Momentaufnahme, Danach

Nachdem sich die befürchtete Corona-Infektion als Bronchitis entpuppt hat, ist Aufatmen angesagt. Dies zwar nicht unbedingt im körperlichen Sinne, denn ich stehe unter Antibiotika-Beschuss und gerate auch weiterhin bei jeder Kleinigkeit außer Atem, aber innerlich fühle ich mich wie nach einem Seelen-Großputz. Nie hätte ich gedacht, welch befreiende Wirkung das Wort „negativ“ haben kann.
Aber zum Leichtsinn verleiten sollte das Testergebnis keinesfalls.

Gerade den Klauen des Infektionsverdachts entrissen, wundere ich mich umso mehr über die Vielzahl an Menschen, für die der Virus offenbar ebenfalls Urlaub macht: Und das grundsätzlich nicht da, wo sie sich gerade selbst befinden. Selbstverständlich herrschen auf Langeoog Hygienevorschriften wie überall sonst, aber dennoch scheint es vielerorts nötig, Gäste wie Mitinsulaner daran zu erinnern, dass die Pandemie längst nicht eingedämmt ist; aller Lockerungen bei der Insel-Anreise und Beherbergung zum Trotz.

In den letzten Wochen ist die Personenzahl auf der Insel beträchtlich angewachsen, sogar Tagesausflügler dürfen uns wieder besuchen. LangeoogerInnen reisen ebenfalls eifrig hin und her, und so können nur ganz naive Zeitgenossen davon ausgehen, dass niemand den Virus irgendwann im Gepäck hat. Wohl jeder wappnet sich emotional für den ersten größeren Ausbruch. Aber kaum jemand spricht es aus. Man will schließlich niemanden verschrecken.

„Wissen Sie was“, flüsterte mir eine ältere Insulanerin veschwörerisch zu, die ich dieser Tage zufällig kennenlernte, „eigentlich fand ich es ja ganz schön mit der Ruhe im Frühjahr. Als niemand hier war. Aber das darf man ja nicht laut sagen.“ Ich musste über diese Aussage ebenso schmunzeln wie sie mich verstörte: Denn was sagt es bitte über den Zustand der Gesellschaft aus, wenn selbst über 80jährige sich noch vor einer Verbalhinrichtung für jedes vermeintlich falsche Wort fürchten müssen?
Ich möchte besser nicht mehr darüber nachdenken und fokussiere auf das, was ich an dieser Insel liebe: Die verschwenderische Pracht des Weltnaturerbes, das Meer und die endlose Weite des ostfriesischen Himmels. Nach den Quarantänetagen nahezu gierig auf Sonnenlicht und Luft verbringe ich jede freie Minute draußen.
Denn nun ist auch wirklich Sommerwetter. Der Sand ist bereits so heiß, dass er die Fußsohlen verbrennt; am Strand tobt das Leben.

Die Freundin schwimmt. Ab und zu sehe ich ihr sommersprossiges Näschen aus den Wellen auftauchen. In ihrem eleganten schwarzen Retro-Badeanzug ist sie ein hübsches Fleckchen Frieden in all dem bunten Lärmen um uns.
Das Leben gefällt mir, denke ich, und fühle mich selten ausgeglichen. Mir fehlt nichts, und kurz bin ich geneigt, mich in eine sorglose Ferienstimmung sinken zu lassen, ohne all den Wahnsinn um uns: Mit dem Virus, mit der Welt. Die Versuchung, all das einfach auszublenden und zu verdrängen, ist groß.

Für einen Moment beginne ich sogar Verständnis für die Menschen zu entwickeln, die es mit den Hygienebestimmungen hier nicht so genau nehmen, weil sie vielleicht auch gerade diese Erleichterung spüren, all dem Wahnsinn kurz entkommen zu sein. Diesem neuen, anstrengenden Alltag mit Mundschutz und Desinfektionsmitteln. Weil Langeoog für sie eben kein Alltag ist, sondern Auszeit.
Und doch ist auch hier keine unkaputtbare Kunstwelt: Denn auch Inselbewohnende sind sterblich, ebenso wie die Inselärzte. Fällt unser Arzt aus, sind wir am Arsch — um es mal ebenso präzise wie unpoetisch auszudrücken. Und darum kann man nur immer wieder auf Vernunft hoffen. Auf Rücksicht und Selbstdisziplin. Hintereinanderlaufen auf schmalen Wegen, damit Entgegenkommende Platz zum Ausweichen haben. Im Supermarkt nicht quer durch die Gänge brüllen und tröpfchenlastige Diskussionen grundsätzlich nicht Fremden zumuten. Es ist machbar. Und viele bekommen es auch hin.

