Momentaufnahme, Türspalt

Vor dem Busfenster schält sich Landschaft aus dem Grau. Über dem Feld steht eine Möwe in der Luft, obwohl kaum Wind weht. Aus dem Fenster sieht ein Mensch ohne Hund. Bald zeigt sich ein kleiner Kanal zur Linken; auch das Wasser darin steht still, es ist brackig und trüb. Eine Ente rudert unbeeindruckt mit den Füßen darin, aber man sieht die Füße nicht, weil das Wasser so schlammig ist, man sieht nur die kleinen Wellen, die sie schlagen.
Der Windmühle von 1775, die der Bus als nächstes passiert, fehlen schon lange die Flügel. In der Ferne das erste Hochhaus, danach graue Industriegebiete, die sich wie Tentakeln in die hässliche Stadtperipherie haken. Nach dem Überqueren der Weser plötzlich eine andere Welt: Ein kurzes Aufgleißen hanseatischer Eleganz, die schicken Neubauten mit Eigentumswohnungen und Wasserblick im Stephaniviertel, die Masten der Alexander von Humboldt. Erinnerungen an leichte, unbeschwerte Abende an Bord, an Maienwärme und Bier mit meinem Vater.


Bremen Hauptbahnhof. Aber ich habe keine Zeit für einen Abstecher in die Altstadt mit ihren schönen Läden und ihrem Flair, ich muss weiter nach Osnabrück. Bis zum Zug sind es noch 20 Minuten, ich sollte etwas essen. Nutz die Gelegenheit, sage ich mir, der Bahnhof quillt über vor Delikatessen, die man auf Langeoog nicht bekommt. Sushi. Börek. Pelmeni. Vindaloo. Antipasti. Aber ich kann mich nicht entscheiden. Die Warenfülle erschlägt mich, alles schreit „Hier bin ich! Hier!“, dazu all diese Menschen. Vor der Tür eine Kette Polizeibeamter, lautes Gejohle dahinter: Irgendein Fußballspiel. Bloß weg! Ich habe auf alles Appetit und zugleich auf nichts; ich kaufe ein trockenes Brötchen und schwarzen Kaffee, dann ziehe ich weiter zum Gleis. Ich würde kaputt gehen in einer Stadt, denke ich. Es ist mir nicht mehr erträglich. 
Ich denke an den Hund und bin froh, dass ich ihn nicht hier durchzerren muss, durch das Gewühl, all die Gerüche und den Lärm. Ich ließ ihn bei einem Freund: Wir müssen Abschied lernen. Unsere gemeinsamen Tage sind gezählt.
In all dem Lärm des Bahnhofs stehe ich da und denke an die Stille, die fast fühlbar war, als ich am Morgen der Reise erwachte und keine Pfoten ans Bett trippelten, keine Nase sich zwischen einen angelehnten Türspalt schob, kein Napf gefüllt werden musste. So wird es sein: Gewöhn dich dran.
„Sie können das Haustier von der Rechnung streichen“, erzähle ich dem Hotelangestellten am Telefon, „ich bringe den Hund doch nicht mit“. Unbekümmert sollte das klingen. Aber es ist ein Ende.

In Osnabrück naht ein Anfang: Ich muss zum Bischof, meine Firmung ist bald. Seine Exzellenz wird die Einwilligung geben und einen Festgottesdienst zelebrieren. Es ist eine Ehre, und es sollte ein Freudenfest sein.

Im Hotel angekommen, suche ich im Zimmer nach einem guten Platz für den Hund, bis mir einfällt, dass er nicht da ist. 
Das Haus ist fürchterlich in die Jahre gekommen. Durchs Fenster fällt der Blick auf den Dom mit seinem wunderschönen Kreuzgang und das Dach des Priesterseminars: Ebenfalls ein hübscher, altehrwürdiger Bau mit hohen Decken und langen, hellen Gängen. Gepflegte Grünpflanzen stehen vor weißen Fensterkreuzen. Hier hätte ich eigentlich wohnen sollen. Aber dort hätte ich den Hund nicht mitnehmen können, und so stehe ich nun im Ausweichquartier zwischen abgewetzten Holzvertäfelungen und ockerfarbenem Rauputz und bin trotzdem ohne das Tier.
„Die Weisung des Herrn ist vollkommen“ erinnere ich mich an ein Bibelwort, und mit dem Blick auf den Dom kann ich ja gar nicht anders, als daran zu glauben.


