Durst

Es war ein kalter, trockener Frühsommer. Die Temperaturen klammerten sich noch Ende Mai an die 10°C-Marke, obwohl die Sonne schier ununterbrochen gegen die Kälte anzuscheinen versuchte. Regen fiel, wenn überhaupt, nur in homoöpathischen Dosen, die gerade ausreichten, um die erschlafften Blüten und Blätter mit ein paar fotogenen Perlen zu benetzen. In den letzten Tagen hat sich zumindest die Trockenheit ein wenig gebessert, aber ich weiß nicht, was dieser Regen zu retten vermag. Die lang ersehnte Feuchtigkeit lockt den Duft der Kartoffelrosen und Maiglöckchen noch einmal hervor; im Morgendunst singen Nachtigallen, irgendwo verborgen im dichten Rosengestrüpp, das schon mit herbstbraunen Blättern durchsetzt ist. Daneben jedoch, als kleiner Hoffnungsschimmer, zeigt sich ganz neu ins Leben geholtes, frisches Grün, das das verdurstete, welke Laub verbirgt.
Nun steht in wenigen Tagen der meteorologische Sommeranfang bevor. Am Strand ist das längst unübersehbar: Die Saisonausstattung ist vollständig. Strandkörbe, Plankenwege, Spielgeräte, Umkleidehäuschen, Duschen, alles da. Austernfischerküken tapsen durchs Gras, die Highland-Rinder säugen zottelige Kälbchen mit honigfarbenem Fell. Durch die Salzwiesen streicht der Wind und enthüllt ihr sommerliches Farbenspiel.
Dahinter liegen die weiten Wattflächen.
Ich sehe mir das alles an und sehe es dabei doch irgendwie nicht; ich sehe diesen Sommer nur mit den Augen. Herz und Seele schweigen. Die Farbenpracht ist wunderschön und die Tierkinder sind entzückend, und ich weiß, was ich bei dem Anblick fühlen sollte, aber ich fühle nichts. Da ist wieder diese Milchglasscheibe und diese Schallschutzmatte zwischen mir und der Welt; hochgezogen von irgendeiner Leibgarde meiner Seele, über die ich nicht befehlen kann. Die Depression ist zurück.
Nun höre ich schon wieder das Geunke, wie ich denn unglücklich sein könne, denn ich hätte doch alles, allem voran eine Wohnung am Meer, aber man kann tatsächlich eine depressive Episode haben, ohne unglücklich zu sein, denn Depressionen sind nunmal eine Krankheit — und kein temporärer Gemütszustand oder gar ein Gefühl. Vielmehr gehen Depressionen mit einer Art Gefühlstaubheit einher; man ist weder traurig noch fröhlich, sondern einfach … gar nicht. Eine atmende Hülle, die nach außen hin noch eine Weile funktioniert, wie sie es trainiert hat, aber auch das ist endlich. Sonst ist da nichts. Und hinter dem Funktionsmodus nur noch Leere.
Alles ist schwer; das Leben wird zähflüssig. Man kämpft sich mit jeder Bewegung durch dicklichen Sirup, der aber nicht süß ist, sondern so farb-, geschmack- und geruchlos wie alles andere, das einen umgibt, und das man aus der Erinnerung noch lieben oder verabscheuen kann, aber in Wirklichkeit ist da gar nichts. Man kann einen Ausflug machen, um sich abzulenken, und minutenweise funktioniert das auch: Man lacht über einen Witz, bewundert einen hübschen Vogel und die zartgrünen Weizenfelder entlang der Birkenalleen. Man sieht die Schönheit: Die Felder gesäumt von schwarzgrünem Wald, die Zweige der Trauerbirken wehen im Abendwind, die roten Fachwerkhäuser stehen von der Abendsonne vergoldet in kleinen, heimeligen Ansammlungen wie alte Freunde. Grün lackierte Scheunentore mit leuchtenden Rosen davor und riesigen Rhododendren mit plüschigen Hummeln in den Blütentrichtern. Aus dem Wald ruft der Kauz; Störche klappern, aus dem Schilf am Teich quakt es. Der treue Mensch weicht nicht von meiner Seite, ist weich und warm und und liebt und lächelt unerschütterlich; baut einen warmen, weichen Kokon aus Geborgenheit. Und dennoch.
Man fällt zurück in den zähen Sirup; alles verhallt und verschwimmt und verblasst — obwohl man weiß, dass es noch da ist. Und obwohl man weiß, dass es schön ist. Wenn man sich dann dabei ertappt, dass man irgendetwas machen wollte und doch nur minutenlang vor sich hingestarrt hat; dass man tagsüber bald irre wird vor Müdigkeit und nachts doch kein Auge zubekommt, weil da zu viel ist, was einen plagt und sorgt, auch wenn die Vernunft im Hintergrund ebenso vergeblich wie ununterbrochen gegen das Plagen und Sorgen anplappert — dann weiß man, dass die Depression wieder da ist, der schwarze Hund, F 33.2. oder wie immer man das Elend nennen mag.