Der Tag neigt sich, und ich stelle fest, dass ich in naher Zukunft nichts Größeres mehr erwarte, nichts plane. Nicht im Sinne von Resignation, sondern im Sinne zunehmend stoischer Gelassenheit. Denn die Coronakrise macht — die Abwesenheit existenzbedrohender Probleme vorausgesetzt — vielleicht auch gewisserweise genügsam: Was geht, geht. Und was nicht geht, geht eben nicht. Fordern und Rechthaberei sind nutzlos in einer Pandemie: Das sollten auch die Ich-fixiertesten unter den Mitmenschen allmählich einsehen. 
Wir müssen das jetzt aussitzen; mit Umsicht, Rücksicht, Maske und Augenmaß. Was danach kommt, wird man sehen. 
Ich reiße mich aus meinen Gedanken und werfe den Blick zurück auf die Wellen. Die Freundin taucht derweil nochmal ab, und vermutlich ist das auch das Beste, was man zurzeit hier machen kann.

Momentaufnahme, Naherholung

Es verspricht ein schöner Tag zu werden. Als ich mich frühmorgens auf den Weg zum Anleger mache, ist der Himmel bereits strahlend blau, nur einige Federwolken ziehen feine Schlieren ins Firmament. Es tut so gut, einmal selbst wieder Tourist zu sein und in einen nahezu unverplanten Tag zu starten; in einige Stunden absoluter Freiheit, in denen man weder Gedanken noch Gefühle irgendeiner Agenda unterzuordnen hat. Ein Tagesausflug nach Spiekeroog soll es heute werden, und ich könnte für diese Möglichkeit einer kurzen Auszeit vom Saisonwahnsinn auf Langeoog nicht dankbarer sein.

Bisher kannte ich die östliche Inselnachbarin nur von kurzen Ausflugsfahrten, während derer man rund 2,5 Stunden auf dem Eiland verbringt. Heute aber stehen mir luxuriöse 8 Stunden Aufenthalt bevor, wenn auch mit kurzem Bedenken, ob das nicht doch langweilig werden könnte. „Zur Not mache ich halt einfach Mittagsschlaf am Strand“, denke ich, und taste kurz im Rucksack nach der mitgebrachten Decke: Ich bin für alle Eventualitäten gerüstet. Dass ich den Unterhaltungswert Spiekeroogs dabei arg unterschätzte, sollte sich schon sehr bald zeigen.
Auch der Traum, auf Spiekeroog komplett unerkannt im Gästestrom unterzutauchen, zerschlägt sich schon an Bord des Schiffes, denn natürlich nutzen auch andere Langeooger die Gelegenheit zu dieser bequemen Inselerkundung ohne Umweg über die Festlandshäfen: Eine regelmäßige Direktverbindung zwischen den Inseln gibt es nämlich nicht.
Für Menschen, die die Inseln noch nicht gut kennen, gibt es bereits auf der Überfahrt die ersten Highlights, erläutert durch passende Durchsagen auf dem Schiff. Seehunde sind auf Sandbänken zu erkennen, Eiderenten, Krabbenkutter in Aktion. Die anwesenden Kinder hüpfen vor Begeisterung; wer nicht an Deck gehen kann, drückt sich an der Fensterscheibe im Salon das Näschen platt.