Mit dem Näherrücken der Feier steigt die Aufregung. Ich habe noch nie einen echten Bischof gesehen. Alle anderen Firmlinge sind mit Familie da, aber ich stehe allein an einem Tisch und warte auf Seine Exzellenz, weshalb ein älterer Herr sich mit mir vergesellschaftet und zu ausführlichen autobiografischen Erzählungen ansetzt. Derweil mischt sich der Bischof unters Volk, ich sehe, wie er den Raum betritt, sofort umringt von Menschen. Die Nervosität steigt mit jedem Tisch, an dem er die neuen Schäfchen seiner Kirche einzeln begrüßt; ich kann dem redseligen Senior neben mir kaum noch folgen. Schließlich steht der hochrangige Geistliche auch an meinem Tisch und begrüßt mich mit festem, forschenden Blick und langem Händedruck. Seine Augen sind dunkelbraun und von nicht einzuordnendem Ausdruck.
„So“, sagt er. „Sie kommen also von einer Insel, Langeoog.“ „Ja, Exzellenz.“ „Was machen Sie denn da?“ Ich nenne meinen Beruf ohne jede Ausschmückung und mustere derweil die Soutane mit den magentafarbenen Paspeln und Knöpfen, den Römischen Kragen, das Bischofskreuz, den Ring und frage mich, wie dieses kleine Satinkäppchen wohl hält, das er auf dem Kopf trägt. Während der Bischof noch etwas sagt, suche ich in seinem Haar nach einer Nadel oder irgendeiner anderen Form der Befestigung: Klassische Übersprungshandlung.
Reiß dich zusammen!, schimpfe ich mit mir selbst, jetzt hast du einmal im Leben die Chance, mit einem echten Bischof zu reden und du suchst allen Ernstes nach einer Nadel in seinen Haaren und begutachtest seine Knöpfe? Aber es nützt nichts, ich bin zu nervös. Ich antworte wie ein Automat. Irgendwann gleitet das Gespräch auf eine hinzugetretene Braut Christi über. An die Verabschiedung vom Bischof erinnere ich mich nicht. 
Aber dann heißt es auch schon Aufstellen zum Einzug.


Die Domkantorin singt schön wie ein Engel. Vor uns wabert Weihrauch, ich hefte den Blick auf das prachtvolle Goldkreuz, das man durch den Mittelgang vor uns herträgt. Es ist sehr würdevoll und wunderschön. 
Festlich können Katholiken, werde ich später denken, als ich die Messe nicht mehr wie einen von Nervositätsdunst vernebelten Film wahrnehme, und ich bin froh, bald dazuzugehören. Durch diesen großartigen Dom schreiten und dabei denken zu können: Das ist auch meine Kirche. Ich bin hier nicht bloß zu Besuch.


Irgendwann geht es zum Altar. „Bloß nicht fallen“, denke ich, als ich die unzählig erscheinenden Stufen erklimme, Jahrhunderte unter den Füßen.
Unsere kleine Inselkirche hat eine einzige Stufe zum Altar. Das Lied, welches wir oben im von Messdienern diskret zurechtdirigierten Halbrund singen, kenne ich zum Glück: Magnificat. Ich sang es als Teenager in Taizé. Den Blick in die Gemeinde vermeide ich.
Wir bekennen unseren Willen; die Empfehlungsschreiben unserer Heimatgemeinden liegen gerollt und mit Bändchen verschnürt in Körben auf der Altarplatte. Der Bischof schreitet das Halbrund ab, nimmt unsere Hände, sagt etwas und segnet. Ich putze die schweißfeuchten Hände noch schnell an meiner Hose ab. Die seiner Exzellenz sind trocken; er ist ja auch nicht nervös, erkennt aber vermutlich die Nervosität seiner Firmanwärter. „So“ sagt er dann auch mit der Betonung von „Jetzt haben Sie’s geschafft!“, als er vor mir steht, und ich erwidere seinen Blick, so standhaft wie möglich. Dann folgt der rituelle Spruch, der Segen, das Kreuz auf meine Stirn: So.
Wieder ist ein Wegstück gegangen; es geht heimwärts.
Vom Kreuzgang aus sieht man die Gräber im Innenhof und ich werde mir meiner Endlichkeit bewusst, die heute jedoch wieder etwas näher an die Unendlichkeit gerückt wurde und an das Ewige Leben. Nun werde ich nicht mehr als Heide sterben, denke ich, sondern als Katholik wie ihr. Es ist ein schönes Gefühl.

Irgendwann stehe ich auf der Straße vorm Dom. Sterne leuchten. Das Bild, dass der Bischof jedem von uns schenkte, halte ich im Arm. Es zeigt einen Türgriff des Doms, die Tür ist angelehnt: Sie hat sich für uns geöffnet. 

Der Hund fehlt mir. Ich würde ihm das Bild gern zeigen. „Du wirst ihn nie aus den Augen verlieren“, schreibt mir der Besitzer, an den ich ihn bald zurückgeben muss, „du kannst ihn sehen, so oft du willst.“ Ich glaube es ihm. Aber dennoch ist diese eine, diese besondere Tür, hinter der er mein Hund war, für uns nun geschlossen: Er ist nicht mein Hund. Er wird es nicht werden.

Beim Streifen durch die Altstadt quält mich erneut das Ausmaß der Wahlfreiheit. Man könnte überall und alles essen, überall bummeln und verweilen, man muss ja nicht einmal fragen, ob Hunde dort erwünscht sind. 
Ich gehe in ein Café am Kirchplatz, das wie alle Cafés an Kirchplätzen aussieht und esse den Kuchen, den ich auch auf Langeoog immer esse.

