Lichtreserve

Es regnet seit Tagen. Über der Insel liegt Novemberdüsternis und fast unbemerkt hat sich der Erste Advent mit seinem Kerzenreigen dazwischengemischt. Auf den nassen Straßen ist niemand. Vereinzelt blakt eine Lichterkette gegen die Dunkelheit an. Viele Häuser sind jetzt wieder unbewohnt, dort leuchtet nichts. Ich selbst habe lange überlegt, ob es sinnvoll ist, überall in der Wohnung an Strom und Heizung zu sparen und dann die menschenleere Inselnacht mit Adventsdekorationen zu illuminieren. Aber dann habe ich doch die Lichterkette aus dem Schrank gekramt und sie mit klammen Fingern durchs Efeu gewoben und um mein pieksendes Wacholderbäumchen gewickelt. Ist mein Wohnviertel ohnehin schon als „Geisterviertel“ verschrien, weil hier im Winter fast niemand wohnt, so will ich zumindest nicht selbst zum Geist werden und trotz physischer Anwesenheit in der Seelenlosigkeit, die die verwaisten Häuser und Ferienwohnungen atmen, untergehen. Jedenfalls leuchtet es jetzt trotzdem bei mir und irgendwelchen Berechnungen zufolge machen die paar LED-Lämpchen das Sparschwein auch nicht viel magerer, als es eh schon ist. Ein komplett lichtloser Advent würde dagegen noch an ganz anderen Reserven zehren. Auch was diese betrifft, ist es zurzeit nicht einfach; die Depression liegt stetig auf der Lauer und lässt sich nur noch schwer einhegen. Medikamente sorgen dafür, dass der schwarze Hund weitgehend eingesperrt bleibt, aber man darf ihn nicht aus den Augen lassen, denn dann schiebt er sofort seine gierigen Krallen unter der Zwingertür hindurch. Die Düsternis auch am Tage, der ewige Regen und eine Dämmerung, die bereits kurz nach 15 Uhr in den grauen Himmel sickert, macht die Sache nicht besser. Und so stelle ich täglich den Wecker, obwohl ich das nicht müsste, um nicht zuviel vom ohnehin spärlichen Tageslicht zu verpassen, setze Seele und Netzhaut dem mit Glück etwas hellerem Lichtstreif überm Meer aus, atme die aerosolhaltige Luft, schaue Möwen, Sanderlingen und Schneeammern zu und versuche, so irgendwie diese dunklen Tage zu überstehen ohne größere Blessuren. Mein Vogelhaus auf dem Balkon beschert mir zwar eine Menge zusätzlicher Putzarbeit (wer frisst, kackt auch ordentlich), bringt aber auch eine Menge wohltuendes Leben auf die Bude. Sogar ein Zaunkönig, über den ich mich immer besonders freue, kommt beinahe täglich vorbei. Dazu Meisen, Spatzen, Rotkehlchen, Drosseln. Ich stehe gerne am Fenster und schaue den Tieren zu. Wie sehr sie sich über das Wenige freuen. Auch wenn es unter ihnen natürlich auch eine Menge Streit um die Knödel gibt.

Streit ist auf der Welt rund ums Vogelhaus noch zur Genüge. Auch das lässt mich nicht wirklich los; es ist immer noch Krieg in der Ukraine, aber die Solidarität und das Mitgefühl nehmen spürbar ab, erschreckenderweise sogar im Bekanntenkreis. Die Ukrainer könnten das doch beenden, wenn sie verhandelten, heißt es. Aber was gibt es bei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu verhandeln? Diese Leute sitzen in ihren warmen Wohnzimmern und ich frage mich, wenn jetzt ein Einbrecher dort einmarschierte, würden diese Leute dann allen Ernstes anfangen zu verhandeln, damit der Überfall schneller vorbei ist? Den Kronleuchter ja, das Bild nein. Nein?
Und hätte ein Einbrecher da überhaupt Interesse dran? Zumindest wohl keiner, dem es um die ganze Immobilie geht und nicht nur ums Porzellan. Ich höre mir diesen Mist meist widerstandslos an, mir fehlt die Kraft, oft bin ich auch einfach feige, weil ich die Leute eigentlich mag oder zumindest mal mochte. „Mit dem Adolf hätten sie damals auch nicht verhandeln können, als er in Polen einfiel“, fällt mir vielleicht noch ein, aber spätestens, wenn sogar dazu noch Relativierungen kommen, hat mein Heldentum ein Ende. Es ist zwecklos.

Dieser Tage fällt es schwer, das Licht des Advents zu entdecken. Natürlich, in der Kirche hängt der Kranz und die Gemeindechefin sorgt auch dafür, dass die Adventskerzen dauerhaft leuchten. Hinzu kommen die Opferkerzen, die noch immer — auch um diese Jahreszeit — in erstaunlich großer Zahl entzündet werden. Im Fürbittbuch herzzerreißende Einträge, viele voll Trauer mit der Bitte um Trost. Etliche kirchliche Nachrichtenportale bemühen sich um frohe Botschaft dieser Tage, betonen die Wichtigkeit von Hoffnung als Kern des Glaubens. Die Hoffnung darauf, dass SEIN Licht immer da ist, auch wenn wir es kaum noch zu erkennen glauben. Ich glaube daran, aber es ist trotzdem manchmal anstrengend, danach Ausschau zu halten, und man muss viel Schutt in der Seele und um sich herum beiseiteräumen, um Zugang zum Licht zu bekommen. Ich weiß, dass es da ist, und dass man jederzeit Herz und Hände daran wärmen kann. Dennoch ist das an manchen Tagen mühsamer als an anderen: Kälte draußen, Kälte in der Gesellschaft. Und irgendwo ganz weit drinnen ein einziges, kleines, aber lebenserhaltendes Licht.