Depression ist ein bisschen wie diese riesige, weite Wattfläche hinter der Salzwiese, denke ich manchmal. Eine graubraune, plane Ödnis. Allerdings ohne das Glitzern der Siele, ohne all die Geräusche, die vom Leben unter dem Schlamm erzählen. Und im Gegensatz zum Watt bietet eine Depression weder Nahrung noch Lebensraum. Im Gegenteil: Depressionen laugen aus; sie saugen Farbe und Leben aus allem und beschneiden die eigene Welt auf ein Minimum an Funktionsradius. Und mit jedem Außenreiz wird es schlimmer. Dann kommen die körperlichen Symptome: Das schrille Pfeifen im Ohr, die Luftnot, die Erschöpfung, die Muskelschmerzen, der Schwindel und die Schlaflosigkeit. Danach funktioniert gar nichts mehr.
Selbstverständlich tue ich dem Watt mit diesen Vergleichen Unrecht, denn das Watt ist ein wundervolles, faszinierendes Ökosystem, in dem, genauer betrachtet, mehr los ist als auf jeder Partymeile — mit unendlich viel Leben in jedem Kubikzentimeter, mit geschäftigem Gewusel, mit Leben und Sterben, Gedeihen und Vergehen. Die vermeintliche Ödnis, die das Watt auf den ersten Blick bietet, hat ihre ganz eigene, unverwechselbare Schönheit und ist von unschätzbarem Wert.
Sicher gilt das auch für die Wüste und vielleicht sogar für die Mondlandschaft, auch wenn ich beides noch nie mit eigenem Auge gesehen habe. Insofern gibt es wohl keine Landschaft, die sich wirklich mit der Seelenlandschaft eines Depressiven vergleichen ließe, aber Betroffene und deren Angehörige wissen, was ich meine.

Leider gibt es da noch die anderen.
30% aller Deutschen halten Depressionen auch im Jahr 2022 noch für eine Charakterschwäche, las ich dieser Tage. Für einen Fall von Faulheit, von „Stell-dich-nicht-so-an“, von „Lach-mal-die-Sonne-lacht-auch“ und „andere-Menschen-haben-echte-Probleme“. Von diesen kommen dann die Kalenderweisheiten und irgendwelcher esoterischer Klimbim der Richtung „Glücklichsein ist eine Entscheidung“; letzteres entspringt vermutlich der Unsitte, dass einige Menschen umgangssprachlich von „depressiv“ reden, wenn sie lediglich „schlecht drauf“ oder „unglücklich“ meinen. Und nein, es geht auch nicht jeder depressiven Episode ein Schicksalsschlag voraus. Längere Phasen von Stress können eine solche begünstigen; traumatische Erlebnisse auch, aber letztlich springen Depressionen doch recht wahllos Menschen an: Auch schöne, erfolgreiche, glückliche. Tote Film-, Literatur- oder Sportstars sind dafür traurige Beweise. Depressionen sind eine Krankheit, mitunter tödlich. Und es muss vorbei damit sein, dass man nicht darüber reden darf. Ist es nicht vollkommen absurd, dass man für jede harmlose Erkältung Mitgefühl bekommt, sich in einer schweren depressiven Episode aber „halt einfach mal mehr bewegen“ soll? Depressive Menschen sind keine undankbaren Jammerlappen, sondern krank. Nicht mehr, nicht weniger, und in den meisten Fällen sogar behandelbar krank. Depressionen sind nicht immer komplett heilbar, aber doch kontrollierbar. Dafür gibt es Fachärzt:innen und Medikamente. Warum ich das hier erzähle, anstelle ausschließlich ein Farbe und Leichtigkeit sprühendes Glitzerbild des Inselalltags zu zeichnen? Weil es Leben retten kann, darüber zu reden. Und weil Depressionen — ja, tatsächlich — auch reisen und schwimmen können.

