Unter dem Sand

Die Straßen sind noch vereist, aber der Vogelgesang am Morgen klingt schon verdächtig nach Frühling. Die Luft ist klar und salzig, der Himmel blau und wolkenlos. Durch die Morgenstille dringt Meeresrauschen. Jetzt, nach Dreikönig, hat sich die Insel geleert; nun gibt die Natur im Wortsinne wieder den Ton an, nicht der Menschenlärm.

Die Hagebutten der Hundsröschen leuchten feuerrot an ihren nackten Zweigen und ich freue mich auf den Tag, an dem daran wieder zartes Laub ergrünen und die winzigen rosafarbenen Blüten sich öffnen werden. Der Februar ist kurz. Vielleicht noch ein letzter Schnee im März, der kam fast jedes Jahr. Aber danach, denke ich, danach ist endlich Frühling. Das Rot ist schön vor dem leuchtend blauen Himmel und ich bin froh über diesen Farbtupfer in den leeren Straßen mit ihren wintermüden Gesichtern, von denen ich die meisten jetzt wieder kenne. Die Weihnachtsbäume sind abgetakelt und abtransportiert; in den Läden rüstet man auf für den Frühling.

Das vor Kurzem noch so makellos rein vor einem liegende neue Jahr hat bereits seine ersten Lackschäden durch persönliches, politisches und allgemeines Ungemach, die neue Jahreszahl kommt einem schon flüssig über die Lippen, und so ist man kurz nach Neujahr schon irgendwie wieder mittendrin in Allem.

Einzig der Strand erweckt jetzt wieder die Illusion eines unbeschriebenen Blattes, mit dem noch alles möglich ist. In endloser Weite erstreckt sich die Sandfläche, die Priele glitzern, darüber ein Schwarm Schneeammern im Fluge. Möwen ruhen am Flutsaum oder kreisen bedächtig über dem golden wogenenden Strandhafer; Menschen sind kaum unterwegs.

Doch auch diese Idylle ist, natürlich, eine Illusion. Ich entdecke einen kleinen Hügel im Sand und steuere darauf zu. Es ist ein toter Seehund mit cremefarbenem Fell, farblich vom Sand kaum zu unterscheiden. Das Fell glänzt in der Sonne wie mit Silberfäden durchwirkt und ich verstehe, warum es einst bei Robbenjägern begehrte Ware war. Dem Impuls, darüberzustreicheln, widerstehe ich allerdings. Ich stupse das Tier mit dem Fuß an. Es scheint noch nicht lange tot. Bis auf ein bisschen Darm, das die Leichengase aus dem Anus des Tieres gepresst haben, sind noch nicht viele Verwesungsanzeichen da. Ich vermute den Kopf des Seehundes im Sand verschüttet, aber als ich die Schuhspitze unter den Hals schiebe, um ihn anzuheben, ist da kein Kopf. Wer zum Henker, denke ich, enthauptet denn bitte einen Seehund? Jemand, der sich das eindrucksvolle Gebiss in die Vitrine stellen möchte? Veterinäre zu Untersuchungszwecken? Oder ist einfach ein anderes Raubtier mit dem Schädel auf und davon? Ich entferne mich von dem glücklosen Geschöpf und frage mich, ob Seehunde eine Seele haben und ob er jetzt in irgendeiner himmlischen Nordsee planscht. Oder ob dieses schöne Geschöpf mit seinem glänzenden Fell jetzt einfach nichts ist außer anderertiers Fressen, dem Verfall anheimgegeben,und irgendwann nur noch ein bleicher Seehundknochenrest im Sand. Nachdenklich blicke ich auf meine Schuhe. Ein fischiger Geruch steigt auf vom freiliegenden, frischen Seehundfleisch, wo der Kopf hätte sein sollen, und das ich mit dem Fuß berührte. Mir wird ein wenig schlecht.
Ein händchenhaltendes Paar kommt auf mich zu und strahlt verliebt. Sie ahnen nichts von der Tragödie. Das ist auch besser so, denke ich, denn kurz ist bekanntlich auch die Zeit, in der sich die Liebe frei von Drama zeigt. Und dass es wohl besser ist, wenn man sich diesbezüglich möglichst lange die Illusion einer makellosen, freien Fläche erhält; ohne Leichen im Sand — oder im sprichwörtlichen Keller.
Die Sonne steht jetzt hoch am Horizont und zwingt mir einen Dialog mit meinem Schatten auf. Nahezu absurd langbeinig steht er vor mir, eine aufgeblasene Größße, die wenig mit der Realität zu tun hat.

Trügerische Idylle

In blühendem Strandflieder
liegt der Hase
und stirbt
Flauschige Küken piepen
ihre Verlassenheit
aus dem Gras
Vögel flattern am Himmel
trällernd, rufend
Ihre Stimmen ein helles
Verpiss dich

MDO/Mai 2021

Momentaufnahme, Stadtland

Nachem ich den Hühnerhof an der Straßenecke hinter der Klosterausfahrt passiert habe, öffnet sich der Blick über weite Felder. Es ist Herbst. Auf den abgeernteten Schollen staksen Krähen zwischen den goldenen Stoppeln des Korns auf regenfeuchter, tiefbrauner Erde umher. Wie bei uns im Norden die Möwen, sitzen hier Schwärme von Brieftauben zwischen den Krähen auf den Feldern, welche diese als Konkurrenz aber wohl wenig zu schätzen wissen. Jedenfalls gibt es ab und zu Tumult seitens der Krähen, und dann erhebt sich der Taubenschwarm in beeindruckend synchronisiertem Fluge, entweder heimwärts in den Schlag oder um sich an einer anderen Stelle des Feldes niederzulassen.
Tauben gehören zum Ruhrgebiet wie Möwen an der See, auch mein Vater war als junger Mann Schriftführer im Taubenverband, Gelsenkirchen Buer-Erle.