Die vielen Adventsfeiern, die ich beruflich besuchen muss, tun ein Übriges dazu, dass bei mir keine rechte Stimmung aufkommen kann, denn zu sehr verknüpfe ich Glühwein- und Plätzchenduft und dekoriertes Tannengrün inzwischen mit Arbeit. Die Freundin und ich versuchen uns Lichtinseln zu schaffen, in dem wir Kurzurlaube planen; einen Ausflug zum Weihnachtsmarkt auf dem Festland, einen Zoobesuch. Irgendwas, an dem wir uns, die Vorfreude wie ein Tau nutzend, durch die trübe Zeit hangeln können. Wenn mich in der dunklen Umklammerung des Winters die Enge meiner Wohnung zu ersticken droht und klamme Feuchtigkeit in alle Ecken zieht, versuche ich mir vor Augen zu halten, wie verdammt privilegiert ich allein durch das Vorhandensein von fließendem Wasser und Strom, sei er auch noch so teuer, bin; zumindest im Vergleich zur gesamten Weltbevölkerung. Wir jammern hier ja durchaus auf hohem Niveau, das ist schon richtig. Also will ich nicht undankbar sein, denn immerhin, und auch das ist mir beständiger Trost, habe ich ja noch die Weite des Meeres um mich und zumindest Richtung Osten die nahezu unberührte Natur der Dünenlandschaft und der Salzwiesen. Der Wetterbericht verspricht noch wenig Hoffnung auf hellere Tage, aber auch die werden kommen, sie kamen ja immer.

Wie merkwürdig hingetupft dieser letzte Satz klingt, denke ich. Wie ein unachtsam verprengter Farbklecks. Weil man irgendwann mal gedacht hat, dass die Leute nichts lesen wollen, was nicht zumindest mit irgendeinem Hoffnungsschnipsel endet. Vielleicht sollte man den Leuten aber auch einfach mehr zutrauen. Oder, zumindest manchmal, auch bewusst eine Zumutung sein.

***

Allen Leser:innen wünsche ich eine gesegnete Adventszeit mit möglichst vielen Lichtinseln!

***

Herbstausklang


Der Herbst ist bereits weit fortgeschritten. Die Hagebutten der Hundsrosen leuchten aus immer kahleren Zweigen und letzte Zugvogelschwärme sammeln sich für die Reise in ihr Winterquartier. Am Strand entdecke ich erste Sanderlinge: Die winzigen Vögelchen sind Wintergäste auf Langeoog und ein Anblick, der das Kommen der Kälte eindeutig versüßt. Aber noch ist es nicht kalt auf Langeoog. Die Luft ist noch immer warm und es tut gut, sich davon mit tiefen Atemzügen beleben zu lassen, während die Natur sich immer mehr zur Ruhe bettet. Die Sturmböen der vergangenen Tage haben das Meer aufgewühlt, von den Wellenkämmen sprüht die Gischt in langen Fontänen. Sogar der flache Priel, an dem die kleinen Sanderlinge nach Futter suchen, zeigt einen beachtlichen Wellengang. Ich gehe ein Stück am Flutsaum entlang. In der Ferne lassen Familien Drachen steigen. Ich spüre den kräftigen Westwind im Rücken und weiß, dass ich ihn auf dem Rückweg verfluchen werde, aber in diesem Moment tut er einfach nur gut. Er schiebt mich sanft voran auf meinem Weg, treibt den Sand neben mir her und ich freue mich über diese friedlichen Begleiter sowie über jeden Meter, den ich vom Inseldorf weiter Richtung Ostende gelange. Weg von Hektik und Eitelkeiten, weg von Stress und Streit. Hinein ins Königreich der Vögel, des Windes und der Wellen: Den einzig legitimen Herrscherinnen hier auf dieser Insel, deren Schönheit und natürlicher Autorität aller Respekt und jede Ehre gebührt. Allein: Die Natur braucht keinen roten Teppich. Auch hamstert sie keine Pracht, sondern verschenkt all ihren Reichtum täglich. Und wir, die wir diese Großzügigkeit kaum noch verdienen, brauchen nichts weiter tun, als ihn anzunehmen. Nun ist es mit der Natur aber oft nicht anders als mit den Menschen untereinander: Wer einen Finger gereicht bekommt, langt all zu oft nach dem ganzen Arm. Mich macht der Gedanke traurig, dass all das hier irgendwann nicht mehr da sein könnte, weil einige Leute oder ganze Nationen den Hals nicht vollkriegen können. Klimawandel, Meeresvermüllung, you name it. Und doch interessieren diese globalen Fragen, auf die es auch nur globale Antworten geben kann, meist weniger als das tägliche Kleinklein, und ich nehme mich davon nicht unbedingt aus.
Das ornithologische Kleinklein in Form der Sanderlinge flitzt weiter längs am Priel entlang und ich bleibe stehen, um ihnen zuzusehen. Morgen beginnen die Zugvogeltage und ich erinnere mich an die Jahre, in denen ich als Urlauber daran teilnahm. Herrlich war es, denn ganzen Tag nichts anderes zu machen, als unter fachkundiger Anleitung durch diese herrliche Landschaft zu stromern und all diese kleinen gefiederten Wunder durch riesige Spektive zu bewundern, die wir den ganzen Weg über auf den Fahrrädern mitschleppten. Abends fiel man, ebenso glücklich wie erschöpft, in einen Stuhl in irgendeinem Restaurant und ließ sich etwas Leckeres servieren, bevor man in der Ferienwohnung den Tag bei einer Tasse Tee beendete. Voller Vorfreude auf den nächsten Sonnenaufgang und den Fasan, der mit kupferglänzendem Gefieder meckernd durch den Vorgarten schritt.
Ich mache mich auf den Heimweg, denn nun, im Alltag auf der Insel, wartet noch anderes auf mich als Essen, Ausruhen und Fasane. Über der Dünenlandschaft steht ein Turmfalke nahezu starr in der Luft, unterbrochen von kurzen Rüttelflügen und einem Hinabstürzen ins Dünengras, sobald er ein Beutetier entdeckt. Ich bewundere den eleganten Jäger für seine Beharrlichkeit, denn es sieht nicht so aus, als würde er nach jedem Sturzflug etwas erlegen. Aber er steigt immer wieder auf, späht immer wieder aufs Neue hinab: Der Hunger muss gestillt werden, bevor der Winter kommt.
Etwas ratlos betrachte ich das Jahr, das nun schon wieder zuende gehen will, kaum, dass man es in Händen hielt. Und dann reden die Menschen von Entschleunigung auf Langeoog, denke ich. Schön wär’s. Aber letztlich sind es ja doch diese kurzen Momente des Innehaltens, die uns wieder Atmen lassen und das Rotieren der Welt ein bisschen bremsen: Der rüttelnde Turmfalke, die emsigen Sanderlinge, die leuchtenden Hagebutten. Ich steige aufs Rad und stemme mich mit frischen Kräften gegen den Wind.