Auch ich schalte beim Anlegen konsequent in den Touri-Modus und kaufe mir gleich am Hafen einen Ortsplan. Anstatt einer Inselbahn empfängt hier eine Infotafel und eine Imbissbude die Gäste; der Weg in den Ort ist fast selbsterklärend und offenbart auf den ersten Blick, warum sich Spiekeroog als „die grüne Insel“ bewirbt. Der Blick kann, einmal von der Leine gelassen, hemmungslos in die Weite schweifen und Deiche, Schlickflächen, Salzwiesen erfassen, mit allem, was darauf kreucht und fleucht. Sogar Deichschafe gibt es hier: Ein Stück Ostfriesland-Bilderbuchidylle, nach dem auf Langeoog immer wieder vergeblich gesucht wird. Plötzlich erinnere ich mich, wie ich mit meinen Eltern vor vielen Jahren einmal auf einer Bank auf dem Spiekerooger Deich saß; die Schafe rückten uns damals ziemlich auf die Pelle und ich kraulte ihre störrische Wolle.
Auch der Ortseingang kommt mir noch vage bekannt vor. Zur Rechten gibt es einen kleinen öffentlichen Rosengarten, durch den Schmetterlinge tanzen. Ein Schild mahnt zur Ruhe. Ich fühle mich dort augenblicklich wohl und setze mich eine Weile hinein: Ankommen, entschleunigen. Nach kaum etwas ist die Sehnsucht im Saisongeschäft größer als nach dieser Art von Stille und Langsamkeit.
Natürlich ist auch auf Spiekeroog im Juli Hauptsaison, Cafés und Geschäfte sind voll und die meisten Ferienhäuser und -wohnungen sehen bewohnt aus; Angestellte in Dienstkleidung sausen auf Fahrrädern geschäftig durch die Straßen. 
Da die Spiekerooger aber fast die Einzigen sind, die hier Radfahren dürfen, wirkt die Insel trotzdem wesentlich ruhiger als das zur gleichen Zeit sehr wuselige Langeoog. Auch die Kakophonie aus übermütigem Dauer-Fahrradklingeln und über Radkolonnen längs und quer gebrüllten Unterhaltungen, die ich sommers täglich vor Büro- und Schlafzimmerfenster ertragen muss, bleibt aus diesem Grunde aus.

Kurz vor der heimeligen Teestube, die in fast allen Tourismusprospekten abgebildet ist, werde ich erneut von wunderschönen Rosen angezogen: Ein prachtvoller Bogen voller kleiner, rosafarbener Hundsröschen überspannt den Eingang zu einer Wohnanlage im friesischen Baustil. Ich fühle mich wie in einem Bilderbuch. Dass in den angrenzenden Wohnstraßen einige Domizile nach Orten aus Astrid Lindgrens Erzählungen benannt sind, überrascht mich wenig. Es ist tatsächlich ein kleines Bullerbü. Natürlich sieht man auch auf Spiekeroog einige Gebäude mit Sanierungsbedarf, etwas überambitionierte Luxus-Neubauten oder architektonisch nicht allzu Gelungenes. Aber was sofort positiv auffällt, ist doch die Zahl der „typisch“ wirkenden Friesenhäuschen in Rot, Grün und Weiß; mit Holzbänken davor, üppigen Hortensien und farbenfrohen Stockrosen. Angesichts dieser märchenhaft schönen Häuschen können auch der sachlichsten Seele nur noch Attribute wie „süß“, „niedlich“ und „verträumt“ einfallen. Und statt „Urlaub“ erscheint einem das herrlich altertümelnde Wort „Sommerfrische“ gleich viel passender für einen Aufenthalt auf dieser Insel.