Hinweis:
Wer sich hier allzu sehr wiedererkennt — ich habe seit mehr als 3 Jahrzehnten Depressionen und kann die Schwere einer Episode mittlerweile halbwegs einschätzen; folglich auch rechtzeitig Hilfe in Anspruch nehmen. Wer das nicht kann: Bitte ruft lieber einmal zuviel als einmal zu wenig eine Fachärztin, einen Seelsorger, den Krisendienst, den Psychosozialen Dienst oder die Telefonseelsorge (0800-1110111) an. Auch die 116 117 hilft. Bei akuten Suizidgedanken wählt bitte den Notruf 112! Bei der Seelsorge oder dem PSD kann man sich auch als Angehörige:r von depressiven Menschen beraten lasen, Hilfe und Ohr finden. Ihr seid nicht alleine — und die Menschheit besteht tatsächlich nicht nur aus den rohen, unzivilisierten, schadenfrohen und gehässigen Arschlöchern, die unter Artikel über Depressionen und Suizide dämliche Lachsmileys pappen. Da draußen ist auch eine Menge Licht — Immer noch. Alles Liebe!

Kunstversteigerung zugunsten Flutopfer

Moin.

Zugunsten der Betroffenen der Flutkatastrophe versteigere ich via Langeoog News drei meiner Bilder.

Stichtag ist Samstag, 31. Juli. Details siehe Link. Gerne mitmachen und weitererzählen!

https://www.langeoognews.de/langeoog-aktuell/aktuelles/kunstversteigerung-fuer-die-unwetteropfer/

Flut

Auf Langeoog ist das Wetter schön. Regen fällt in dem Maße, wie die Natur es gerade braucht, um ihre Farbenpracht zu erhalten und um die Hagebutten und Äpfel prall und rund werden zu lassen. Die Feriensaison ist in vollem Gange; die Strandkörbe stehen ebenso dicht gedrängt wie die Autos auf dem Parkplatz in Bensersiel, der Fahrradverkehr stockt, die Abstellplätze quellen über. Das Meer plätschert in harmlosem Babyblau vor sich hin. Die Gewalt des Wassers ist kaum zu erahnen.

„Lass uns nach Neviges fahren“, schlug ich der Freundin beim letzten Besuch in meiner Heimatstadt vor, „in diesem Stadtteil gibt es wunderschöne alte Bergische Fachwerk- und Schieferhäuser und zauberhafte kleine Antik- und Devotionalienläden. Und nach Langenberg! Ich kenne dort ein schönes Café, der Bach fließt mittendurch, es ist wirklich idyllisch. Die Gebäude stammen zum Teil noch aus dem 16. Jahrhundert. Fensterläden mit Geranien davor. Wunderbare alte Laternen und Geländer aus Gusseisen. Haustüren mit Messingklopfern. Enge, malerische Gassen.
Aber dann waren zu viele andere Dinge auf der Urlaubs-Agenda, und wir schafften die Stadtteile nicht mehr.

Jetzt hat der Bach die schönen Fachwerkhäuser auseinandergerissen. In einem Fernsehbeitrag sehe ich die Stühle des schönen Cafés im Schlamm. Auch die Blumenkästen mit den Geranien liegen da. Alles ist zerstört. Menschen weinen, die den Dialekt meiner Heimat sprechen.