Tankstelle

Und plötzlich ist mir adventlich zumute. Am Wetter liegt es nicht, denn obwohl es Anfang September ist, zeigt das Thermometer heute 28°C an und die Wohnung der Freundin mit ihren Südfenstern ist eine Sauna. Auch liegt es nicht an den ersten Weihnachtssüßigkeiten, die wir dieser Tage in einem Supermarkt sichteten, denn das ist um diese Zeit ja nun wirklich keine Überraschung mehr. Doch nun ist da dieser Katalog eines spirituellen Buch- und Geschenkehandels, durch den ich blättere, während die Freundin irgendetwas in der Küche hantiert. Ich sehe hübsch dekorierte Kerzen, Backutensilien, Schwibbögen, Engelchen und all diese Dinge, die die Geborgenheit eines weihnachtlich geschmückten Zuhauses ausstrahlen. Derweil zieht der Duft von Tee zu mir rüber. Die Freundin setzt sich, und plötzlich wünsche ich, es wäre Advent. Ich sehe uns Plätzchen und Klöße formen, knusprige Ente aus dem Ofen ziehen und nach Nelken duftende Wildpastete essen; ich sehe glänzendes Geschenkpapier mit zarten Bändern vor mir, ebenso glänzende Augen und rote Wangen vom Strandspaziergang. Wir würden kuschelige Stricksachen tragen und uns aneinander wärmen, während die drückende Sommerschwüle kristallklarer Winterluft gewichen ist. Zweifelsohne würde ich mich zugleich über die Scheißkälte beschweren und vom nächsten Frühling in luftigen T-Shirts und Stoffhosen träumen, von den bunten fröhlichen Farben des Osterfestes und all den Verheißungen eines noch jungen Jahres. Und doch frage ich mich, woher sie kommt, diese plötzliche Weihnachtssehnsucht, jetzt, wo nicht einmal etwas vom Herbst zu spüren ist. Vermutlich, denke ich, ist es eher die Sehnsucht nach dem Innehalten, nach dem heimeligen Kokon des Privaten, nach der Schönheit der Insel in der Winterstille.
Die letzten Tage waren das Gegenteil von Innehalten, denn leider gilt auch bei der Urlaubsplanung: Zeit ist Geld. Wenn man sich nicht viele Tage leisten kann, bedeutet das also, in kurzer Zeit möglichst viel herumkommen zu wollen, und so bereisten wir in 5 Tagen 5 Orte. Schön war das schon; wir sahen zauberhafte Architektur, Natur und Tiere, sogar alte Freunde waren mit im Programm. Und doch war alles so schnell wieder vorbei wie ein schnell geträumter Traum während eines Mittagssschlafs. Und es ist ja nicht nur die Urlaubszeit, die vielleicht ein wenig zu vollgepackt war. Das ganze Jahr ist gefühlt ein wenig zu voll gepackt mit all seinen Hiobsbotschaften von Krieg und Energiekrise, von Inflation, Rezession, Dürre und Waldbränden und all dem. Ist es da verwunderlich, wenn auf der anderen Seite die Sehnsucht nach einem Heile-Welt-Nest wächst?