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Momentaufnahme, 110

Das Meer klingt anders als Zuhause. In der Dunkelheit rauschen die Wogen gegen die Wellenbrecher, eingehüllt in dichten Nebel, der seit heute Morgen anhält. Alles wirkt gedämpft; auch am hellichten Tag sah man kaum 20 Meter weit. Über die Insel, die nicht Langeoog ist, legt sich eine nasskalte Glocke diesiger Einsamkeit. Im Nebeltunnel der Strandpromenade verschwindet ein Mann mit seinem Hund, der treue Gefährte furchtlos an seiner Seite.
Ich friere entsetzlich. Ohne Umweg gehe ich von dem kleinen, aber sehr berühmten und geschichtsträchtigen Restaurant, in dem ich zu Abend aß, direkt in den SPA meines Hotels. Um die Uhrzeit ist niemand da, vor dem ich mich bedecken müsste, und so breite ich mich komplett hüllenlos im Dampfbad aus, bis auch die kleinste Muskelfaser durchwärmt ist. Anschließen dusche ich warm, und ja: ich bin der Idiot, der die eisigen Duschen in der Sauna immer auf „heiß“ stellt, worüber dann Saunapuristen fluchen. Ich indes meine: Die Sauna dient dem Aufwärmen; die Abkühlphase übersprang ich schon immer gern. Ich brauche Wärme.

Es ist der letzte Abend auf dieser anderen Insel, die so anders ist als meine Heimat, wenn auch auf ihre Weise ebenfalls sehr schön. Ich mag das Mondäne hier, das Angebot an Hochkultur, den teils in die Jahre gekommenen, aber immer noch sicht- und fühlbaren Seebadcharme, an dem sich schon Kaiser und Dichtergrößen erfreuten. Die Hinwendung zum Skandinavischen: Man begrüßt sich hier mit „Hej“ statt „Moin“.
Und auch die Strandpromenade mit den Wellenbrechern hat etwas für sich. Von meinem Hotel aus sieht man direkt aufs Meer; auch das zeichnet diese Insel aus.


Beim Abendessen blickte ich ebenfalls direkt auf die See — beziehungsweise auf die lackschwarze, nebelmattierte Dunkelheit, aus der das Meer zu mir hinaufklang; in den kleinen runden, warm beleuchteten Pavillon, in dem schon Könige dinierten. 
Das Essen war fantastisch, der Cremant ebenso, und doch schmeckte ich es kaum: In dichten Nebel gehüllt liegen zurzeit auch die Sinnesfreuden dieser Welt.

Ich blickte auf meine Nägel, die jetzt ganz glatt sind und wie Glas aussehen. Das Kerzenlicht spiegelte sich darauf, ich ließ sie morgens maniküren. Warum, das weiß ich nicht; vermutlich wollte ich unterbewusst einfach eine Stunde mit jemandem Händchen halten, und sei es nur mit einer hübschen blonden Kosmetikerin aus Hannover. Man verschließt ja gern die Augen vor dieser Art von Bedürftigkeit: Und das Herz sowieso.


Ich wünschte, ich hätte statt auf meine eigenen Hände auf die des Lieblingsmenschen sehen können. Er hielte sie gefaltet beim stillen Zuhören, die schöne, silberne Uhr unter den blütenweißen, eleganten Manschetten des Zivilanzugs hervorblitzend oder unter den hellblauen der Marineuniform. Aber er saß mir nicht gegenüber.

Er schrieb, und mich freute, seinen Namen und sein liebes Gesicht auf dem Mobiltelefon aufleuchten zu sehen, aber dennoch dauerte mich, dass jedes Wort von ihm, jeder Gedanke, jeder mir geltende Schlag seines gütigen Herzens erst von irgendeiner toten Maschinerie in Kolonnen von Nullen und Einsen umgerechnet werden musste, die diese dann auf das Display meines Telefons schaufelte. „Ich wünschte, Du wärst hier“: Auch dieser Wunsch meinerseits wurde erst gestapelt zu Einsen und Nullen, dann durch Datenleitungen gedroschen und schließlich vor seine Augen gekippt.


Im Hotelzimmer wartet der Hund. Aufgeregt tanzt er um mich herum, als ich nach SPA duftend heimkomme, die Augen voll der bedingungslosen, immer verzeihenden Liebe eines Tieres.
Es ist mein erster Urlaub mit dem Hund und es wird mein letzter.
 Er muss zurück zu seinem Besitzer. Er wird mich bald vergessen haben, tröste ich mich, wenn dieser Mensch ihn fünf Jahre hatte und ich nur drei Monate, er wird kurz leiden, vielleicht, und möglicherweise vermisst er mich. Aber sicher erkennt er auch sein altes Herrchen wieder, und Gott gebe, dass ihm der Abschied nicht schwer fällt und dieser Mensch sich fortan dauerhaft um ihn kümmert.

Gott hat kein Lebewesen für ein offizielles Dasein an meiner Seite bestimmt: Gar keines. So ist das eben. Ich muss es annehmen.

Ich denke an den Jahreswechsel. Im vorletzten Jahr betete ich an Silvester, dass meinen Eltern ein weiteres Jahr gegeben sei und mir meine Insel bliebe. Beides wurde erhört. Dieses Silvester betete ich, dass ich auch dieses Jahr kein
(Halb-)waise werden und mir der Hund bleiben möge — und wenn nicht, dass Gott mir die Kraft gebe, alles andere zu ertragen. Nun heißt es also: Alles andere.
Dein Wille geschehe.