Auch andere Teile der Republik hat es schlimm erwischt. Eine Freundin sieht ihr Geburtshaus in der Eifel aus den Fluten ragen. Vielleicht wird es zerbrechen, wie so viele andere Häuser, Leben, Träume, Existenzen. Über 100 Menschen sind tot, Hunderte vermisst.
In diesem Sommer erschüttert eine Naturkatastrophe fürchterlichen Ausmaßes das Land und es ist schwer, zwischen all der Ferienidylle vor der Wohnungstür und den schrecklichen Bildern im Fernsehen und in den Zeitungen hin- und herzuschalten.

Immerhin: Die Solidarität und Hilfsbereitschaft ist riesig. Hotels bieten obdachlos gewordenen Menschen kostenfrei Unterbringung an. Baufirmen stellen ihre Fahrzeuge zum Schutträumen zur Verfügung. Unzählige ehrenamtliche Feuerwehrleute, Seelsorger:innen, Sanitätsfachkräfte und Privatleute sind im Einsatz. Natürlich auch THW, DRK, Bundeswehr und alles, was sich mobilisieren lässt. Die Kirchen schicken Geld und Trost, auch auf Langeoog finden etliche Sammel- und Benefizaktionen statt.

Dass einige Unverbesserliche das Elend nun für Wahlkampf instrumentalisieren, für Ideologie aus dem Elfenbeinturm oder für die eigenen Eitelkeiten: Geschenkt. Es verdient keine Aufmerksamkeit — zumindest nicht vor der Wahl. Dass Betrüger:innen mit Spenden durchbrennen: Widerlich. Aber darum soll sich der Herrgott kümmern, wenn diese Leute einst vor ihm stehen.

Für mich sind all diese Bilder und Nachrichten schwer erträglich. Auch der Eifelkreis, in dem ich meinen letzten Herbsturlaub verbrachte, ist schwer getroffen. Der wunderschön glitzernde, kristallklare Fluss mit seinem damals noch so beruhigenden Gurgeln und Glucksen: eine schlammbraune Todesfalle. Die zerstörerische Gewalt von Wasser.
Seit eine liebe Freundin und Redaktionskollegin im Tsunami von 2004 während ihres Thailand-Urlaubs starb, mache ich mir keinerlei Illusionen mehr darüber. Und dennoch schockt es mich immer noch, all diese Trümmer zu sehen und das Leid.

Währenddessen muss ich auf Langeoog dennoch im Ferienmodus funktionieren, ohne zu wissen, wer von den Urlaubenden aus NRW, aus Rheinland-Pfalz, nach seiner Rückkehr noch ein Zuhause hat. Ohne zu wissen, wann meine Eltern ihr Trinkwasser nicht mehr abkochen müssen.
„16 Stunden Sonnenschein sind vorhergesagt, ideale Bedingungen für lange Radtouren und romantische Strandspaziergänge.“
Vor den Strandkörben lacht ein Hochzeitspaar, bunte Drachen steigen in den leuchtend blauen Himmel.
Woanders treiben Familienfotos durch das Hochwasser. Vor den Trümmern eines Hauses liegt ein schlammverkrustetes Kuscheltier.


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Liebe Leser:innen, bitte spendet im Rahmen Eurer Möglichkeiten für die Flutopfer und/oder erkundigt Euch über sinnvolle praktische Hilfsmöglichkeiten. Vergelt’s Gott! Ich werde selbstverständlich auch einen Beitrag leisten und nicht nur Prosa draus machen. Sonst wäre ich ja nicht besser als z.B. einige Personen aus der Politik, die diese Katastrophe für Eigeninteressen ausschlachten.

Mit Geld helfen kann man z.B. hier:

Spendenkonto des Deutschen Roten Kreuzes IBAN: DE63 3702 0500 0005 0233 07 Stichwort: Hochwasser

Spendenkonto Aktion Deutschland Hilft IBAN: DE62 3702 0500 0000 1020 30 Stichwort: Hochwasser Deutschland