Ich erinnere mich an eine Zeit „vor vielen, vielen Monden“, wie es mein Freund H. formulieren würde, als ich unter grässlichem Liebeskummer litt. Aus allem war die Farbe gewichen; kein Ort, an den ich gehen konnte, wo nicht auf irgendeine Weise eine Lücke mit der Kontur des so elendig vermissten Menschen klaffte. Und in genau dieser Zeit hatte ich einmal einen Traum: Nicht vom Kummer, sondern vom Gegenteil. Im Traum wohnte ich mit diesem Menschen in einem wunderschönen Landhaus, wir verstanden uns wortlos; alles war vertraut und unverkrampft. Wir lasen Zeitung und tranken Tee, während die Dahlien im Garten vorm Fenster der Wohnküche ihre Köpfe im warmen Herbstwind wiegten. Unweit davon spiegelte das Meer weiches Sonnenlicht. Das Aufwachen aus diesem Traum und das Realisieren, in welcher grauen und kalten Wirklichkeit ich mich befand, war, man ahnt es womöglich, eher unerfreulich. Ein Freund, dem ich damals davon erzählte, nannte es mit seiner lakonischen Ader einen „Laura-Ashley-Traum“und das war so treffend, dass ich ihm nicht einmal im Ansatz deswegen böse sein könnte. Bedienten die romantischen, heimeligen Landhaus-Designs des ehemals britischen Unternehmens nicht genau solche Cottage-Sehnsüchte stressgeplagter Städter:innen?

Auf Langeoog im Allgemeinen und mit meiner zukünftigen Ehefrau im Besonderen bin ich, dem Herrn sei es gedankt, zwar in weiten Teilen in einer Laura-Ashley-Realität angelangt, aber dennoch denke ich rückblickend, dass dieser Traum damals wichtig und notwendig war, um meiner kummergeplagten Seele eine Pause zu ermöglichen. Und so ist es wohl auch mit meinem plötzlichen Anfall von Weihnachtssehnsucht. Es ist wohl weniger das Fest selbst oder gar die Sehnsucht nach dem Winter als das Verlangen nach einer Pause für die Seele, nach „Einmal Volltanken mit Frieden, Geborgenheit und Wärme, bitte.“ Von dieser Tankfüllung lässt sich dann, mit Glück, auch bis Ostern zehren.

Furcht

Irgendwo in den Tiefen des www freut sich jemand über seinen baldigen Umzug nach Langeoog. „Herzlich willkommen“, schreibe ich. „Der Inselkoller kommt schon noch“, unkt jemand anderes. Ich ärgere mich über diese Miesmacherei, erinnere ich mich doch gut an die Euphorie der ersten Inseltage. Kann man das jemanden nicht einfach mal gönnen? Zugleich ziehe ich innerlich Bilanz. Hatte ich ihn wirklich nie, diesen berüchtigten Inselkoller, der laut des Kommentierenden ja zu kommen hat wie das brühmte Amen in der Kirche? Die Antwort ist auch nach acht Jahren auf Langeoog ein rundum überzeugtes Nein.
Zweifelsohne gibt es Momente, in denen es nervt, nicht jede Einkaufsoption und nicht jede kulinarische Richtung an Restaurants verfügbar zu haben; keine Auswahl an Kinos, keine größere Bandbreite Kleinkunst, keinen Botanischen Garten und keinen Nadelwald.
Aber ein Gefühl der Enge, des Eingeschlossenseins oder gar der Langeweile? Nein. Enge sind für mich graue Häuserschluchten; verloren fühle ich mich in den blinkenden, lärmenden und nimmermüden Straßen einer Großstadt; einsam in anonymen Menschenmassen. Weite geben mir das Meer, die vom späten Sonnenlicht vergoldete Dünenkette, die Zugvogelschwärme im Frühjahr und Herbst. Die Stille im Winter, wenn man am Strand nur das Knacken der dünnen Eisschicht unter den Schuhsohlen, den Wind und das Zwitschern der Schneeammern hört, gibt mir Seelenfrieden. Auch dass die besten Freunde Hunderte Kilometer entfernt leben, empfinde ich nur gelegentlich als Fluch; viel öfter aber als Segen. Schließlich ist die physische Distanz ein Garant dafür, dass man bei diesen Freunden unzensiert über die Undelikatessen des Insel-Alltags reden kann, weil sie kein Teil des Langeooger Mikrokosmos sind und man nicht erst Nachforschungen anstellen muss, wer mit wem alles verwandt ist und ergo befangen sein könnte. Es ist ein schönes Leben.

Trotz allem möchte ich ein Insulanerdasein nicht pauschal empfehlen, denn es ist wohl vor allem eine Typfrage, ob man auf Langeoog dauerhaft leben kann oder nicht. Oder eine Frage der persönlichen Bindung an die Insel, denn wer hier quasi schon immer lebte oder viel Familie vor Ort hat, hat natürlich noch einmal einen ganz anderen Bezug (und einen anderen Alltag) als jemand, der neu hinzukommt und sich erst einmal durch das Dickicht gesellschaftlicher Verflechtungen und Tabuthemen fräsen muss, bevor er oder sie überhaupt seinen eigenen Platz finden kann. 
Was ich jedoch pauschal empfehlen kann, ist, sich Neuem ohne Angst zu stellen und an seinen Träumen festzuhalten. Es lohnt sich. Sofern sie nicht in Leichtsinn umschlägt, lohnt sich Furchtosigkeit eigentlich immer. Sei es bei einem Insel-Umzug oder in der Liebe.

Meine Liebe ärgert sich gerade über eine querfliegende Haarsträhne, als ich mit ihr an den Strand eile, um den letzten Rest Sonnenuntergang einzufangen. Die Luft ist weich und warm; die Priele füllen sich mit glitzerndem Wasser und über allem liegt der Dunst eines Spätsommertages. In der Nähe ankert ein hell erleuchtetes Arbeitsschiff, und ich denke an die Leute, deren Übergangsheimat nun dieses Schiff ist. Vielleicht essen sie gerade, machen ein Spiel oder unterhalten sich irgendwo in den engen Räumen; vielleicht sucht auch jemand Luft und Ruhe an der Reling und schaut auf den Strand, so, wie ich jetzt auf dieses Schiff schaue. Und dann steht da dieses Pärchen am Wasser, eins von vielen, und das sind wir.

