild eines ehemaligen Marinesoldaten, den ich sehr liebgewonnen habe, legt sich in den Anblick der von silbernem Sonnenfunkeln durchwobenen See. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich den Mann jetzt gerne bei mir hätte, um diesen Augenblick zu teilen; um ihm zuzuhören, wie er erzählt von der See — mit seiner schönen Stimme, deren weicher, süddeutscher Einschlag zunächst gar keine Seeaffinität vermuten lässt.
Auf dem Foto, das ich von ihm aus Seezeiten im Herzen trage, hat das Meer dieselbe Farbe wie heute. Weiches Sonnenlicht fließt über das Schanzkleid der Fregatte und legt sich weich auf seine schöne Haut, die vollen, klar gezeichneten Lippen, läuft den Ärmel des blauen Dienstanzugs herab und lässt den Ring an seiner rechten Hand aufgleißen. Ich seufze mit resignierender Wehmut: Es gibt Dinge, die dürften nicht sein.

Der Mann steht lächelnd neben seinen Kameraden; das Schiffchen sitzt akkurat über seinen ebenmäßigen Zügen und er blinzelt ein wenig in die Sonne, der Schatten seidiger Wimpern malt feine Streifen auf sein Gesicht.

Mit einem zweiten wehmütig-resignierenden Seufzen blättere ich die Seite meines inneren Fotoalbums um, oder, zeitgenössischer: Ich wische.


Und so erzähle ich sie auch heute allein, meine Geschichte vom Meer. Und die See liegt vor mir und lauscht, in ihrer stoischen, uralten Ruhe, ungeachtet all des Sich-Türmens, Tobens, Auseinanderstiebens und Brechens an ihrer Oberfläche. 
Norderney dehnt sich steuerbords: Bald sind wir da.

Ich nehme einen Bus in die Stadt. Das erste Ziel ist das 1840 fertig gestellte Conversationshaus, das heute die Touristeninformation, Veranstaltungsräume und eine atemberaubend schöne Bibliothek mit passendem Lesesaal beherbergt. Das prachtvolle Gebäude erinnert an altehrwürdige Seebäder und lässt erahnen, warum Norderney auch heute noch als das „St. Moritz des Nordens“ gilt und zur Hochblüte der Badekultur viele gekrönte Häupter als Gäste begrüßen konnte. 

Auch eine elegante, kleine Café-Bar gehört dazu, wo ich (der Vernunft geschuldet) Kamillentee trinke und (der Unvernunft geschuldet) ein warmes Croissant mit Marmelade esse. Die sich der Unvernunft wegen unvermeidlich einstellende Übelkeit sitze ich in dem eingangs erwähnten Lesesaal aus, geflegte Sanitäranlagen in Reichweite wissend.

Auf einem Sideboard liegt eine reiche Auswahl an analogen Tageszeitungen aus, dazu gibt es Illustrierte und dunkle Holzregale mit Büchern vom Boden bis zur Decke. Mit seinem großen Kamin, den Ledersesseln, champagnerfarbenen, floral gemusterten Seidentapeten und der Bronzeskulptur eines Uhus verströmt der Raum das Flair eines englischen Herrenzimmers mit leichter Kolonialnote. Durch die riesigen Bogenfenster fällt der Blick in den gepflegten Park mit seinen Rosen, weißen Sitzbänken und Springbrunnen. Im sonnendurchfluteten Erker steht ein Flügel, ein frisches Bouquet gefüllter, viktorianischer Rosen steht in einer Kristallvase darauf, darüber majestätische Lüster.
 Stunden könnte ich hier verbringen, was sag ich: Tage, und einziehen könnte ich eigentlich auch. 

Irgendjemand, der das Schild „Tür bitte leise schließen“ am Entree nicht verstanden hat, donnert mich aus meinen Träumen von der Privatisierung dieses Gebäudetraktes, in denen ich am Erkerfenster dichte und der Lieblingsmensch dem Flügel musikalische Poesie entlockt. 

Auch meinem Vater würde es hier gefallen, denke ich, und es dauert mich einmal mehr, dass die Menschen, die einem am Wichtigsten sind, immer so weit weg sind. Und plötzlich wird mir auch klar, warum ich diesen Lesesaal liebe und mich darin geborgen fühle, als wäre ich darin aufgewachsen: Er riecht nach meinem Vater. 
Wenn mich jemand frage würde, welche Gerüche ich mit ihm verbinde, so wären das nämlich zweifelsohne die gedruckte FAZ und Kaffee. Wenn ich früher morgens in die Küche oder ins Wohnzimmer kam, und es roch nach Kaffee und Druckerschwärze, so wusste ich sicher: Papa war hier. Und so riecht es, mit den vielen ausliegenden Zeitungen und den vom Café herüberziehenden Kaffeedüften, auch im Conversationshaus nach Zuhause.

