Momentaufnahme, Herbstanfang

In das Flussrauschen mischt sich der langezogene Schrei eines Waldkauzes auf der Jagd. Hu-huhuhuhu. Hu-huhuhuhu, wieder und wieder. Durch das weiße Sprossenfenster meiner Klosterzelle schimmert der Abendstern. Bis auf die Eule und das Wasser der Kyll ist kein Laut zu vernehmen, nicht einmal Wind geht. Es ist genau die Art von Stille, nach der ich mich in all dem Trubel der letzten Monate gesehnt habe. Ich höre dem Waldkauz ebenso andächtig zu, wie ich etwas früher am Abend einigen Mönchen unter dem Kirchenfenster beim Singen lauschte. Ein warmes Glücksgefühl durchströmt mich; es ist ein perfekter Moment: Jetzt, hier, an diesem Fenster.
Auch die meteorologische Wärme hat nicht nachgelassen; tagsüber ist es unverändert heiß und auch nachts braucht man gerade einmal einen dünnen Pullover.
Und dennoch kam, quasi über Nacht, der Herbst.

Mit einiger Überraschung stellte ich bei der heutigen Wanderung fest, dass sich die Spitzen der wenigen Laubbäume im Wald bunt verfärbt hatten. Auch das Brombeerlaub entlang der Wege nimmt bereits Herbstfarben an. Nur die unzähligen wilden Orchideen erzählen noch vom Sommer.

Auf Langeoog soll es ebenfalls herbstlich geworden sein, schreibt mir die Freundin, und ich frage mich, wo das Jahr geblieben ist. Dieses Jahr, das wohl für niemanden einfach irgendein Jahr gewesen ist. Das Jahr, das alles veränderte; das Nähe nahm und neue Nähe brachte. Das das Verständnis von Höflichkeitsformen und Distanz teils völlig auf den Kopf stellte und uns neue Prioritäten bei unseren Sozialkontakten setzen ließ.
Lediglich die Nähe zu Gott war noch ohne größeren Aufwand zu bewerkstelligen — freilich auch das nur so lange, wie man im stillen Kämmerlein betete und nicht in die Kirche gehen oder gar die Eucharistie empfangen wollte. Aber auch dafür wurden ja letztlich Lösungen gefunden; und zumindest auf Langeoog waren die Leute mit genug Disziplin bei der Sache, um größere Ausbrüche von Corona-Infektionen zu verhindern.
Obwohl das Jahr noch 2,5 Monate übrig hat, beginne ich schnell mit dem ersten sichtbaren Herbsttag zu bilanzieren. Eine Unsitte vielleicht, denn auch in 2,5 Monaten kann so ein Jahr noch überraschen. Indes bin ich aber froh, diese Bilanz mit einem gesunden Abstand zu Insel, in der Abgeschiedenheit eines 800jährigen Klosters ziehen zu können; wo ich alles, was schön war, Gott zum Dank hinhalten kann — und alles, was nicht schön war, auch. Gott hält das aus.

Die Turmglocke schlägt 22 Uhr: Für Mönche und die anderen Klosterbewohner längst Zeit zum Schlafen. Die Eule schweigt; vermutlich ist sie satt.
Es ist traurig, dass morgen schon der vorletzte Tag anbricht, denke ich. Ich wäre gern noch geblieben: Hätte den Wald in seinem Herbstkleid angeschaut und die schön gewachsenen Obstbäume mit ihren kunstvoll gewundenen Stämmen und knotigen Zweigen. Aber so geht es mir ja in jedem Urlaub — obwohl ich sicher weiß, dass auch der Inselherbst wunderschön sein kann. Noch aber liegt die Insel in weiter Ferne. Noch bin ich hier.