Momentaufnahme, Baden

„HERR, nimm die Schatten von unseren Herzen“, betete der Priester, „Dank sei für die Tage, in denen wir hier Urlaub machen, zur Ruhe kommen und einfach loslassen dürfen.“
Ich bin nicht im Urlaub, aber ich fand die Formulierung mit den Schatten auf dem Herzen, die der HERR doch für uns mit Licht bescheinen möge, sehr gelungen. Sofort hatte ich die Impression einer frisch gebadeten Seele vor Augen, die sich genussvoll in der Sonne breitet; das Herz befreit von Staub, Spinnweben und allen dunklen Ecken.
Und dennoch steckt darin kein Automatismus. Denn um unser Herz aus dem Schatten zu holen, müssen wir uns erst einmal eingestehen, dass dort überhaupt Schatten sind. Und wo. Aber wir können mit der Zuversicht daran gehen, dass das Licht heilt, sobald das lädierte, vernarbte und verstaubte Herz sich erst einmal gen Himmel geöffnet hat. Und manche Dinge sieht man auch im Licht erst deutlich: Die Schönheit, einerseits. Aber auch alles andere.

An einem sonnigen Freitagmittag breite ich meinen lädierten, vernarbten, verstaubten Körper auf einer Decke am Strand aus. Noch keinen Tag fand ich bislang die Muße dafür; Gesicht und Rumpf unterscheiden sich aufgrunddessen inzwischen um mindestens 10 Farbnuancen.
Es ist herrlich. Zwei Stunden nehme ich mir für einen Kurzurlaub auf Langeoog: Das Feriengefühl stellt sich nach zwei Minuten ein.
Ich blicke um mich. Ich sehe so viele glückliche Gesichter. So viele Menschen, unterschiedlich in Alter, Größe, Gewicht, Herkunft und Status, Dialekt und Lebenserfahrung. Und alle eint die Freude daran, zu baden, im Wasser zu waten, sich zu sonnen, am Strand zu spielen oder einfach nur in den Himmel zu schauen. Ihr natürliches Lachen, ihre gedankenverlorenen Blicke: All das finde ich großartig. Und auch die Vielfalt der Menschen finde ich einmal mehr wundervoll. Warum, frage ich mich, sollte der HERR denn auch ausgerechnet beim Menschen an Kreativität gespart haben, wo er doch bei allen anderen Tieren, Pflanzen, dem Meer und sogar bei den Steinen Farben, Formen und Funktionen in allen Facetten erschaffen hat?
Dennoch gibt es leider immer wieder Personen, denen eine uniforme Masse wohl lieber wäre.

„Morgen gehe ich in Badehose an den Strand!“, sagte ich fröhlich einem Bekannten, der kurzfristig zu Besuch gekommen war. Er schwieg mit dem Anflug eines Stirnrunzelns, und ich kenne die Berliner Kreise, in denen er sich sonst bewegt, gut genug, um zu wissen, was das bedeutet. „Ich würde mich an deiner Stelle nicht ausziehen, bis ich trainiertere Arme und abgenommen hätte“, hieß es dann auch, als ich mich am Strand anschickte, den Hemdsaum zu lüpfen. Ich tat es trotzdem und der Mann stand auf und ging alleine zum Meer. Irgendwann kam er wieder, um mich zu fragen, ob es für Instagram nicht besser aussähe, wenn er die Haare nass hat. Und ob ich ihm dabei helfen könne, sie anzufeuchten. „Geh schwimmen, dann biste nass“, sagte ich und verscheuchte mit meinen dünnen Armen eine Fliege.
Der Mann sah missgelaunt auf mich herab. „Ich glaube dir nicht, dass es hier kein Fitnessstudio gibt“, setzte er erneut an, „ich meine: Was macht man denn bitte ohne Gymn? Und jetzt ehrlich, du würdest so viel besser aussehen, wenn …“
„Thank you for answering questions I never asked“, hätte mein lieber Freund F. nun vermutlich gesagt und das Gespräch damit abgewürgt, aber ich erblödete mich leider, darauf einzugehen.
„Ich habe früher sehr viel Sport gemacht, aber nie groß aufgebaut“, erklärte ich, „Definierter wurde ich, das ja. Aber nie kräftig. Ich bin dafür einfach genetisch nicht der Typ und ich finde es auch nicht schön.“ „Dann brauchst Du mehr Testosteron.“ „Nein“. „Wenn man sich anstrengt, wird das schon was.“ „Ich will aber nicht.“ Der Mann starrte mich entgeistert an, schüttelte den Kopf und zog sein Mobiltelefon aus der Tasche. Er scrollte durch GRINDR, wohl in der Hoffnung, jemanden zu finden, der ihm bestätigte, für den Markt noch nicht ganz so tot zu sein wie ich. Und ich war einmal mehr froh, dieser Szene mit all ihren Eitelkeiten, ihrer Show und ihrer Wegwerfliebe entkommen zu sein.

Ich bin kein Unternehmen. Ich muss nicht optimiert werden, ich brauche keinen PR-Berater. Und bei anderen Menschen interessiert mich zuallererst ein schön geformtes Herz. Zweifelsohne mag ich aber Ästhetik, und so habe auch ich nichts dagegen, wenn sich zum schön geformten Herzen noch ein schön geformtes Gesicht oder schön geformte Hände gesellen, aber ohne jenes schöne Herz ist alles andere unansehnlich. Oder wird zumindest sehr rasch entzaubert. Ich hatte im früheren Leben herausragende sinnliche Erfahrungen mit Menschen, die keineswegs gängigen Idealen entprachen. Und entsetzliche mit solchen, die — unter Maßstäben der Modeindustrie — wunderschön waren, sich letztlich aber doch nur sorgten, ob sie in der aktuellen Liegeposition irgendwie dick aussahen.
Ich will das alles nicht mehr.

Es ist legitim, meinen Körper blass, untrainiert, hässlich, verformt oder auf andere Weise defizitär zu finden — aber ich möchte doch bitteschön soviel Souveränität darüber besitzen, dass ich selbst entscheiden kann, ob ich mich am Strand ausziehe oder eben nicht. Und welche Prioritäten ich in meinem Leben setze.

Über mir treibt eine Wolke, die wie ein Flügel aussieht. Ich freue mich darüber. „Der heilige Geist ist auch da“, denke ich und fühle mich augenblicklich beschützt und geborgen. Der Schatten auf meinem Herzen, den die unangenehme Erinnerung erzeugt hatte, verschwindet. In neu gefundener Urlaubsfreude werfe ich all meine Sorgen über eine imaginäre Wäscheleine — und mich in die kühlenden Fluten der Nordsee.
Neben mir badet ein Mann, der mich mit einer entwaffnend herzlichen Offenheit anlächelt. Er hat tolle Zähne und glitzernde Wassertropfen im rotblonden Bart. Auch er ist eher sonnengestreift als sonnengebräunt und hat den Brust- und Bauchansatz eines Mittvierzigers, der in seiner Freizeit lieber mit den Kindern spielt, als im Fitnessstudio zu rackern. Sein kleiner Sohn winkt ihm, vor Freude hüpfend, vom Strand aus zu, und der Mann schwimmt ihm entgegen, um ihn in die Arme zu nehmen. Ich finde die beiden wunderschön.

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