Im Kurpavillon spielt jemand Jazz, und fast sehe ich elegante Damen mit langen Kleidern und Sonnenhüten flanieren, dazu Männer in nicht minder eleganten Dreiteilern mit sonntagsfein gebürsteten Terriern an der Leine. Das dunkle Vibrieren der gezupften Kontrabass-Saiten durchströmt mich wohlig und lässt jede Übelkeit vergessen.


Es wird Zeit für einen Spaziergang. In den Straßen prachtvolle Gründerzeitbauten und Bäderarchitektur; filigrane Geländer, Veranden mit Rosen, Lavendel, Königskerzen; Gußeiserne Nostalgie-Schilder weisen auf Lädchen mit hübschen Dingen.
Natürlich gibt es auch auf Norderney Geschäfte mit dem handelüblichen Küsten-Kitsch sowie Discounter; es gibt einige Bausünden aus dem Siebzigern am Strand sowie schmucklose Nachkriegsbauten, wo britische, kanadische, französische Bomben Lücken in die Prachtstraßen der Insel und ehemaligen Seefestung gerissen haben. 
Auf dem Weg von der Einkaufszone zum Strand passiere ich die Kirche Stella Maris; ein 1931 von Dominikus Böhm im Stil der Neuen Sachlichkeit erbautes Gotteshaus und die größte katholische Kirche in Ostfriesland. 
Auch die befestigte Strandpromenade überzeugt mit mondänem, aber nie angeberischen Charme, wie ich ihn bisher nur von Seebädern auf Rügen — Binz und Sellin — kannte. Es ist ein wunderbares Lebensgefühl: Sommerliche Leichtigkeit.

Der Rückweg führt mich in die Kirche St. Ludgerus, 1884 geweiht. Die neogotische Saalkirche, ein kleiner Backsteinbau, öffnet nach Durchschreiten eines Vorraums mit großem Weihwasserbecken den Blick auf einen Altarraum, der in seinem Purismus unterkühlt wirken könnte, wären da nicht die weich gepolsterte Lederbestuhlung, die blitzende Orgel, die geschmackvollen, großen Blumenarrangements. 
In einem kleinen „Raum der Stille“ lederbezogene Kniebänke, eine aufgeschlagene Bibel, Weihrauchduft. Eine hölzerne Gottesmutter wacht über den Opferkerzen. 
Eine Frau kommt hinein, sie weint. Zuerst denke ich, sie ist nur erkältet, als ich das leise Schniefen vernehme, aber dann sehe ich Tränen in Bächen auf ihren Wangen und ihre zitternde Hand, als sie eine Kerze entzündet. 
Eine Träne tropft auf den Handrücken, die Gottesmutter wirft ihren Schatten darauf, das Kind im Arm. 
Gib ihr Trost, denke ich, denn mir tut die Frau Leid, aber es gibt ja nichts, das ich, ein Fremder für sie tun könnte, ohne anmaßend zu sein. 
Und so entferne ich mich nachdenklich. Meine beiden Kerzen, mit denen ich für diesen wundervollen Tag und all das Glück der vergangenen Wochen dankte, flackern im Luftzug der Tür, als ich St. Ludgerus verlasse.


Draußen tobt die pure Sommerfreude. Kinder herzen die drei großen Bronzerobben, welche die Fußgängerzone zieren; es duftet nach Waffeln, Liebe und Glück. 
Es ist gut, dass es offene Kirchen gibt. Denn wohin, außer zu Gott, sollte man sonst mit seinem Leid an einem Tag, der förmlich überquillt vor Lebensfreude? Seinen Freunden mag man ja auch nicht die Sommerstimmung verderben. In Kirchen indes darf man immer trauern, und auch wenn Maria das Kind in einem Arm trägt: Den anderen hat sie noch frei, und so hoffe ich, dass sich auch für die weinende Frau noch eine Umarmung findet.

Das Wetter ist prachtvoll, und so wandere ich ein zweites Mal Richtung Strand, zur „Marienhöhe“. Die Marienhöhe ist eine 11,5 Meter hohe Düne, welche nach Königin Marie von Hannover benannt ist, die gemeinsam mit ihrem Mann, Georg V. von Hannover, zu Lebzeiten hier häufig kurte. 
Auch Heinrich Heine dichtete auf Norderney: Ihm zu Ehren ließ die Königin einen Pavillon auf der Dünenkuppe errichten, der 1923 durch den heutigen markanten Rundbau ersetzt wurde, welcher ein Café beherbergt. Am Fuße der Marienhöhe indes geht es gerade wenig poetisch zu: Dort keilen sich Möwen um die Eishörnchen leichtsinniger Touristen.