In diesem Jahr hat sich auch die Natur ein gutes Stück Strand erobert. Büschel von rosablühendem Meersenf spießen zwischen den Strandkörben und ich bin froh, dass sie niemand untergepflügt hat. Dass es oft gut ist, Dingen einfach ihren Lauf zu lassen, zeigt sich aber nicht nur am Meersenf. Denn auch die Frau an meiner Seite wäre nicht ebenda, wenn wir uns auf das Wagnis „Zweisamkeit“ nicht eingelassen hätten. Und die Versuchung, es einfach wieder zu lassen, war groß. Zu sehr hatten wir uns im Alleinsein eingerichtet; zu schlecht waren frühere Erfahrungen mit der Einsamkeit zu Zweit. Und ich muss zugeben, dass die Angst vor diesem Wagnis wesentlich größer war als die vor dem Umzug nach Langeoog, denn hier gab es keinen Plan B und keine Probezeit. Auf die Liebe, das war mir klar, müsste ich mich in diesem Fall ganz einlassen — oder gar nicht.

Den Verlobungsring meiner Freundin ziert ein kleiner Stern aus Brillantsplittern, und ich mag es, wie sein Glitzern wiederum viele kleine Sterne erzeugt, ebenso wie die Wellen im Priel, die das Sonnenlicht spiegeln. Ein Leuchten und Funkeln, obwohl darunter und drumherum soviel Dunkelheit ist, soviele Gefahren — und soviel, von dem wir nichts wissen und das uns wohl immer fremd bleiben wird. 
Die Tage durchforsteten wir die Bibel nach einem Trauspruch, denn auch wenn uns unsere Kirche schmerzlicherweise das Sakrament verweigert, soll uns doch zumindest eine kleine, private Segensfeier vor Gott einen. 
„Furcht gibt es in der Liebe nicht. Die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht“, heißt es im Johannes-Evangelium, und wir wussten sofort: Der ist es.

Furcht ist, das kann ich wirklich bezeugen, fast immer ein schlechter Ratgeber, und das sage ich als jemand, der eigentlich alles andere als risikofreudig ist, der Rückzugsräume braucht und immer etwas, das Halt und Heimat gibt. Wo aber genug Liebe ist — die zum Meer, die zu einem Menschen — da ist die Furcht nicht. Und sollte sie sich doch einmal wieder als brummendes Hintergrundgeräusch bemerkbar machen, so lässt sie sich trefflich vom Seewind übertönen.

Stare

Jedes Jahr wieder ein tolles Spektakel — man sollte allerdings lieber nicht direkt unter so einer Starenwolke stehen, sonst ist man schnell ähnlich gesprenkelt wie die Vögel selbst — nur weniger hübsch 😉
Zurzeit laben sich die einzig wahren „Stars“ der Insel an den ersten Sanddornbeeren, den Hagebutten und den Holunderbeeren.

Insel-Inseln

Wieviel Inselsommer mir in diesem Jahr wirklich entgangen ist, merke ich erst, als ich nach der Messe ins Freie trete. Hinter der Kirche hat sich die Sonne bereits tief gesenkt und den Himmel mit pastellfarbenem Dunst überzogen. Ich beeile mich, um von St. Nikolaus ans Meer zu kommen, denn auch den Strand und die wunderbare Weite der offenen Nordsee sah ich lange nicht. Zwar liegt auch die Stadt meines Klinikaufenthaltes im Norden, aber man hat von dort aus lediglich Blick über einen Meerbusen — auch das durchaus hübsch, aber nicht wirklich mit einem Inselstrand vergleichbar. Auch die Luft erscheint mir weicher auf Langeoog; glücklich atme ich ein paar tiefe Züge und genieße das Abendlicht am Flutsaum.
Hinter mir kuschelt sich die Kirche St. Nikolaus in ihr Dünennest. Auch sie hatte ich vermisst wie einen alte Freundin. Nach dem abendlichen Marsch durchs Dorf, wo ich viele Fremde und einige Fremdgebliebene traf, von denen niemand grüßte, öffnete ich mit dem Kirchentor einen Hort der Geborgenheit. Schon von Weitem sah ich unzählige Opferkerzen brennen; fast kein einziger Steckplatz war mehr frei. So viele Gebete, so viel Dank für ein paar schöne Tage auf der Insel, aber natürlich auch: Flehende Bitten, um Trost, Heilung, Zuflucht. Mich rührt jedes Mal, wie gut die Kerzen angenommen werden, an diesem schönen Kirchenstandort zwischen Land und Meer.
Drinnen winkte mir die Organistin und strahlte, bevor sie mit geübter Hand die Königin der Instrumente erklingen ließ. Auch der Kurpriester erkannte mich wieder und nickte beim Einzug, ebenso die Gemeindechefin. Es war schön, vermisst worden zu sein; diese vertrauten, wohlgesonnenen Menschen zu sehen und ihre vertrauten Stimmen zu hören. Mein zweites Zuhause: Ich hege keinen Zweifel daran. Der Priester trug eine bunte Stola mit Langeooger Motiven über seiner Franziskanerkutte: Der Wasserturm war darauf, ein Austernfischer und natürlich das Meer. Auch das brachte ein Gefühl sommerlicher Leichtigkeit. Die letzten Wochen waren nicht leicht. Und auch die nächsten Wochen, Monate werden es vielleicht nicht, aber dennoch wurde ich mir in diesem Moment einmal mehr des Privilegs bewusst, in diesem Naturparadies leben zu dürfen. Mit meinen ganz eigenen, langsam gewachsenen kleinen Inseln der Geborgenheit darauf; so nah am Meer und im Bewusstsein, dort und nirgendwo sonst hinzugehören.