Erneut empfinde ich große Dankbarkeit für diesen Inselausflug und für die Kostbarkeit all der Stunden, die ich mich hier noch treiben lassen darf. Daher ist für mich klar, dass das erste anzusteuernde Ziel die katholische Kirche sein wird. St.Peter liegt, wie auch die Langeooger St.Nikolaus-Kirche, auf einer Anhöhe am Rand des Wohngebietes. Sie sieht aus wie eine umgestürzte Zuckertüte aus braunem Packpapier und ich bin gespannt, was mich im Inneren erwartet: Vorab recherchieren wollte ich es bewusst nicht. Um die Zuckertüte drapieren sich einige Gebäude mit Flachdach im gleichen Braunton, eine Frau saugt Staub, durch die geöffnete Tür sieht man Kinderjacken an Haken hängen, die Fenster lenken den Blick in die Weite.
Ein Kurpriester ist auch vor Ort, im Schaukasten hängt die handgeschriebene Ankündigung einer Veranstaltung mit ihm. Auch hier scheinen die Uhren im besten Sinne langsamer zugehen, denn irgendetwas an diesem handschriftlichen Plakat rührt mich angesichts all der Computerausdrucke daneben.
Die Kirche, benannt nach dem heiligen Petrus, hat mit dem gleichnamigen Dom in Rom nicht wirklich viel gemeinsam, und ich müsste lügen, würde ich sie als „schön“ bezeichnen. Aber im Inneren herrscht eine wunderbar warme und friedvolle Atmosphäre. Die Kirche ist innen ganz mit Holz verkleidet, das hörbar arbeitet. Es gibt keine Bänke, nur Klappstühle, auf denen jeweils ein handgestricktes Kissen liegt. Auch das rührt mich an, denn sofort habe ich das Bild einer handvoll katholischer Spiekerooger Seniorinnen vor Augen, die in einsamen Wintern diese Kissen für ihre Kirche stricken. Und die Aussicht aus den großen Panoramafenstern ist fantastisch. Ich danke dem HERRN für diesen Tag, entzünde Kerzen und kaufe einige Dinge am Schriftenstand; als Mitglied einer Diasporagemeinde fühlt man mit den Brüdern und Schwestern noch kleinerer Gemeinden umgehend solidarisch, daher ist allein deswegen eine Finanzhilfe Pflicht.

Danach mache ich mich auf zum Hauptstrand, den ich trotz mehrfacher Besuche noch nie gesehen habe. Denn tatsächlich liegt — im Inselvergleich — auf Spiekeroog der Ortskern am weitesten entfernt vom Strand, wiewohl die dahin führenden Wege wunderschön und von artenreicher Flora umgeben sind. Auch einen kleinen Pavillon für wettergeschützte Pausen gibt es. Dennoch muss ich zwangsläufig an meine Eltern denken, die nicht mehr weit laufen können, sowie an gestresste Angestellte, die ihre kurze Mittagspause hier wohl leider nicht, wie auf Langeoog möglich, mal eben am Strand verbringen können. Der Strand, den ich nach einer Weile Marsch erreiche, ist weitläufig, gepflegt und mit ordentlichen Reihen weißer Strandkörbe versehen, was mich wohltuend an viele schöne Ostseeurlaube erinnert. Zwar haben auch die bunten Langeooger Körbe ihren Reiz, aber ich bevorzuge doch die klassische Seebad-Eleganz, die ich in solchen einheitlich weißen Strandmöbeln eher finde. Hinunter ans Meer gehe ich aber nicht, denn tatsächlich rast die Zeit schon jetzt und ich habe noch kaum etwas von Spiekeroog gesehen. Es wird Zeit für eine erste Pause. In einem Strandcafé male ich, ganz Tourist, bei kalter Waldmeisterlimonade Kringel und Herzchen um alle Orte und Sehenswürdigkeiten auf dem Plan, die ich unbedingt noch besuchen möchte.