Heinrich Heine weilte 1825, 1826 und 1827 mehrfach auf der Insel und verfasste hier seinen Zyklus „Die Nordsee“ sowie die Reihe „Seestücke“. Heute schaut er als Denkmal, ein Buch in der Hand, gedankenverloren auf das Pflaster vor dem architektonisch nicht allzu reizvollen „Haus der Insel“. In seinem Rücken bewegen sich die schönen Blattfächer alter Kastanienbäume im Wind.


Die Zeit vergeht zu schnell auf Norderney, ich muss zurück. Vor der riesigen FRISIA IV wirkt unsere LANGEOOG II wie ein Spielzeugschiffchen. Die Maschinen laufen, der vertraute Dieselgeruch steigt auf, ein Segler gleitet lautlos ins Hafenbecken. Die Mitreisenden sind müde, die meisten dösen. Auch ich falle nach dem Ablegen in kurzen, festen Schlaf; all die schönen Bilder und neuen Eindrücke speichernd. 


Es gibt nichts Schöneres, als einen Heimathafen zu haben, sei es ein Ort, ein Mensch oder beides. Ich liebe mein Langeoog und die Menschen, die mir Heimat bedeuten. Aber fast noch schöner als einen Platz zu haben, an dem ich sein darf, finde ich das Gefühl, einen Ort zu haben, an den ich zurückkehren kann. An den ich all meine Eindrücke und Bilder bringen kann, um sie neben die gewachsenen und gehegten Erinnerungen zu stellen und dort ebenfalls kostbare Erinnerung werden zu lassen. 

Ich denke an den Lieblingsmenschen und wie sich Geborgenheit und Freiheit in ihm treffen wie die Wolken und das Meer: Wie wir unsere eigene Schönheit im jeweils anderen spiegeln und die seine in uns festschreiben; Stürmen trotzend, ewig.

Momentaufnahme, Neujahr

Nun also der letzte Tag des Jahres. Ehrlich gesagt, gibt es nicht so viel, was ich diesem Jahr noch zu sagen hätte. Politisch wurde sich schon an sehr Vielem abgearbeitet und ich werde mich nicht in die Reihen jener stellen, die zu allem und jedem die Klappe aufmachen müssen, ohne eine Ahnung von der Materie zu haben; die ihre Ideologie bewiesen sehen wollen anstelle von Fakten; die Menschen nicht von einer (im Idealfall: guten) Sache überzeugen, sondern nur Macht gewinnen wollen, indem sie sich als Meinungsmachende gerieren. Für das neue Jahr habe ich diesbezüglich nur den Wunsch, dass angesichts anstehender Wahlen und neuer diplomatischer Herausforderungen Menschlichkeit, Kompromissfähigkeit und Anstand eine von Demagogie, Populismus und Rachegelüsten uneinnehmbare Festung bilden mögen.

Was das Persönliche betrifft, so verliefen die meisten sich Anfang 2016 abzeichnenden Veränderungen im Sande oder entpuppten sich lediglich als kleine, tendenziell unbedeutende biografische Schlenker, welche zügig wieder zum gewohnten Pfad zurückführten. Das im Sommer des Jahres so plötzlich erstrahlte Licht der Liebe am Horizont ist immer noch dort: Am Horizont. Aber solange es nicht zur Gänze erlischt, soll mir auch das Recht sein – schließlich sind auch die wunderschönen Polarlichter im Norden nur ein kurzes, aber dafür zuverlässig wiederkehrendes und beständiges, Leuchten in der Dunkelheit eines langen Winters. Ich kann warten.

Letztendlich hatte ich mir für 2016 ja auch nicht mehr gewünscht, als dass die Eltern am Ende des Jahres noch leben, und das tun sie, der Geräuschkulisse aus Wohnzimmer und Küche nach zu urteilen. Denn tatsächlich schreibe ich diese Zeilen in meinem alten Kinderzimmer, das heute Vaterns Arbeitszimmer ist; die große Fichte, auf deren Spitze ich früher von hier aus sah, um Eichhörnchen und Vögel darin zu beobachten, ragt heute längst über das Dach. Und auch ich bin den meisten Dingen, die diese Wände in sich tragen, heute entwachsen, was mir im Übrigen sehr Recht ist.

Mein Leben ist nun auf Langeoog. Von der gegenüberliegenden Seite des Hauses sieht man auf Garagendächer mit schmutzigen Schneeflecken sowie weitere Reihenhäuser. Ich kann mich an diesen Anblick nicht mehr gewöhnen. Ich brauche die unverbaute Weite, den Blick auf die See, das Nah-Sein an den Elementen, die salzige Luft. Das leise Surren der Elektrokarren statt der Einflugschneise des Düsseldorfer Flughafens und dem erdbebenlauten Poltern der Müllabfuhr.
Meine schöne Inselwohnung vermisse ich wie einen treuen Liebhaber: Mit ihren geschlossenen Rollläden, dem ordentlich gemachten Bett und den ausgestöpselten Elektrogeräten liegt sie im kurzen Winterschlaf, bis ich ihr wieder Leben einhauche.