Der Hund hat sich hingelegt und döst. Ich bin so dankbar für die Gegenwart dieses Tieres, dass mir sein Anblick das Herz abschnürt. 
Es sollte ein schöner Urlaub werden, nur wir beide. Der Hund genoß die zusätzliche Aufmerksamkeit in vollen Zügen. Ich ließ den kleinen Kameraden über die Wiesen jagen, und im Café, in das ich danach zum Aufwärmen ging, legte er die Pfoten und den Kopf auf meinen Schoß, wo er vertrauensvoll die Augen schloss. Fremde Leute lächelten berührt. „So ein schöner Hund“, „ein richtiger Schmusehund“, „so ein Lieber“. Ja. 
Gewesen.


Ich laufe ein letztes Mal zur Kirche, jetzt, da die Gewissheit da ist, dass unser gemeinsamer Weg zuende geht. Aus dem Pfarrheim stürmen lärmend die unzähligen Kinder des Ständigen Diakons. „Wauwau!“ macht das Jüngste und stürmt händefuchtelnd auf den Hund zu, den ich soeben vor die Pforte band. Der Hund erschreckt sich. „Nicht“, mahne ich das Kind kraftlos, „er bekommt Angst.“ Das Kind starrt mich eine Weile an, während ich den Hund beruhige und dreht schließlich wortlos ab. Es ist ja selten, dass jemand Angst vor einem Kleinkind hat, aber vor gewissen Wahrheiten kann man niemanden bewahren: Auch du kannst furchteinflößend sein. „Einer is den annern sein Deibel“ hätten meine Großeltern gesagt, das gilt, q.e.d., sogar für die Nachkommen eines katholisch Geweihten.

Der Lärm der Straße dringt bis ins Allerheiligste, vor dem ich Zwiesprache zu halten versuche. Die Kirchenglocke schlägt eine Minute zu spät zur vollen Stunde, ein Missklang schwingt mit im Geläut. Man sollte das richten lassen, denke ich. Auf der Bibel, die vor dem Tabernakel ausliegt, ist der Heilige Geist in Form einer Taube auf dunkelblauem Grund. Es ist ein schönes Motiv. 
Ein Gebet bringe ich nicht zustande. Gott ist hier, vor mir in diesem Raum, aber ich sehe nur alles andere. „Verzeih mir“, murmele ich, während ich mich von der Kniebank erhebe, um erneut der Dunkelheit entgegenzutreten, „es klappt so nicht.“


Vor der Kirche wartet der Hund auf mich und sieht mich aus treuen braunen Augen an. Kein Vorwurf darin, nur Liebe. Ich knie mich neben ihn, fühle seine Wärme, das Schlagen seines kleinen unschuldigen Hundeherzchens und schmiere Weihwasser und Tränen in sein Fell. 
Da drinnen die Kerzen, sage ich, die leuchten auch für Dich.

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Momentaufnahme, Knall

Um 17 Uhr herrscht bereits Krieg. Als ich aus dem Haus trete, liegt der Geruch von Schwarzpulver in der Luft. Seit zwei Tagen wird geknallt, in den Dünen liegen die leeren Plastikhülsen der Böller. „Wer Böller kauft, hat kleine Pimmel“ schreibt eine befreundete Berliner Drag-Queen. Das kann ich so nicht verifizieren, da ich keinerlei Ambitionen hätte, bei Leuten, die bereits zwei Tage vor Neujahr an Pyrotechnik dilettieren, überhaupt nachzuschauen, aber die pädagogische Intention der Drag-Queen weiß ich zu würdigen. Schließlich erreicht man heutzutage fast nur noch mit dergestalten Ansagen seine Zielgruppe.

Mir indes zerrt es an den Nerven. Mein Hund hat Todesangst. Dennoch müssen wir es wagen, eine spätere Runde ist ausgeschlossen: Es würde ja nur immer schlimmer. Kaum sind wir ums Eck, geht der nächste Böller los; schemenhaft sieht man grölende Menschen in Gärten herumfuchteln. Der Hund bellt und springt, er ist kaum zu bändigen. 
Die Möwen auf dem Dachfirst, sonst furchtlose Kreaturen, stieben aufgeregt auseinander; noch minutenlang hört man verstörtes Krächzen und Flügelschlagen. 
Wenig später trifft es einen Schwarm Gänse, der auf einem der Äcker ruhte. Panische Rufe, das Geräusch hunderter in Hast ausgebreiteter Schwingen.
 Am Himmel Lichtfontänen.

Früher fand ich das mal schön. Ich finde es immer noch schön, wenn es in Städten von Profis, in festem Zeitrahmen, irgendwo über einem Hafen oder auf einer Brache abgebrannt wird. Aber im Naturschutzgebiet?

Ich sehe der roten Feuerblume, die sich da am Nachthimmel entfaltet, ärgerlich hinterher, während ich das wimmernde Tier streichele. 
Spitzfindige behaupten an dieser Stelle gern, dass das Naturschutzgebiet ja erst am Dorfrand anfinge und das Ballern im Dorf erlaubt sei — nur, frage ich mich: Cui bono? Welches Tier schreckt denn nicht dennoch in der Ruhezone I, die man nicht einmal betreten darf, auf, wenn keine 150 Meter entfernt davon die Hölle losbricht? 