Die Museumspferdebahn soll es als nächstes sein: Ein echtes Spiekerooger Wahrzeichen und Tradition seit den Anfängen des Bädertourismus, als (unter anderem) feine Herrschaften von ihren Unterkünften an die Strände gekarrt werden wollten. Sie ist die einzige Pferdebahn Deutschlands mit täglichem Fahrplan und existiert seit über 130 Jahren, wenn auch seit 1981 nur noch im Museumsbetrieb.
Die „Lok“ ist an diesem Tage ein irischer Tinker mit der für diese Pferderasse typischen stoischen Gelassenheit und Stärke. Er wechselt sich mit einem zweiten Tier bei der Arbeit ab. Der Bahnchef heißt Christian und ist seinen Pferden im Naturell nicht unähnlich: Von wohltuend unkapriziöser Freundlichkeit und eine entspannte Ruhe ausstrahlend — trotz des hektischen Gewimmels.
Denn natürlich hatte nicht nur ich diese Idee mit der Bahnfahrt. Der winzige Bahnsteig ist proppenvoll, eine Gruppe Gäste ist offenbar reichlich ängstlich und löchert den Kutscher ohne Unterlass: „Wie lange fahren wir?“, „Was machen wir, wenn wir nicht rechtzeitig zurück sind?“ „Gibt es da draußen denn überhaupt was zu sehen?“ „Was ist, wenn wir uns verlaufen?“ Und, ich traue meinen Ohren kaum: „Was machen wir denn, wenn es regnet? Meine App sagt …“
Die Fahrtdauer beträgt kaum 45 Minuten für Hin- und Rückweg mit Aufenthalt. Es sind keine zwei Kilometer Strecke zwischen Bahnhof und Westend, der Pferdewagen ist überdacht und vor allem befinden wir uns, es mag bei diesen Gästen noch nicht angekommen sein, in Deutschland auf einer Insel im Wattenmeer unter freiem Himmel. Nicht im Tropical Islands. Man nennt es auch: Natur. Da gibt es Wetter.
Ich richte den Blick nach oben: Der Himmel ist immer noch makellos blau und die Sonne lässt das Tinkerfell schimmern. Mein Blutdruck steigt, aber Pferdebahner Christian nimmt sogar diese Gäste gelassen hin: „Es regnet nicht“, sagt er. Der hörbar ans Satzende gesetzte Punkt verleiht dabei die nötige Autorität und macht jeden weiteren Wortbarock überflüssig. Der Mann beeindruckt mich.
Seit 5 Jahren betreibt er die Bahn, wie zuvor schon sein Vater. Folgerichtig könnte er unterwegs jeden Stein erklären, was er aber nicht tut, denn er erzählt nur das Wichtigste und lässt genug Freiraum, um einfach nur die traumhafte Landschaft zu genießen, erklärt aber gerne auf Nachfrage Weiteres. Dabei hat er Pferd und touristische Rasselbande souverän im Griff. Am Zielbahnhof „Westend“ verplappere ich mich mit — wie sollte es anders sein — zufällig mitgereisten Langeoogern und bekomme daher nur den kleinen, aber sehr urigen Strandkiosk zu sehen. Danach geht es wieder zurück. Geregnet hat es natürlich nicht.

Der Ausflug nähert sich in rasantem Tempo seinem Ende und ich frage mich, wie es möglich ist, dass Tage, an denen man eigentlich gar nichts muss, immer viel schneller vergehen als solche, die mit Pflichten übervoll sind. Aber nun gilt es, die verbliebene Zeit noch bestmöglich zu genießen. Ich flaniere mit Genuss nochmals durch den idylischen Dorfkern, besuche eine ehemalige Langeooger Kollegin, die nun auf Spiekeroog arbeitet, schreibe Postkarten an Freunde und freue mich über eine geöffnete alte evangelische Inselkirche, die ich bisher immer nur verschlossen vorgefunden hatte. Das Kirchlein ist ein begehrtes Fotomotiv und stammt aus dem Jahr 1696. Sie ist die älteste aller ostfriesischen Inselkirchen und von einem sehr sehenswerten Friedhof mit alten Grabsteinen umgeben, die teils wunderschöne Schiffsmotive zeigen.
Ich wundere mich, im Inneren eine Pietà vorzufinden — sie stammt angeblich von einem 1588 vor Spiekeroog gestrandeten Schiff der Armada. Die farbenprächtigen Fenster mit ihren Blumen- und Schiffsmotiven begeistern mich; auf die winzige Empore kann man nur gebückt über eine steile Stiege gelangen, auch das ist für mich eine neue Erfahrung. Meinen evangelischen Eltern kaufe ich einen informativ gestalteten Kirchenführer, denn so viel interfamiliäre Ökumene muss sein.