Dennoch bin ich dankbar, dass ich noch ein Elternhaus habe, in das ich zurückkehren kann. Denn zweifelsohne vermisse ich auch auf Langeoog zuweilen die Dinge, mit denen ich aufwuchs: Die üppig bewaldeten Hügel des Bergischen Lands mit ihren Fachwerk- und Schieferhäusern; die sich durch historische Altstadtkerne schlängelnden, klaren Bäche, aus deren Quellrohren, irgendwo im Wald, man trinken konnte (oder es zumindest einfach machte) und die wir als Kinder ständig irgendwo mit Lehm und Steinen stauten, bis uns der Förster dafür zusammenschiss, seinen schönen Jagdhund an der Leine.

Ich erinnere den pelzig-mehligen Geschmack von Bucheckern, und wie lange es dauerte, bis man auch nur eine halbwegs sättigende Menge davon aufgepult hatte. Die zartgrünen Blätter des Waldmeisters, aus dem wir Limonade ansetzten. Heute steht an der Stelle, an der wir damals den Waldmeister pflückten, ein hipper Hochseilgarten.

Es ist seltsam, all das nun aus der Distanz des Erwachsenseins zu sehen. Einerseits ein sentimentales „ach ja“ im Geiste, klingend wie ein feines Silberglöckchen, andererseits aber auch das drohende Grollen der Vergänglichkeit im Ohr, wenn der Vater über Nachlassdinge zu sprechen wünscht oder dessen Kollegen, die man zuletzt als energiegeladene Jungärzte sah, einen plötzlich weißhaarig und gebeugt begrüßen. Andererseits bringt das Altern aber auch mit sich, dass man nun als der Sohn mit zum Stammtisch darf und in gepflegter Runde bei Weinschorle Konversation betreibt, anstatt am Kinder-Katzentisch mit Schwestern, Cousins und Cousinen vor sich hinsaue(r)n zu müssen.

Und auch aus anderen Gründen ist mir, mit Ausnahme des eigenen körperlichen Verfalls, das Älterwerden und damit jeder neue Jahresbeginn, eigentlich sehr Recht. Denn tatsächlich heilt die Zeit viele Dinge, selbst wenn Einiges ganze Jahrzehnte brauchte. Aber man emanzipiert sich vom Schatten seiner Vergangenheit, von vergangenem Leid, von seinen Fehlern und seinem Scheitern. Ich habe gelernt, dass die Vergangenheit jeden Menschen zwar gewisserweise prägt, aber ihn nicht ausmacht. Man kann sie nie ganz überwinden, aber man kann sie filtern und filtern und wieder filtern, bis nur noch das Gold im Sieb zurückbleibt.

Man kann das auch mit der Zukunft versuchen: Niemals, denke ich, ist man gänzlich Spielball seines Schicksals, auch wenn es sich manchmal so anfühlen mag. Aber wir können uns immer einen Deich bauen, der uns vor der Sturmflut rettet, und ein Fundament, das unsere Träume trägt, selbst wenn diese im Wandel der Zeiten und Gezeiten oftmals ihre Form ändern. Wer gläubig ist, mag sich auch mit der Vorstellung eines göttlichen Plans auseinandersetzen, mit dem Glauben an Fügung und dem festen Vertrauen darauf, dass ER nicht bösartig ist – ungeachtet all des Bösen auf der Welt, in uns und um uns. Damit, dass die Wege des Herrn zwar zuweilen unergründlich sind, aber letztlich doch alles in eine Form fallen lassen, die wir verstehen, und in der wir zuhause sind: Geborgen, geliebt und sicher. Und damit bin ich bei meinen Neujahrswünschen angelangt.
Gesundheit ist eigentlich immer das Wichtigste. Darauf folgt Hoffnung. Und der Rest? Ergibt sich aus den beiden erstgenannten Dingen.

In der Küche liegen drei Krapfen, und die darum entbrannte Diskussion, ob diese nun gezuckert oder glasiert besser sind, zeigt mir in der ganzen Pracht ihrer Alltags-Absurdität vor allem eins: Wir sind am Leben. Und das wiederum ist letztlich doch alles, was zählt – auch 2017.

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Ich wünsche allen Leser_innen, meinen Eltern, meinen Freund_innen, meinem Liebsten ein gesegnetes neues Jahr. Haltet euch einfach an Churchill: „Never give up.“

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