Insel-Inseln

Wieviel Inselsommer mir in diesem Jahr wirklich entgangen ist, merke ich erst, als ich nach der Messe ins Freie trete. Hinter der Kirche hat sich die Sonne bereits tief gesenkt und den Himmel mit pastellfarbenem Dunst überzogen. Ich beeile mich, um von St. Nikolaus ans Meer zu kommen, denn auch den Strand und die wunderbare Weite der offenen Nordsee sah ich lange nicht. Zwar liegt auch die Stadt meines Klinikaufenthaltes im Norden, aber man hat von dort aus lediglich Blick über einen Meerbusen — auch das durchaus hübsch, aber nicht wirklich mit einem Inselstrand vergleichbar. Auch die Luft erscheint mir weicher auf Langeoog; glücklich atme ich ein paar tiefe Züge und genieße das Abendlicht am Flutsaum.
Hinter mir kuschelt sich die Kirche St. Nikolaus in ihr Dünennest. Auch sie hatte ich vermisst wie einen alte Freundin. Nach dem abendlichen Marsch durchs Dorf, wo ich viele Fremde und einige Fremdgebliebene traf, von denen niemand grüßte, öffnete ich mit dem Kirchentor einen Hort der Geborgenheit. Schon von Weitem sah ich unzählige Opferkerzen brennen; fast kein einziger Steckplatz war mehr frei. So viele Gebete, so viel Dank für ein paar schöne Tage auf der Insel, aber natürlich auch: Flehende Bitten, um Trost, Heilung, Zuflucht. Mich rührt jedes Mal, wie gut die Kerzen angenommen werden, an diesem schönen Kirchenstandort zwischen Land und Meer.
Drinnen winkte mir die Organistin und strahlte, bevor sie mit geübter Hand die Königin der Instrumente erklingen ließ. Auch der Kurpriester erkannte mich wieder und nickte beim Einzug, ebenso die Gemeindechefin. Es war schön, vermisst worden zu sein; diese vertrauten, wohlgesonnenen Menschen zu sehen und ihre vertrauten Stimmen zu hören. Mein zweites Zuhause: Ich hege keinen Zweifel daran. Der Priester trug eine bunte Stola mit Langeooger Motiven über seiner Franziskanerkutte: Der Wasserturm war darauf, ein Austernfischer und natürlich das Meer. Auch das brachte ein Gefühl sommerlicher Leichtigkeit. Die letzten Wochen waren nicht leicht. Und auch die nächsten Wochen, Monate werden es vielleicht nicht, aber dennoch wurde ich mir in diesem Moment einmal mehr des Privilegs bewusst, in diesem Naturparadies leben zu dürfen. Mit meinen ganz eigenen, langsam gewachsenen kleinen Inseln der Geborgenheit darauf; so nah am Meer und im Bewusstsein, dort und nirgendwo sonst hinzugehören.

Die See liegt ruhig an diesem Abend und hat sich weit zurückgezogen. Bald ist das letzte Licht des Tages erloschen. Nur mit Mühen kann ich noch die weiße Gischt erkennen. Menschen sind kaum noch unterwegs. Auch der Mensch, der zu mir gehört, ist an diesem Wochenende nicht da, aber wie die Flut wird auch sie wiederkommen, und so gräme ich mich nicht darüber, denn alles, was ich liebe, ist hier — so oder so.

Acker

Die ersten Felder sind abgeerntet, das Korn steht in Garben gebündelt, in der Ferne zieht der Trecker seine Bahnen. Ein Schwarm Krähen stiebt aus den Stoppeln wie auf dem berühmten Gemälde Vincent van Goghs — einem seiner letzten. Ein andere Acker wurde bereits umgepflügt. Die Hitze der letzten Tage hat die aufgeworfene Erde staubig werden lassen, grobe Stücke stapeln sich zwischen den Furchen. Der Sommer hat seinen Zenit längst überschritten, die Ernte des Jahres ist eingefahren und nun liegt der Acker brach: Bereit, neues Saatgut aufzunehmen, bereit, sich vom nächsten Regen durchtränken zu lassen, bereit für eine neue Runde Leben.