Denn so sehr mein Herz am Norden hängt: Auch das hier ist Heimat. Vor mir ragen die Türme der Ruhr-Universität aus dem Tal, eingebettet in eine baumreiche Hügellandschaft. Die Campus-Universität ist kein architektonisches Highlight, aber ich mag sie, weil sie die einzige Universität ist, die ich schon als Kind kannte und folglich all meine kindlichen Berufsträume von einem Leben als Naturforscher daran knüpfte. Wenn wir im Botanischen Garten mit den Eltern spazieren gingen, bewunderte ich beispielsweise die großen erleuchteten Gewächshäuser, in denen Botaniker oder andere Wissenschaftler in weißen Kitteln an geheimnisvollen Dingen forschten. Die gelben „Zutritt nur für Angehörige der RUB“-Schilder vor den Arealen mit den Gewächshäusern bescherten mir dann meinen persönlichen Schrödermoment: „Ich will da rein!“ ― Das Rütteln am Zaun freilich sparte ich mir.

Studiert habe ich dann letztlich woanders, da die Zusage der RUB erst kam, als ich mich schon nach einer Alternative umgesehen und dort eingeschrieben hatte, aber noch immer ist es auf irgendeine Weise die Universität des Herzens, hässlich hin oder her.

Ich würde den Botanischen Garten gern wiedersehen, denke ich, es ist viel zu lange her. Vermutlich kommt er mir heute winzig und verfallen vor ― man idealisiert ja viel von früher ― aber sehen möchte ich ihn doch. Jetzt allerdings bleibt nur noch eine Stunde bis zum Mittagsgebet, also biege ich lediglich kurz Richtung Stiepel-Dorf zum Getränkemarkt ab, um mir Cola und Limonade zu kaufen, denn man muss es ja mit der Askese nicht übertreiben im Kloster.

Das frühe Aufstehen um 5:30 Uhr fällt mir nicht leicht, aller frommen Bücher, welche den Wert des Nachtgebets loben, zum Trotz. Aber ich halte es durch und mich wach: Durch Spaziergänge, stilles Gebet, Lektüre, Kontemplation. Gelegentliche Ausflüge ins Internet und Soziale Medien finden statt, aber auch meist ein jähes Ende, sofern der erste Fall von Häme und Bösartigkeit in den Kommentarspalten zutage tritt: Dies soll mir die heiligen Tage hier nicht vergiften. Auseinandersetzung bis zu einem gewissen Punkt: Durchaus, aber sobald es nicht mehr um Austausch geht, sondern nur um Rechthaben und Runtermachen, bin ich raus.
Darüber, wie man so etwas besser erträgt, lässt sich dann immerhin gut mit den Patres reden, denn auch die sind durchaus am Puls der Zeit und tragen ein Smartphone in der Brusttasche ihres Ordenskleides mit sich herum, wie ich zu meinem leisen Amusement feststellte ― wenn auch gut verborgen unter dem darübergebundenen Skapulier.

Notgedrungen denke ich hier viel nach über das, was mich im Leben prägte, über das, was speziell in diesem Jahr passierte, und über die Weggabelung, an der ich mich einmal mehr befinde und über die ich mit Gott und Geistlichen zu verhandeln habe.

Es tut gut, mit der Souveränität des Erwachsenseins noch einmal die Orte der Kindheit zu durchstreifen, dabei beruhigend festzustellen, über wie viele Dinge man nun nicht nur physisch erhaben ist und wie vielen man auf wohltuende Weise in mehrfacher Hinsicht entwuchs. Andere wiederum trägt man als Schatz in seinem Herzen, als Heimat im Inneren.

Auf dem Rückweg zum Kloster werfe ich nochmals einen Blick zurück über die Täler und mir wird klar, was ich an dieser Gegend, die bei vielen nur Grausen und Spott hervorruft, wirklich liebe: Dass hier auch in der Stadt jedes Kind weiß, wo das Essen herkommt, weil man jeden Kohlkopf, jede Rübe auf dem Teller irgendwo zwischen den Städten aus den Ackerfurchen hat lugen sehen; weil der Viehdung zwischen Bochum, Essen, Dormund in die Autofenster zieht, weil Pferde neben der Schnellstraße wiehern, weil hier also nicht nur die Städte selbst, sondern auch Stadt- und Dorfleben nahtlos ineinander übergehen. Bis auf den Autolärm ist es still. Ab und zu keckert eine Krähe; die mit Autoreifen beschwerten Planen über den eingebrachten Heuballen in den Höfen der Landwirte machen leiste Flattergeräusche.
Auch auf dem Kreuz der Klosterkirche sitzt eine Krähe. Bald läuten die Glocken zur Sext und Non.

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