Die See liegt ruhig an diesem Abend und hat sich weit zurückgezogen. Bald ist das letzte Licht des Tages erloschen. Nur mit Mühen kann ich noch die weiße Gischt erkennen. Menschen sind kaum noch unterwegs. Auch der Mensch, der zu mir gehört, ist an diesem Wochenende nicht da, aber wie die Flut wird auch sie wiederkommen, und so gräme ich mich nicht darüber, denn alles, was ich liebe, ist hier — so oder so.

Durst

Es war ein kalter, trockener Frühsommer. Die Temperaturen klammerten sich noch Ende Mai an die 10°C-Marke, obwohl die Sonne schier ununterbrochen gegen die Kälte anzuscheinen versuchte. Regen fiel, wenn überhaupt, nur in homoöpathischen Dosen, die gerade ausreichten, um die erschlafften Blüten und Blätter mit ein paar fotogenen Perlen zu benetzen. In den letzten Tagen hat sich zumindest die Trockenheit ein wenig gebessert, aber ich weiß nicht, was dieser Regen zu retten vermag. Die lang ersehnte Feuchtigkeit lockt den Duft der Kartoffelrosen und Maiglöckchen noch einmal hervor; im Morgendunst singen Nachtigallen, irgendwo verborgen im dichten Rosengestrüpp, das schon mit herbstbraunen Blättern durchsetzt ist. Daneben jedoch, als kleiner Hoffnungsschimmer, zeigt sich ganz neu ins Leben geholtes, frisches Grün, das das verdurstete, welke Laub verbirgt.
Nun steht in wenigen Tagen der meteorologische Sommeranfang bevor. Am Strand ist das längst unübersehbar: Die Saisonausstattung ist vollständig. Strandkörbe, Plankenwege, Spielgeräte, Umkleidehäuschen, Duschen, alles da. Austernfischerküken tapsen durchs Gras, die Highland-Rinder säugen zottelige Kälbchen mit honigfarbenem Fell. Durch die Salzwiesen streicht der Wind und enthüllt ihr sommerliches Farbenspiel.
Dahinter liegen die weiten Wattflächen.
Ich sehe mir das alles an und sehe es dabei doch irgendwie nicht; ich sehe diesen Sommer nur mit den Augen. Herz und Seele schweigen. Die Farbenpracht ist wunderschön und die Tierkinder sind entzückend, und ich weiß, was ich bei dem Anblick fühlen sollte, aber ich fühle nichts. Da ist wieder diese Milchglasscheibe und diese Schallschutzmatte zwischen mir und der Welt; hochgezogen von irgendeiner Leibgarde meiner Seele, über die ich nicht befehlen kann. Die Depression ist zurück.
Nun höre ich schon wieder das Geunke, wie ich denn unglücklich sein könne, denn ich hätte doch alles, allem voran eine Wohnung am Meer, aber man kann tatsächlich eine depressive Episode haben, ohne unglücklich zu sein, denn Depressionen sind nunmal eine Krankheit — und kein temporärer Gemütszustand oder gar ein Gefühl. Vielmehr gehen Depressionen mit einer Art Gefühlstaubheit einher; man ist weder traurig noch fröhlich, sondern einfach … gar nicht. Eine atmende Hülle, die nach außen hin noch eine Weile funktioniert, wie sie es trainiert hat, aber auch das ist endlich. Sonst ist da nichts. Und hinter dem Funktionsmodus nur noch Leere.
Alles ist schwer; das Leben wird zähflüssig. Man kämpft sich mit jeder Bewegung durch dicklichen Sirup, der aber nicht süß ist, sondern so farb-, geschmack- und geruchlos wie alles andere, das einen umgibt, und das man aus der Erinnerung noch lieben oder verabscheuen kann, aber in Wirklichkeit ist da gar nichts. Man kann einen Ausflug machen, um sich abzulenken, und minutenweise funktioniert das auch: Man lacht über einen Witz, bewundert einen hübschen Vogel und die zartgrünen Weizenfelder entlang der Birkenalleen. Man sieht die Schönheit: Die Felder gesäumt von schwarzgrünem Wald, die Zweige der Trauerbirken wehen im Abendwind, die roten Fachwerkhäuser stehen von der Abendsonne vergoldet in kleinen, heimeligen Ansammlungen wie alte Freunde. Grün lackierte Scheunentore mit leuchtenden Rosen davor und riesigen Rhododendren mit plüschigen Hummeln in den Blütentrichtern. Aus dem Wald ruft der Kauz; Störche klappern, aus dem Schilf am Teich quakt es. Der treue Mensch weicht nicht von meiner Seite, ist weich und warm und und liebt und lächelt unerschütterlich; baut einen warmen, weichen Kokon aus Geborgenheit. Und dennoch.
Man fällt zurück in den zähen Sirup; alles verhallt und verschwimmt und verblasst — obwohl man weiß, dass es noch da ist. Und obwohl man weiß, dass es schön ist. Wenn man sich dann dabei ertappt, dass man irgendetwas machen wollte und doch nur minutenlang vor sich hingestarrt hat; dass man tagsüber bald irre wird vor Müdigkeit und nachts doch kein Auge zubekommt, weil da zu viel ist, was einen plagt und sorgt, auch wenn die Vernunft im Hintergrund ebenso vergeblich wie ununterbrochen gegen das Plagen und Sorgen anplappert — dann weiß man, dass die Depression wieder da ist, der schwarze Hund, F 33.2. oder wie immer man das Elend nennen mag.