Ich betrachte das Ganze vom Fenster eines träge vorbeiruckelnden Zuges aus und ich hoffe, dass auch ich so ein Ackerboden bin, jetzt nach bald 8 Wochen in der Klinik. Einmal umgepflügt, und nun wieder zugänglich. Offen für Neues und produktiv. Ich kann wieder Dingen Raum geben; kann sie wachsen lassen und mich gleich mit. Die Kraft ist zurück. Ebenso wie das Licht. Die Zeit in der Klinik geht bald zuende. Der erste Wochenendurlaub steht an, in Kürze dann die Entlassung.
Und tatsächlich: Ich habe Heimweh. Das Schiff ist so voll, dass ich nur unter Deck Platz finde, aber es ist ein schönes Grfühl, nach all den Jahren schon am Fahrgeräusch erkennen zu können, auf welchem Abschnitt der Überfahrt man sich in Etwa befindet, oder in welchem Stadium des Anlegeprozesses die Fähre ist.

Von der Inselbahn aus sehe ich erste bekannte Gesichter. Die Schwalben, die treuen Begleiter sommerlicher Inselbahnfahrten, sehe ich allerdings nicht mehr, ebensowenig wie die duftende Pracht der Kartoffelrosenblüte: Einen Großteil des Inselsommers habe ich verpasst. Eine Weihe kreist über der Weide; die Touristen sind begeistert. „Hast du den Vogel gesehen? Der war riesig!“ Ich schmunzele, denn ich hab mit ebensolcher Faszination hingesehen, auf einmal voll wiederbelebter Liebe zu den Wundern meiner Heimat. Auf einmal kann ich wieder voll nachempfinden, wie es Leuten geht, die nach mehreren Monaten oder gar einem Jahr Abwesenheit das Wiedersehen mit „ihrer“ Insel feiern, und ich freue mich, dass dieses Gefühl zurück ist.
Das hier ist mein Zuhause denke ich. Und dass mir die Freude daran nie wieder jemand nehmen wird. Oder etwas. Keine Depression, kein Mobbing, keine Angst vor explodierenden Lebenshaltungskosten und kalter Wohnung im Winter; keine noch so giftige Gesellschaft oder korrupte „Regierung“. Das hier ist meins. Auf den letzten Metern der Bahnstrecke sauge ich all diese Schönheit in mich auf. Bald werde ich endgültig wieder hiersein. Ich werde bleiben — mit Leib und Seele.

Die Hitze hat auch auf Langeoog gewütet; das bei meiner Abreise noch sattgrüne Gras ist stellenweise verbrannt, ebenso wie die Bienenweide auf meinem Balkon, trotz bestmöglicher Pflege durch liebe Menschen.
Aus dem Briefkasten quillt mir Post entgegen. Werbung, Rechnungen, Postkarten und Zeitschriften. Ich sehe die Sachen nur grob durch. Es ist schön, wieder zuhause zu sein. Die Wohnung erscheint mir kleiner als früher, zugleich aber auch viel schöner. Dinge, an denen ich mich fast sattgesehen hatte, wärmen mir plötzlich wieder das Herz und ich erinnere all die Geschichten hinter den Dingen: Meine Geschichten. Das hier, denke ich, ist kein Zweckbündnis auf Zeit. Das hier bin ich.
Ich möchte wieder hier sein, zwischen meinen eigenen Sachen, bei meinen Pflanzen, in meinem Büro, im eigenen Bett. Und ja, ich freue mich sogar wieder auf die Arbeit.
Der Grauschleier ist fort; diese undurchdingliche Milchglasscheibe zwischen mir und der Welt. Die Depression ist vorbei — wenn auch vielleicht nicht für immer, so doch zumindest fürs Erste. Der Acker ist umgepflügt. Jetzt warte ich auf den nährenden Regen und das erste, kräftige Grün.