Es ist bereits stockdunkel. Gardinen scheinen in Ferienwohnungen nicht mehr en vogue zu sein, vermutlich ist das Waschen zu aufwändig. Man kann überall durch die Fenster sehen. Menschen sitzen um Tische. Teenies über elektronischen Geräten. Eine Frau sieht sich strickend eine Naturdokumentation auf einem riesigen Fernseher an. Ein Pärchen liegt ungeniert im Bett, direkt vor dem großen Panoramafenster zur Terrasse. Eine Familie hat sich in einem Raum versammelt. Der Patriarch erklärt gestikulierend irgendetwas. Frau und Nachkommen lauschen gesenkten Hauptes. Mit Topfhandschuhen wird eine Auflaufform aus dem Ofen gezogen. 
Auf der Straße ist es still, vom Böllerlärm und gelegentlichem Auflachen irgendwo einmal abgesehen. Man hört keine Kinder, keine Gespräche, keine Schritte.
Die Leute sind drinnen und bereiten sich auf die Nacht vor. Das Naturschutzgebiet um sie herum liegt in einsamer Schönheit, die Dünenkette reckt sich schwarz in den Nachthimmel, über den blaue Wolkenflecken ziehen. Der Abendstern prangt in voller Schönheit.


Ich gehe durchs Dorf. Die Restaurants sind überfüllt, die Regale der Spirituosenhandlung leergeräumt. Um den Glühweinstand herum hat bereits die Luft mehrere Promille. Ich zerre den Hund von Erbrochenem weg. Es ist jetzt 17:30. 

Die Insel quillt über. Wenn man die Tage durchs Dorf ging und auf den Boden sah, um nach dem Hund zu schauen, oder weil einem im Regen die Kapuze ins Gesicht rutschte, so sah man nichts als Beinebeinebeine. Am Strand ein ähnliches Bild. 
Es ist zu voll: Silvester ist Hauptsaison.

Riesige Familienverbände. Weinselige Kegelschwestern und -brüder. Gruppen von Pärchen mit erschreckend genderstereotypem Gebaren: Die Männer geben an und sind laut, die Frauen kreischen. Ein paar Kinder, aber nicht so viele wie in der Hauptsaison. Viele Hunde.


Das Meer sabotiert den Trubel. Es ist von einem so leblosen Aluminumgrau, als wolle es sich unsichtbar machen, und auch die Brandung ist nur als „langweilig“ zu bezeichnen: Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen!


Um 18:00 Uhr ist Messe. Es ist überraschend voll, warm und friedlich. Ging man noch mit Ängsten und Sorgen hinein, so kam man friedlich und voller Zuversicht hinaus. „Von guten Mächten“ wurde gesungen und man kann nur einmal mehr in ehrfürchtiger Demut vor Dietrich Bonnhoeffer sein Haupt neigen, der diesen wärmenden, mutmachenden und hoffnungsvollen Text im Gefängnis vor seiner Hinrichtung schrieb. 

Aber auch während der Messe pfeift und knallt es um die Kirche herum; nicht einmal die Orgel vermag die Knallerei zu übertönen, auch nicht die Gemeinde.

Ich denke an die letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Krieges, denen das Flakfeuer noch in den Ohren klingt, die Detonation der Bomben. Meine Oma mochte kein Silvester. 
Ich beeile mich, heimzukommen zum Hund.

Normalität soll man demonstrieren, wenn die Tiere Angst haben, also beschäftige ich mich mit Hausarbeiten, koche, mache Wäsche. Aber bei jedem Böller dreht er vollkommen durch; nur wenn ich mich neben ihn setze, ihn halte und streichele, ist Ruhe. Inzwischen — es ist immer noch weit VOR Mitternacht — kommen die Schüsse fast pausenlos. Irgendwann gebe ich auf und lege mich neben das Hundebett, eine Hand auf dem Tier. Sobald ich aufhöre, ihn zu streicheln, springt er wieder auf, läuft zum Fenster, bellt und bellt und bellt, bis er heiser ist und würgt. 
Um 23 Uhr sind wir mit den Nerven Parterre, um Mitternacht kauern wir zusammen auf dem Fußboden; ich berge das weinende Fellbündel in den Armen.

Gegen 1 Uhr lässt das Knallen nach. Der Hund fällt sofort in Erschöpfungsschlaf. Meine Neujahrsbotschaft an den Lieblingsmenschen und die Eltern fällt einzeilig aus; auch ich kann die Augen nicht aufhalten: Es ist ja schon die zweite schlaflose Nacht, denn sobald Böller verkauft werden, wird auch geböllert.



Am Morgen werde ich gegen 7 wach, der Hund döst. Ich wecke ihn auf zur Runde. Die ersten 100 Meter pisst und pisst er, 12 Stunden eingehalten hat er, und ich bin stolz auf ihn, wie gut er das geschafft hat, auch wenn er mir sehr Leid tut. 
Die Straßen sind leer. Aus der Dämmerung schält sich das erste Licht, die Venus strahlt noch immer. Irgendwo grölen letzte Schnapsleichen.

In der Straße mit den hübschen, gepflegten Häuschen der Wehrmachtsoffiziere liegt alles voll Müll: Plastik, Pulverreste, Papier. 
In den Tourismusprospekten sieht man diese Straßen im Sonnenschein, Fasane staksen darüber, von den Zierkirschen rieseln Blütenblätter.
Langeoog, das Naturparadies. 