Depression ist ein bisschen wie diese riesige, weite Wattfläche hinter der Salzwiese, denke ich manchmal. Eine graubraune, plane Ödnis. Allerdings ohne das Glitzern der Siele, ohne all die Geräusche, die vom Leben unter dem Schlamm erzählen. Und im Gegensatz zum Watt bietet eine Depression weder Nahrung noch Lebensraum. Im Gegenteil: Depressionen laugen aus; sie saugen Farbe und Leben aus allem und beschneiden die eigene Welt auf ein Minimum an Funktionsradius. Und mit jedem Außenreiz wird es schlimmer. Dann kommen die körperlichen Symptome: Das schrille Pfeifen im Ohr, die Luftnot, die Erschöpfung, die Muskelschmerzen, der Schwindel und die Schlaflosigkeit. Danach funktioniert gar nichts mehr.
Selbstverständlich tue ich dem Watt mit diesen Vergleichen Unrecht, denn das Watt ist ein wundervolles, faszinierendes Ökosystem, in dem, genauer betrachtet, mehr los ist als auf jeder Partymeile — mit unendlich viel Leben in jedem Kubikzentimeter, mit geschäftigem Gewusel, mit Leben und Sterben, Gedeihen und Vergehen. Die vermeintliche Ödnis, die das Watt auf den ersten Blick bietet, hat ihre ganz eigene, unverwechselbare Schönheit und ist von unschätzbarem Wert.
Sicher gilt das auch für die Wüste und vielleicht sogar für die Mondlandschaft, auch wenn ich beides noch nie mit eigenem Auge gesehen habe. Insofern gibt es wohl keine Landschaft, die sich wirklich mit der Seelenlandschaft eines Depressiven vergleichen ließe, aber Betroffene und deren Angehörige wissen, was ich meine.

Leider gibt es da noch die anderen.
30% aller Deutschen halten Depressionen auch im Jahr 2022 noch für eine Charakterschwäche, las ich dieser Tage. Für einen Fall von Faulheit, von „Stell-dich-nicht-so-an“, von „Lach-mal-die-Sonne-lacht-auch“ und „andere-Menschen-haben-echte-Probleme“. Von diesen kommen dann die Kalenderweisheiten und irgendwelcher esoterischer Klimbim der Richtung „Glücklichsein ist eine Entscheidung“; letzteres entspringt vermutlich der Unsitte, dass einige Menschen umgangssprachlich von „depressiv“ reden, wenn sie lediglich „schlecht drauf“ oder „unglücklich“ meinen. Und nein, es geht auch nicht jeder depressiven Episode ein Schicksalsschlag voraus. Längere Phasen von Stress können eine solche begünstigen; traumatische Erlebnisse auch, aber letztlich springen Depressionen doch recht wahllos Menschen an: Auch schöne, erfolgreiche, glückliche. Tote Film-, Literatur- oder Sportstars sind dafür traurige Beweise. Depressionen sind eine Krankheit, mitunter tödlich. Und es muss vorbei damit sein, dass man nicht darüber reden darf. Ist es nicht vollkommen absurd, dass man für jede harmlose Erkältung Mitgefühl bekommt, sich in einer schweren depressiven Episode aber „halt einfach mal mehr bewegen“ soll? Depressive Menschen sind keine undankbaren Jammerlappen, sondern krank. Nicht mehr, nicht weniger, und in den meisten Fällen sogar behandelbar krank. Depressionen sind nicht immer komplett heilbar, aber doch kontrollierbar. Dafür gibt es Fachärzt:innen und Medikamente. Warum ich das hier erzähle, anstelle ausschließlich ein Farbe und Leichtigkeit sprühendes Glitzerbild des Inselalltags zu zeichnen? Weil es Leben retten kann, darüber zu reden. Und weil Depressionen — ja, tatsächlich — auch reisen und schwimmen können.

Hinweis:
Wer sich hier allzu sehr wiedererkennt — ich habe seit mehr als 3 Jahrzehnten Depressionen und kann die Schwere einer Episode mittlerweile halbwegs einschätzen; folglich auch rechtzeitig Hilfe in Anspruch nehmen. Wer das nicht kann: Bitte ruft lieber einmal zuviel als einmal zu wenig eine Fachärztin, einen Seelsorger, den Krisendienst, den Psychosozialen Dienst oder die Telefonseelsorge (0800-1110111) an. Auch die 116 117 hilft. Bei akuten Suizidgedanken wählt bitte den Notruf 112! Bei der Seelsorge oder dem PSD kann man sich auch als Angehörige:r von depressiven Menschen beraten lasen, Hilfe und Ohr finden. Ihr seid nicht alleine — und die Menschheit besteht tatsächlich nicht nur aus den rohen, unzivilisierten, schadenfrohen und gehässigen Arschlöchern, die unter Artikel über Depressionen und Suizide dämliche Lachsmileys pappen. Da draußen ist auch eine Menge Licht — Immer noch. Alles Liebe!

