Acker

Die ersten Felder sind abgeerntet, das Korn steht in Garben gebündelt, in der Ferne zieht der Trecker seine Bahnen. Ein Schwarm Krähen stiebt aus den Stoppeln wie auf dem berühmten Gemälde Vincent van Goghs — einem seiner letzten. Ein andere Acker wurde bereits umgepflügt. Die Hitze der letzten Tage hat die aufgeworfene Erde staubig werden lassen, grobe Stücke stapeln sich zwischen den Furchen. Der Sommer hat seinen Zenit längst überschritten, die Ernte des Jahres ist eingefahren und nun liegt der Acker brach: Bereit, neues Saatgut aufzunehmen, bereit, sich vom nächsten Regen durchtränken zu lassen, bereit für eine neue Runde Leben.

Ich betrachte das Ganze vom Fenster eines träge vorbeiruckelnden Zuges aus und ich hoffe, dass auch ich so ein Ackerboden bin, jetzt nach bald 8 Wochen in der Klinik. Einmal umgepflügt, und nun wieder zugänglich. Offen für Neues und produktiv. Ich kann wieder Dingen Raum geben; kann sie wachsen lassen und mich gleich mit. Die Kraft ist zurück. Ebenso wie das Licht. Die Zeit in der Klinik geht bald zuende. Der erste Wochenendurlaub steht an, in Kürze dann die Entlassung.
Und tatsächlich: Ich habe Heimweh. Das Schiff ist so voll, dass ich nur unter Deck Platz finde, aber es ist ein schönes Grfühl, nach all den Jahren schon am Fahrgeräusch erkennen zu können, auf welchem Abschnitt der Überfahrt man sich in Etwa befindet, oder in welchem Stadium des Anlegeprozesses die Fähre ist.

Von der Inselbahn aus sehe ich erste bekannte Gesichter. Die Schwalben, die treuen Begleiter sommerlicher Inselbahnfahrten, sehe ich allerdings nicht mehr, ebensowenig wie die duftende Pracht der Kartoffelrosenblüte: Einen Großteil des Inselsommers habe ich verpasst. Eine Weihe kreist über der Weide; die Touristen sind begeistert. „Hast du den Vogel gesehen? Der war riesig!“ Ich schmunzele, denn ich hab mit ebensolcher Faszination hingesehen, auf einmal voll wiederbelebter Liebe zu den Wundern meiner Heimat. Auf einmal kann ich wieder voll nachempfinden, wie es Leuten geht, die nach mehreren Monaten oder gar einem Jahr Abwesenheit das Wiedersehen mit „ihrer“ Insel feiern, und ich freue mich, dass dieses Gefühl zurück ist.
Das hier ist mein Zuhause denke ich. Und dass mir die Freude daran nie wieder jemand nehmen wird. Oder etwas. Keine Depression, kein Mobbing, keine Angst vor explodierenden Lebenshaltungskosten und kalter Wohnung im Winter; keine noch so giftige Gesellschaft oder korrupte „Regierung“. Das hier ist meins. Auf den letzten Metern der Bahnstrecke sauge ich all diese Schönheit in mich auf. Bald werde ich endgültig wieder hiersein. Ich werde bleiben — mit Leib und Seele.

Die Hitze hat auch auf Langeoog gewütet; das bei meiner Abreise noch sattgrüne Gras ist stellenweise verbrannt, ebenso wie die Bienenweide auf meinem Balkon, trotz bestmöglicher Pflege durch liebe Menschen.
Aus dem Briefkasten quillt mir Post entgegen. Werbung, Rechnungen, Postkarten und Zeitschriften. Ich sehe die Sachen nur grob durch. Es ist schön, wieder zuhause zu sein. Die Wohnung erscheint mir kleiner als früher, zugleich aber auch viel schöner. Dinge, an denen ich mich fast sattgesehen hatte, wärmen mir plötzlich wieder das Herz und ich erinnere all die Geschichten hinter den Dingen: Meine Geschichten. Das hier, denke ich, ist kein Zweckbündnis auf Zeit. Das hier bin ich.
Ich möchte wieder hier sein, zwischen meinen eigenen Sachen, bei meinen Pflanzen, in meinem Büro, im eigenen Bett. Und ja, ich freue mich sogar wieder auf die Arbeit.
Der Grauschleier ist fort; diese undurchdingliche Milchglasscheibe zwischen mir und der Welt. Die Depression ist vorbei — wenn auch vielleicht nicht für immer, so doch zumindest fürs Erste. Der Acker ist umgepflügt. Jetzt warte ich auf den nährenden Regen und das erste, kräftige Grün.