Um 10 zieren winzige Schäfchenwolken einen babyblauen Neujahrshimmel, wie reingewaschen vom Dreck des alten Jahres. 
Die erste Kehrmaschine rollt Richtung Strand. 



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Momentaufnahme, Compassion

Ich hatte die Kraft des „Irgendwann“ unterschätzt. Das Irgendwann war ein diffuses Donnergrollen in weiter Ferne, ein monotones Summen von Elektrizität irgendwo hoch über den Feldern. Das Irgendwann war anfangs präsent, leise zwar, aber man sah es. Doch dann gewöhnte man sich, und das Irgendwann zerfloss zu einem warmen, umschmeichelnden „Wird schon nicht.“


Irgendwann will er den Hund zurück. 
Der kleine Gefährte liegt in sein Lammfell gekuschelt und schläft. Wenn ich seinen Namen rufe, der nicht der ist, den der Vorbesitzer ihm gab, steht er auf, kommt zu mir an den Tisch und sieht mich fragend an. Die letzten Meter zum Haus rennt er, wenn wir heimkommen, und er weiß, wo der Wäschekeller ist, in dem ich ab und zu verschwinde. Dann wagt er sich die Treppen herunter und schaut nach mir, steckt das neugierige Näschen mit in die Trommel, das immer aussieht, als habe er aus einem Topf Puderzucker genascht. Der Hund kennt sich aus; er weiß, wo er wohnt.


„Es ist für ein paar Tage.“ „Zwei Wochen vielleicht.“ „Der Besitzer ist bis auf Weiteres verschwunden.“ 
Da war es also, das schöne, warme „Bis auf Weiteres“ und winkte mit fast so etwas wie einer Zukunft. Der Hund und ich. Wir beide. 
Aber dann materialisierte sich das „Irgendwann“, baute sich kalt und drohend vor mir auf, mit einem Datum im Schlepptau. „Er will den Hund zurück.“
Mein Vater schickte eine DVD von „Tim und Struppi“: Der Lokalreporter und sein Hund, das seid ihr beide. 
Ich brach in Tränen aus. 
Du wusstest doch, dass der Hund nicht dir gehört, wurde geunkt, du hättest ihn ja nicht nehmen brauchen. Nein. Ich hätte ihn auch nicht lieben brauchen. Dann wäre er eine Sache, die man aufbewahrt und gegen einen angemessenen Obulus wieder abgibt. Dann wäre er ein Geschäft. Aber ich bin sein Zuhause geworden, jetzt, nach all der Zeit.

In meiner Lieblingszeitschrift GEO ist ein Bericht über eine Frau, die sich um Pflegekinder kümmert. Wie sie das schaffe, in dem Wissen, alle wieder hergeben zu müssen. Irgendwann, vielleicht. Vielleicht auch nie. Sie böte den Kindern ein gutes, glückliches Jetzt. Ums Morgen wisse man nicht. Nie. 
Ich sehe den Hund an und denke: Dann hast Du bei mir eben die schönste Zeit Deines Lebens. Dann werde ich Dich mit Liebe und Fürsorge zuschütten, damit Du noch lang davon zehren kannst, solange es halt irgendwie geht. Aber dann schiebt sich, kalt und knirschend, dieser Riegel übers Herz, der sagt: Hör auf ihn zu lieben. Am besten schon gestern. Er bleibt nicht.

Mich erreicht die E-Mail eines Bekannten, seine Frau habe ihn verlassen. Ich fühle seinen Schmerz, höre förmlich aus den Zeilen, wie seine Welt vor mir zerbröckelt, noch weit entfernt davon, sich zu etwas Neuem zusammenzufügen. Der Mann tut mir Leid. Ich weiß, was er durchmacht. Und trotzdem, denke ich, ist man in diesem Leid so mutterseelenallein. 
Ich kann ihm sagen, dass ich mit ihm fühle. Dass ich seine Hilflosigkeit verstehe, das Klammern an jeden Halm, um das Unbegreifliche begreiflich zu machen. 
Es ist gut, wenn Menschen mitfühlen, denke ich. Und trotzdem: Das Leid nimmt einem niemand ab. 
Man muss alleine durch. Mit Glück reicht einem jemand die Hand, mit Glück leuchtet einem jemand ein Stück des Weges. Und Gott? Natürlich ist Gott da, Gott fügt und führt, aber oft genug sind unsere Wege so verschlungen, unsere Trauer so gleißend, dass wir sein Licht nicht sehen und seine Hand nicht erkennen. 

Und auch das Leid, so lehrte mich das Leben, ist wirklich niemals sinnlos. Sollte ich den Hund also hergeben müssen, wäre das Leiden entsetzlich. Aber ich nähme es an, besänne mich auf die wunderbare Zeit, die wir hatten, zöge Lehren daraus und sähe nach vorn: Zumindest nehme ich mir das vor.

In zwei Monaten bin ich Katholik; es steht mir nicht mehr zu, mein Schicksal zu hinterfragen oder damit zu hadern. Das hat etwas Beruhigendes: Der Herr wird es richten. Es gibt für alles einen Plan. 
Ist das naiv? Gibt man damit Verantwortung ab? Ist Religion doch nur das vielzitierte Opium fürs Volk? Ich mag nicht mehr darüber nachdenken. Gott existiert. Ich habe es zur Genüge erfahren. 