Lesung im Schullandheim (Ratsgymnasium Bielefeld)

Nach sehr langer Zeit durfte ich mal wieder eine Lesung auf Langeoog machen. Eingeladen hatte mich eine Gruppe ehemaliger Abiturienten des Ratsgymnasiums Bielefeld, die mit dem Schullandheim auf Langeoog schöne Erinnerungen verknüpfen. Und derer sind einige, denn es handelt sich um den Abi-Jahrgang 1964(!). Fast 70 Jahre währt die Liebe dieser Menschen zur Insel, und sie waren ein absolut großartiges Publikum. Alle zeigten sich im Anschluss begeistert und ich konnte viele, viele Bücher verkaufen. Spontan hatten sich auch noch einige Damen-Sportgruppen der Lesung angeschlossen; auch hier gewann ich neue Leserinnen. Ich bin bis heute von all den schönen Rückmeldungen und persönlichen Anekdoten, die mir im Kontext mit meinen Prosastücken anvertraut wurden, vollkommen überwältigt. Dankeschön, gerne wieder!

Schwarzkehlchen

Auf dem Weg Richtung Meierei und Ostende fallen zur Zeit in erster Linie die Graugänse mit ihrem flauschigem Nachwuchs und die vielen anderen Wasservögel ins Auge. Es lohnt aber auch ein Blick ins Gebüsch entlang des Weges, denn dort lassen sich viele Singvogelarten entdecken. Oft hört man diese sogar bevor man sie sieht — dieses Schwarzkehlchen lieferte dagegen gleich beides: Eine schöne Gesangsdarbietung ebenso wie seinen prachtvollen (und Fotografenfreundlichen) Anblick hoch oben auf einem Strauch.

Das Europäische Schwarzkehlchen (saxicola rubicola) ist ein kleiner Singvogel aus der Gattung der Wiesenschmätzer. Es ist in etwa so groß wie ein Rotkehlchen und gehört, ebenso wie dieses oder auch das Balukehlchen, zur Familie der Fliegenschnäpper. Das Männchen hat einen schwarzen Kopf mit einem weißen Halsring, dunkelbraunes Rückengefieder und eine karamell- bis rostfarbene Vorderseite. Beim Weibchen ist weniger Schwarzanteil im Gefieder sichtbar; sein Kopf wirkt eher braun; auch das Halsband ist weniger ausgeprägt. Das Schwarzkehlchen kommt in ganz Deutschland vor mit Schwerpunkt nördlich der Mittelgebirge. Es bevorzugt offene, sonnige Landschaften wie Heide, Hochmoore, Braundünen. Die Flächen sollten aber auch einige Sitzwarten bieten. In vielen Regionen gilt die Art leider als stark gefährdet. Von März bis August werden zwei Bruten großgezogen; das Gelege besteht aus 5-6 Eiern, das Nest befindet sich vertieft am Boden, gepolstert mit Gräsern, Halmen und Moos. Die Vögel ernähren sich von Insekten, Spinnen und Würmern, die sie meist auf dem Boden fangen.

Fotos: Mayk Opiolla. Text zuerst veröffentlicht auf Langeoog News

Blaukehlchen

Das erste Mal in 8 Jahren Inselleben flatterte mir ein Blaukehlchen vor die Linse. Ich war sehr glücklich darüber!

Mit ihrer leuchtend blauen Kehle und der orange- bis rostfarbenen Schwanzgefieder sind Blaukehlchenmännchen unverkennbar. Von hinten sehen sie allerdings recht unscheinbar aus, sodass es die richtige Perspektive braucht, um die Art als Laie identifizieren zu können. Das gilt auch für die Weibchen, denn diese haben, wenn überhaupt, nur eine leichte graublaue Färbung an der Kehle. Auch die Männchen zeigen ihre volle Farbenpracht nur während der Brutzeit. Ganzjährig und geschlechtsübergreifend ist hingegen der weiße Überaufgenstreif zu sehen sowie die stellenweise rostrote Färbung an Brust und Schwanzbasis.

Dieses Blaukehlchen zeigte sich in der Nähe des Vogelwärterhauses. Blaukehlchen gelten zurzeit als nicht gefährdet; dennoch bekommt man sie selten zu sehen. Grund ist, dass sie sich (im Gegensatz zu Rotkehlchen z.B.) nicht in Siedlungen aufhalten, sondern Moor- und Schilfgebiete bevorzugen. Dort leben sie überwiegend versteckt. Das Blaukehlchen fühlt sich in feuchten und halboffenen Lebensräumen zu Hause. Dazu zählen neben Schilf und Mooren auch Weidengebüsch an Gewässern oder Gräben, Auwälder sowie Berghänge mit einzelnen Sträuchern.

Blaukehlchen gehören, wie z.B. auch Rot- und Schwarzkehlchen, zur Familie der Fliegenschnäpper. Dies gibt auch bereits einen Hinweis auf ihre bevorzugte Nahrung: Insekten. Außerdem fressen sie Spinnen, Würmer und Beeren. Das Blaukehlchen ist ein regelmäßiger Brutvogel auf Langeoog und in ganz Niedersachsen; etwa 3500 Brutpaare wurden zuletzt in dem Bundesland gezählt. Am Besten kann man die Vögel von April bis August beobachten. Sie überwintern in Nord- bis Zentralafrika.

Blaukehlchen haben einen wohltönenden Gesang, der auch Imitationen anderer Vogelstimmen beinhalten kann. Auf der Website der Nationalparkverwaltung kann man ihn anhören. Die verschiedenen heimischen Kehlchenarten, die man auch allesamt auf Langeoog beobachten kann, kann man beispielsweise hier unterscheiden lernen.

Fotos: Mayk Opiolla. Text zuerst erschienen auf Langeoog News.