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Momentaufnahme, Gut

Vor dem Haus steht eine Kiste mit ausrangierten Büchern, daneben eine kleine Spardose. „Standlektüre? Zum Mitnehmen gegen Spende“ sagt ein Schild. Erfahrungsgemäß funktioniert die Kiste gut, ich kann das wissen. Denn es ist meine Kiste.
Normalerweise spende ich überzählige Bücher der Vertrauensbibliothek, aber es gibt Monate, da kreist der Pleitegeier über dem Künstlerhaushalt, und dann ist es gut, wenn man noch den ein oder anderen Euro abends aus der Spardose schütteln kann.
Als ich an diesem Abend schüttele, höre ich nichts, obwohl viele Bücher fehlen.
Schweine, denke ich, zumindest ein Anstandskupferling hätte ja drin sein können. Zwar sah ich vom Fenster aus kurz Freunde in der Kiste wühlen, bei denen ich keinerlei Zweifel hegte, dass sie etwas dalassen, aber vielleicht, denke ich, haben sie ja kein passendes Buch gefunden — und ‚kein Buch, kein Geld‘ ist eine faire Rechnung.
Aber bevor ich mich über die Geiz-ist-Geil-Mentalität im Allgemeinen und Menschen vom Stamme Nimm im Besonderen aufregen kann, schüttele ich die Spardose noch einmal.
Ich höre auch jetzt keine Münzen. Aber das Rascheln von Scheinen.
Was mir am Ende des Tages entgegenfällt, ist also nicht nur ein wiederhergestellter Glaube an das Gute im Menschen, sondern auch der Gegenwert von zwei Tagen Essen oder einem halben Monat Internet.
Dank sei Gott.

„ER sorgt für uns. Auch wenn wir manchmal kaum noch Land sehen. Das glaube ich. Ich habe es oft genug erfahren.“ — Tröstete ich nicht erst kürzlich so einen Menschen, den ebenfalls schlimme Existenzängste plagten? Es ist gut, dass ich nun einmal mehr weiß, dass das keine hohle Phrase ist. 
„I have always depended on the kindness of strangers“, würde ein lieber Freund jetzt vielleicht aus Tenessee Williams’ „A Streetcar named Desire“ zitieren, obwohl dieser Freund als belesener Mensch natürlich weiß, dass die Protagonistin des Theaterstücks alles andere als „kindness“ erfahren hat, als sie diesen Satz sagt. 
Aber wenn man den literarischen Kontext hier außer acht lässt, passt es: Manchmal retten einem eben, man verzeihe den wenig prosaischen Ausdruck — nur noch ein paar Fremde den Arsch.
Und wenn man das nicht tut: Dann passt es auch.
Denn wie oft erwiesen sich zunächst als überaus freundlich auftretende Fremde als das Gegenteil davon? Und wie oft wird Güte von Gier missbraucht? Den Spruch mit dem kleinen Finger und der Hand kennt wohl jeder.
Hinzu kommen die Fälle gespielter Güte aus Gier nach Anerkennung, Altruistischer Narzissmus. Auch nicht fein. 
Es gibt wohl keinen Menschen, der nicht die ein oder andere Variante davon schon erlitten hat. Oder sich der ein oder anderen Variante davon schuldig gemacht hat.
Und doch: Das Ideal der Random acts of kindness. Es existiert.
Da ist zum Beispiel dieser eine Freund, in Schweden, der so riesig ist wie sein Herz. Selbst arm wie eine Kirchenmaus, schickt er mir das Wenige, das er eigentlich selbst nicht hat. Ich tue das auch für ihn, natürlich, aber es ist nicht selbstverständlich, und ich würde es auch nicht erwarten. Es erfüllt mich in demütiger Dankbarkeit und ich weiß, dass Gott ihn sehr dafür liebt. Vermutlich sogar noch mehr als ich.

Ich bin überzeugt, dass das Gute, das wir aus freiem Herzen für andere tun, irgendwann zu uns zurückkommt, Gott entgeht so etwas nicht. Manchmal kommt es nicht von jenen, wo wir damit rechnen sollten. Selten kommt es sofort. Aber es kommt. Und „rechnen“ sollte im Kontext mit Güte eigentlich ohnehin nicht vorkommen. Natürlich sind der materiellen Dienste am Nächsten Grenzen gesetzt — was ich an Geld selbst nicht habe, kann ich nicht herschenken — aber ein liebes Wort muss drin sein. Eine Umarmung. Zeit. Eine Tüte mit Lebensmitteln. Respekt für den Gedemütigten. Augenhöhe für den Gebeugten. Vertrauen für den Verratenen. Fürsprache für den Verleumdeten. Oder die schlichte Frage: Was kann ich tun? Es ist erstaunlich, mit wie wenig man etwas bewirken kann. Es braucht nicht die große Geste. Aber es braucht Aufrichtigkeit.