Draußen schlagen die Zweige im Sturm ans Fenster. Regen tropft von der Lichterkette, die sich durch meine Winterheide schlängelt. Hundert kleine Lichtpunkte in der Schwärze der Inselnacht, vergangene Weihnachtsfreuden, der Hund und ich inmitten unzähliger Pakete und Ansichtskarten, die meisten der Geschenke waren für ihn. So viel Mitgefühl, soviel Mitfreuen. Unmengen Delikatessen; der Hund und ich teilten uns ein Brot mit Trüffelleberwurst. 
Er ist so glücklich. Mein Weinen verstört ihn, und ich mag ihn nicht ansehen, weil ich dann denken muss: Bald kommst Du weg. Vielleicht. Und ich weiß nicht, ob das „bald“ schlimmer ist oder das relativierende „vielleicht“, das die frische Wunde im Herzen gleich wieder mit seinem Sirup zukleistert. 
„Wir helfen Dir“, sagen die Freunde. Und die meisten meinen das Ernst.



Compassion. Einer der Jesuitenpater, die bei uns als Kurpastoren Dienst tun, erklärte einst, dass ihm das englische und spanische Wort lieber sei als unser „Mitgefühl“, weil in der Kon-Passion das Leiden steckt, das mehr sei als das bloße Fühlen — aber auch etwas anderes als das bei uns eher abfällig besetzte Wort „Mitleid“. Mitleid will niemand. Mitgefühl tut gut. Und die Compassion, das Mit-Erleiden? Fühlt sich nach einer ausgestreckten Hand an, die das Kreuz tragen hilft. Ohne viele Worte. Ohne Bedauern. Mit purem Da-Sein, Anfassen, Helfen.


Ein lieber Freund formuliert das in der Regel so: „Was kann ich tun?“ Kein „Kann ich was tun?“ Kein „Was willst Du jetzt tun?“. Vermutlich bringt genau das „Compassion“ auf den Punkt. Die stützende, helfende, fangende Hand. 
Ich bin dankbar dafür. Denn der Hund soll es nicht spüren, das Leiden und Straucheln. Ich bin sein Zuhause. Und ein Zuhause braucht feste Wände. 


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Momentaufnahme, Gefährte

Es ist eine sternenklare, kalte Nacht. Auf den Straßen ist es dunkel und absolut still. Um diese Zeit ist kaum ein Haus bewohnt, nur ab und an sieht man einen Lichtschein aus einem der Fenster: Feriengäste, welche die Einsamkeit des Inselwinters schätzen oder einer der wenigen Dauerbewohner in meinem Viertel. 
„Geisterviertel“ werde es von einigen auch genannt, verplapperte sich mir gegenüber einst eine Insulanerin, weil dort gar niemand wohne im Winter.
Mir mache das nichts, sagte ich damals, es sei schön das Haus mal für sich zu haben; die Straßen, den Strand. Ohne das ständige Kommen und Gehen, ohne das zwangsläufige Mitanhören von fremdem Streit und Geplänkel.


Aber manchmal ist es schon ein bisschen unheimlich in diesen Winternächten, mit dieser gewaltigen Schwärze der Nacht über und um einem, welche die winzigen Lichtkegel der spärlich gesääten Straßenlaternen nicht zu durchbrechen vermögen. Am Himmel Myriaden von Sternen, die Milchstraße und einzelne Wolkenbänder wie silbrige Flüsse in der Dunkelheit. Still ist es. Nichts hört man außer dem Wind, dem eigenen Atem und dem leisen Aneinanderschaben der Kleidungsschichten bei jedem Schritt. Beim Fahrradverleih um die Ecke singt ein Fahnenmast, ein einzuholen vergessenes Werbebanner aus Segeltuch knattert mit jedem Angriff der Böen. 
Irgendwas hat die Gänse geweckt, die zu Hunderten weit hinten in der Nähe des Deiches rasten. Ein Rufen und Schnattern geht durch die Nacht, dann kehrt erneut Ruhe ein. 


Es ist kalt geworden. Hinter mir höre ich das leise Tapsen von vier Pfoten. Ein Hund folgt mir, und wenn ich stehen bleibe, bleibt er auch stehen. Manchmal überholt er mich auch ein Stück, aber dann dreht er irgendwann um und sieht mich fragend aus großen, treuherzigen, braunen Augen an. Es ist mein Hund. Und ich sehe diesen kleinen, treuen Gefährten ebenfalls an und mich erstaunt täglich aufs Neue, mit welcher Intensität man ein Tier lieben kann.


Er nervt mich, wenn ich morgens noch im Tiefschlaf bin und er dann fiepend am Bett steht, weil er raus will. Er nervt, wenn ich für meine Arbeit fotografieren muss und er dann ins Bild rennt oder an der Leine zerrt, sodass alles verwackelt. Er nervt, wenn ich beschäftigt bin und er seine Nase zwischen meinen Arm und meinen Körper oder unter meine Hand drängelt, weil er gestreichelt werden möchte. Und noch immer kämpfe ich gegen Würgereiz an, wenn ich diese unsägliche Tüte über meine Hand stülpe und die Finger, nur durch hauchdünnes Plastik getrennt, um eine noch körperwarme Wurst Scheiße schließen muss, die dann langsam darin erkaltet, während ich verzweifelt nach einem Mülleimer suche — und dabei hoffe, unterwegs niemanden zu treffen, der mir zu Begrüßung die Hand reichen möchte.