Momentaufnahme, Rückkehr

Mit dem Erwachen wähne ich mich noch hinter dicken, weißgetünchten Klostermauern. In der Geborgenheit einer Zelle, deren hohes Kreuzgewölbe das Bett überspannt wie ein Wiegenhimmel, während die riesigen Doppelfenster den Blick auf den echten Himmel öffnen. Dahinter rauschen Bach und Bäume. Doch heute wird mich kein früher Glockenschlag zum Gebet rufen, wird kein vertrautes Rascheln langer, weißer Chormäntel mehr durch die Stille eines beeindruckenden Kreuzganges hallen und ich werde nicht mehr den Duft uralter Steine riechen, die ein atemberaubend schöner Brunnen mit kristallklarem Wasser besprengt.
Der Rest des Traums verfliegt: Ich bin auf Langeoog.
Der Tag empfängt mich recht mitleidslos. Kalter Regen schlägt an die Scheiben und sprüht in Fontänen aus den Ablaufrinnen, das Backsteinpflaster ist nass und dunkel wie altes Blut. Meine Balkonblumen, durch die Milde des bisherigen Winters noch immer blühend, biegen sich mit den Böen in die Waagerechte. Ich sehe hinaus; noch nicht ganz da und doch zuhause. 
Auch unsere Kirche ruft zum Gebet, obwohl sie kein Geläut besitzt: Die Sonntagsmesse steht an. Mechanisch suche ich mein Regenzeug zusammen, den Fahrradschlüssel, das Kollektengeld. St.Nikolaus erwartet mich mit der stoischen Ruhe eines alten Freundes, der schon so einigen Kummer mit mir gewohnt ist.
Heute haben wir sogar zwei Zelebranten, sodass der Kontrast zum klösterlichen Konventamt mit einem halben Dutzend Priestern nicht ganz so hart ist, aber natürlich bin ich spürbar zurück in der Diaspora, denn es wird keine Kommunionbank mehr herbeigetragen und niemand hält einem ein silbernes Tellerchen unters Kinn, falls man mit dem HERRN krümelt. Dass ich dafür wieder Messdiener sein, in der Sakristei herumkramen und Fürbitten vortragen darf, tröstet indes über den Abschiedsschmerz. Denn so sehr ich das festliche, strenge Zeremoniell des Ordens auch liebe — in St.Nikolaus habe ich meinen Platz und bin dankbar für jeden Dienst, den ich mit Gottes Hilfe dort verrichten darf.

Nach dem Verräumen der Altargegenstände trete ich vor die Kirchentür. Die Wolken haben sich verzogen: Nun vergoldet die Sonne die Welt. Die See hat sich zurückgezogen, in der Ferne sehe ich ihr schönes Blau glänzen. Das Meer ist Heimat, es wird nie anders sein.
Und doch mäandert mein Herz noch irgendwo zwischen Flughafen und Bahnhöfen, zwischen uralten Mauern, pittoresken Dörfchen, frostüberzuckerten Bäumen, Barockkirchen und bewaldeten Berghängen. Noch kann der Blick auf die geliebte Insel die Erinnerung nicht übermalen. Noch fühle ich die elegante Kühle der hohen Gewölbe, die beschützende und zugleich befreiende Klarheit von weißen, fast schmucklosen Wänden und die haltgebende Verlässlichkeit, mit der der wunderschöne Chorgesang der Mönche die Kapelle erfüllt. Und dann ist da noch all die Pracht hinter den imposanten Toren, die kostbare Handschriftensammlung, die Bücherregale, die gewaltig dimensionierten Gemälde, das Kerzenlicht und all das Gold. Auch der Mensch, der all die Tage bei mir war, ist nicht fort; ich sehe ihn das Auto mit beruhigender Routine durch Serpentinen steuern, gefährliche Abgründe neben uns und über uns ein strahlender Himmel, der die meiste Zeit nicht gnädiger hätte sein können.
Vom ersten Winken durchs Bahnhofsfenster bis zum Reisesegen am Flugsteig war mir dieser Mensch ein zuverlässiger Quell der Beständigkeit und Freude, mit seinem ansteckend breiten Lächeln und der unprätentiösen Herzlichkeit, dem norddeutschen Humor und den graublauen Augen in der Farbe dunkler, sturmgepeitschter See. Ich kann nicht behaupten, ihn nicht zu vermissen.

Ich hatte Angst vor dem Flug, aber die teure Reise im Schlafwagen hatte ich mir nur für den Hinweg leisten können. Seit 13 Jahren der Fliegerei entwöhnt, fühlte ich mich wie ein Fossil angesichts all der technischen Neuerungen, der schieren Größe des Flugplatzes und der industriellen Abfertigung der Reisenden. Ich wollte noch am Boden zurück ins Kloster, zum Freund, zum Wald. Aber die Triebwerke röhrten bereits. „Halt dich am Rosenkranz fest“, hatte er noch gesagt. Und das machte ich auch.
Die Alpen durchbrachen die Wolkendecke wie Inseln. Schön sah das aus; ebenso wie die kleinen Eisblumen am Fenster, die in der Sonne glitzerten. Ein Hauch von Trost schlich sich ins Herz, denn tatsächlich fehlten mir auch das Meer und die Weite. Dann riss der Himmel auf und die Schäfchenwolken unter mir trieben wie Eisschollen vorüber. Grüne Äcker kamen in Sicht und Dörfer, in denen ich sofort nach dem Kirchturm spähte. Aber ich fand keinen, und so musste ich mich wohl der Wahrheit stellen: Die Welt, in der sich der Alltag nach keinem Geläut mehr richtete, hatte mich wieder.