Abends bin ich am Strand. Nochmal davon gekommen. Die Scheine sind in der Tasche. Es war ein warmer Tag, meine Hosenbeine werden nass, als ich durch den Spülsaum laufe. Mir ist das egal, ich liebe es, hier und jetzt eins mit der Natur zu sein. Mit diesem großen, wunderbaren Geschenk, dass ich jeden Tag vor meiner Tür finde.
Ich liebe das Meer noch immer.
Die Flut kommt, das Wasser läuft in rasender Geschwindigkeit auf. Von einer Sandburg schauen nur noch die Zinnen raus. Bald wird sie verschwunden sein.
So ist das, wenn man auf Menschengeschaffenes baut, denke ich resigniert. Es mag auf den ersten Blick prachtvoll wirken und stabil. Aber letztlich ist es vergänglich, wie wir selbst, wie alles, das uns umgibt. Wir können nichts mitnehmen.
„Das letzte Hemd hat keine Taschen“, sagt mein Vater immer. Aber das Herz lässt sich immer füllen, wenn man es öffnet. Und das Gute an dieser Fülle ist, dass sie wächst, wenn man davon gibt.

Momentaufnahme, Krone

Der Wetterbericht verspricht einen heißen Tag. Nach einer langen Periode des Regens sind die Menschen ausgehungert nach Sonne, und so birst die Insel bereits ab Mittag unter Myriaden an Tagesgästen, zusätzlich zu all jenen Menschen, die einen längeren Urlaub auf Langeoog verbringen. 
Wiewohl sich das Laub der Bäume bereits herbstlich zu färben beginnt und kaum noch eine Heckenrosenblüte zwischen all den leuchtend roten Hagebutten dem Lauf der Dinge trotzt, so ist es doch spürbar Hochsaison auf der Insel.

An solchen Tagen findet man nur am frühen Morgen Frieden. Nicht so früh, dass einem die letzten bezechten Teenager am Strand entgegentorkeln, aber früh genug, dass sich der Schwall lärmender Schulklassen erst später die Dünenübergänge hinab und auf den Strand ergießt. In diesem kurzen Zeitfenster ist man allein mit der Schöpfung: Mit dem Rauschen der Brandung, dem Gluckern des Wassers in den Prielen, dem Gezänk der Möwen, dem sehnsüchtigen „Tüü-lüü“ der Rotschenkel. 
Irgendwo schlägt ein Hund an; dazu beruhigendes Gemurmel des Besitzers.
Ich lasse den Blick über die Weite schweifen, Baltrum im Morgendunst. Davor ein Frachter.
Es ist ein Königreich. 
Wir sind gekrönt von Gott, hieß es letztens in einer Andacht. Mit unserer Taufe erhielten wir diese Krone, wir mussten sie nicht erarbeiten, nicht erben, nicht mit Kriegen erstreiten, nicht durch Intrigen an uns reißen. Wir waren ihrer würdig, einfach so. Gott traut uns dieses Amt zu, jedem von uns, von Anfang an. 
Das ist ein schönes Bild, denke ich. Aber es bringt auch viel Verantwortung mit sich. Und es birgt Gefahren.