Es nervt, wenn man für einfachste Wege plötzlich Ewigkeiten braucht, weil Monsieur jedem Grashalm untersucht, als sei er im früheren Leben Botanikprofessor gewesen, und es nervt, wenn ich nicht mehr gedankenlos mit dem Bürostuhl zurückrollen kann, weil der Hund natürlich immer genau dort liegt, wo man ihn versehentlich touchiert.
Und was mich bei kleinen Kindern schon tangiert — dieses wortlose, minutenlange Anstarren — das bringt so ein Hund erst zur Meisterschaft!

Aber dann sehe ich ihn zusammengerollt irgendwo schlafen, in seiner herrlich beruhigenden, animalischen Schlichtheit, mit der er im Schlaf schmatzt und leise „wuff“ macht, und bin einfach froh, dass er da ist.



Klar, mag man sagen, so ein Hund liebt jeden, der ihm zu fressen gibt, ein warmes Zuhause und der ihn nicht schlägt. Und dennoch bin ich überwältigt davon, wie loyal so ein Tier wirklich ist. Jeden Morgen freut er sich schwanzwedelnd über meine Ansprache, obwohl ich ihn innerlich für die Uhrzeit verfluche, und wenn ich fort war, freut er sich beim Heimkommen, als sei ich Monate weg gewesen. Er sucht meine Nähe, als wäre ich das gütigste Wesen auf dem Planeten, allein dafür, dass er hier leben darf. 
Selbst wenn ich ihn zurechtweise, weil er fremde Hunde nicht angehen soll oder aufs Bett springen, hat er mich Sekunden später wieder lieb, als sei nie etwas gewesen.

Ich hatte schon öfter einen Hund, aber das waren immer nur Pflegehunde, zur Urlaubsvertretung, die wussten, wo sie hingehörten. Und ich wusste das auch. Wir mochten uns, sonst hätte ich die Hunde nicht beherbergt, aber es war ein eher höfliches Verhältnis: Eine Freundschaft und Wohngemeinschaft auf Zeit.
Das hier indes, scheint mir, ist deutlich mehr, und alle wissen das: Es ist Familie.



„Hast Du Platz für einen Pflegehund?“, schrieb eine tierliebe Freundin, „Wir wissen kaum etwas über ihn, und auch nicht, wann oder ob sein Besitzer jemals zurückkommt. Klar ist ist nur: Er braucht ein Zuhause. Und zwar jetzt.“
Im Anhang ein Foto: ich schrieb mein JA, bevor ich es denken konnte. Das war mein Hund, schon auf den ersten Blick.

Eine Stunde später drückte er sich ängstlich um die Beine der Freundin in meinem Hauseingang herum, traute sich kaum die Treppen hinab zu meiner Wohnung. Aber irgendwann war er dann drin, die Freundin ging, und ich saß da und hatte einen Hund.



„Gott fügt und fügt, ich freue mich so sehr für Dich“, schrieb mir der Lieblingsmensch aus der Ferne, bevor mir selbst klar werden konnte, ob ich all das hier wirklich wollte. Aber offenkundig nahm mir Gott die Entscheidung ab, und auch der Freund weiß, wie sehr ich Tiere mag.

Ich wollte ja immer einen Hund, aber es gab auch immer irgendeinen Grund dagegen. Aber nun galt es, den Hund um die Gründe herumzudrapieren, bis sie klein und nichtig wurden oder bis sich eine Alternative fand. Es ging ja nicht anders, das Tier brauchte mich.



Was ein aufregendes Jahr, denke ich, noch immer in ungläubigem Erstaunen. Aber mein Kontoauszug zeigt die abgebuchte Hundesteuer, die Tierhaftpflichtversicherung, das Honorar des Tierarztes: Der Hund ist real, und, im Gegensatz zu vielen Menschen in diesem Jahr, wird er bleiben. Er wird geduldig sein und anspruchslos, er wird verzeihen und mir treu ergeben sein. Er wird meinen Hygiene- und Ordnungssinn vor neue Herausforderungen stellen und mir irgendwann auf den Teppich kotzen. Er wird mich zu Unzeiten aus dem Bett fiepen, meine Freiheit einschränken und meinen Kontostand mit Regelmäßigkeit erröten lassen. Aber ich werde für ihn da sein und ich werde ihn lieben, weil ich nicht anders kann und er niemanden sonst hat.

Ich bin seine Heimat und sein Hafen. Das ist eine große Verantwortung. Man kann mit Hunden ja keine demokratischen Entscheidungen treffen. Ich muss autoritär sein, ihm gegenüber und gegenüber mir selbst: Jeden einzelnen Tag.



Der Hund ahnt nicht, was ich über ihn denke. Er schläft arg- und sorglos zu meinen Füßen, und es ist schön, ihn in dieser Geborgenheit zu wissen; mit diesem Urvertrauen.
Draußen dämmert ein neuer Tag auf der Insel, auf der im Winter für viele die Zeit stehenzubleiben scheint. Um uns herum tost das uralte, ewige Meer.

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