Über diesen Satz nachdenkend, wandere ich den noch menschenleeren Strand entlang. Schlick quillt zwischen meinen nackten Zehen hervor, danach folgt wieder trockener Sand. Ich passiere eine hübsche gestreifte Feder, ein Stück Müll, ein Büschel Algen. Ein Fender, den ein Schiff verloren hat, treibt heimatlos und grau im Priel.
Da, der Müll, denke ich. Passiert nicht genau das, wenn man suggeriert bekommt, man sei die Krone der Schöpfung? Neigt man dadurch nicht zu eben dieser „Nach-uns-die-Sintflut“-Haltung, zu Hochmut und Verschwendungsucht, schmeißt man nicht genau deswegen seinen Abfall in die Botanik, weil man meint, dass das eigene Leben dem von Krebsen, Algen, Möwen überlegen wäre, dass einem der Rest der Schöpfung untertan sei und man folglich darin wüten könne, wie man wolle?
 Aber das ist nicht königlich, denke ich weiter, zumindest nicht in meinem Verständnis von Königlichkeit.
Wir mögen diese Krone tragen, aber wir sollten sie mit Würde tragen, um nicht zu sagen: Mit Demut. Gerade, weil sie uns in solch bedingungslosem Vertrauen geschenkt wurde, und die ganze wunderbare Erde dazu, auf der wir leben und die uns nährt.

Ich bin froh, dass mir dieser Satz erst heute zur Reflektion gegeben wurde, wo ich ihn mit einer gewissen Reife (und einem Maß an Erfahrung im Scheitern) betrachten kann, und nicht etwa in Jahren juveniler Überheblichkeit. Hätte mich früher an der Königlichkeit nicht zuvörderst der Palast geblendet, der Schmuck, die prachtvollen Gewänder? 
Dabei liegt der eigentliche Schatz doch in dem, was man zunächst als Nachteil an einem hohen Amt begreifen könnte: In der Verantwortung, in der Fürsorgepflicht. Es ist keine Bürde, sich mit liebevoller Hingabe um das zu kümmern, was einem von Gott anvertraut wurde — Es ist ein Geschenk.

Erneut schweift mein Blick in die Weite, und ich weiß, dass ich diese Welt liebe, endlich zu lieben gelernt habe, nachdem mir das Leben so lange eine Last war — und ich so weit entfernt von allem: Von der Schöpfung, von mir selbst. 
Ich denke an die Zeit von Taufe und Konfirmation zurück und dass ich damals nicht in der Lage war, die mir angebotene Krone zu erkennen, anzunehmen und zu tragen. Ich hätte mich ihrer auch nicht für würdig befunden. 
Unter dem Flügelschlag eines sich in die Lüfte erhebenden Seevogels sprüht das Wasser wie fallende Juwelen. Das Licht der Morgensonne lässt die zitternde Wasseroberfläche des Priels aufgleißen.

Rührung überkommt mich: Gott, so weiß ich, hat meine Krone all die Jahre für mich aufgehoben. Bis ich ihren Wert erkannt habe und meinen eigenen dazu. 
Aber das tat ich nicht allein. Denn er schickte mir diesen Menschen, der sie mir wiederbeschaffte. Der seine schönen Gewänder raffte und durch den Schlick watete, um sie zu bringen; ohne Furcht, sich auf dem Weg zu mir dreckig zu machen. Der mir die Königlichkeit vorlebte, so, wie ich glaube, dass sie sich unser Schöpfer für uns Menschen gedacht hat: Mit Würde statt Hochmut. Mit der Absicht, Menschen im Glauben zu einen statt zu trennen. Und der mir zeigte, wie Kirche gemeint ist. 
Zitternd streckte ich meine Hände aus: ich würde wieder in die Kirche eintreten und die Krone tragen, und dabei nach bestem Bemühen aufrecht sein in Haltung, Worten und Taten: Denn wie sonst wollte ich verhindern, dass sie erneut herunterfiele?

Um mich herum erstrahlt nun der Morgen am Meer in voller Schönheit. 
Es ist unmöglich, vier Jahre hier zu leben und nicht wieder an Gott zu glauben, denke ich, tagtäglich umgeben von so viel Pracht, wie sie kein Mensch erschaffen könnte. 
Ich weiß nicht, ob ich der Sache dieses Mal gerecht werde, aber ich bin willens, es zu versuchen. Denn dieses Mal, denke ich, weiß ich zumindest eines sicher: Dass ich die uns Menschen als „Untertan“ anvertraute Schöpfung von Herzen liebe. Und dass es keine Schande für einen König ist, zu dienen.

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