Der Abschied naht. Als Letztes sehe ich mir das Spiekerooger Kurviertel an und besorge noch einige Tourismusprospekte sowie ein Gastgeberverzeichnis. Denn eines hat mir dieser Ausflug wieder überdeutlich gezeigt: Man muss nicht weit weg für ein Urlaubsgefühl. Zum Abstand gewinnen reichen manchmal ein paar Kilometer Luftlinie, und vielleicht, denke ich, während ich mit leichter Wehmut nochmals den Blick über all die hübschen Häuschen im Dorfkern schweifen lasse, miete ich mich tatsächlich mal länger in einem davon ein — Dass ich quasi nebenan wohne, muss dann ja niemand wissen.
Die Stockrosen vor dem nostalgischen Schild des Inselmuseums nicken mit ihren Köpfchen im Wind wie in stiller Zustimmung.

Momentaufnahme, Teetied

Es hat zu regnen begonnen. Aber die Tropfen, welche vereinzelt aus einem nur dünn bewölkten Himmel fallen, vermögen gegen die Sommerhitze der vergangenen Tage nichts auszurichten; sie versickern in staubiger Erde, ohne Spuren zu hinterlassen.
Die Insel hätte Regen nötig. Das farbenprächtige Grün der Dünenvegetation vergilbt, die Dünenrosen welken, und auf meinem Balkon sieht es aus wie auf dem Kirchplatz nach einer Hochzeit: Abgefallene Blütenblätter überall, obwohl ich täglich fege und gieße.
Nun aber verdunstet der meiste Regen bereits in der Luft; es herrscht ein Klima wie im Tropenhaus eines meiner so geliebten Botanischen Gärten.

Im Strandkorb, in dem mich der warme Dunst schläfrig wegdämmern lässt, ziehen Gedanken vorbei wie die Wolkenfedern, zwischen denen längst wieder so viel Blau strahlt, als hätte St. Petrus nicht einmal einen Gedanken an Regen verloren. Ich wandere durch das Land in meinem Inneren, und auch hier vermag kein Regen die gespeicherte Wärme erkalten lassen, welche die letzten Wochen brachten. Und mag der Sturm auch die Blütenblätter davon wehen, so schafft er ja doch nur Platz für die Früchte, wie sie jetzt schon die Dünenrosen zeigen, für die Johannisbeeren auf meinem Balkon, für das farbenprächtige Laub milder Herbstage. Auf dem Dünenfriedhof ragt das Kreuz in sonnenbeschienene Tannengipfel.

Ich denke an die Stürme der vergangenen Jahre, die Kämpfe, die Kälte. Ich denke an den Schmerz und den Kummer, und wie oft die Liebe, oder das, was ich dafür hielt, ursächlich dafür war. Es war Zeit, das Vergangene loszulassen und die Strohfeuer zu ersticken. Denn nun, denke ich, fand ich vielleicht endlich den wahren Schatz unter all dem Tand und Plunder.
Merkwürdig ist nur, denke ich weiter, dass ich, um den Wert der Liebe zu erkennen, erst einmal eine Zeit lang gar niemanden zu lieben lernen musste, zumindest nicht in irgendeiner romantisch-erotisch konnotierten Form.
Und so wanderte ich, befreit von allem destruktiven Begehren, in den letzten Wochen über mein Langeoog und fand, klaren Geistes, … die Liebe.

Sollte sich jetzt das ein oder andere Ohr aufrichten, gespannt auf einen Namen oder zumindest eine präzise Personenbeschreibung lauschend, so muss ich jedoch passen: So einfach ist das nicht.
Und dennoch: Die Düsternis und Depression der letzten Monate ist vorbei, die mich lebenslang quälenden Schlafstörungen, die Ängste, das Wachliegen — aufgelöst in tiefen, erholsamen Schlaf und einen Grund zum Lächeln am Morgen.
Ich finde plötzlich Zeit zum Pflegen von Freundschaften, die ich so lange vernachlässigte, und all die Zuneigung, die ich bislang immer verzweifelt auf eine Person konzentriert hatte, sprudelt plötzlich so reichlich, dass ich endlich all jene damit bedenken kann, die so treu und nahezu unbemerkt all die Jahre um mich herumprusselten — und die es im Grunde doch viel mehr verdient haben, geliebt zu werden. Menschen, deren selbstlose und unaufdringliche Zuneigung ich nun endlich auch anzunehmen in der Lage bin.
Ich bin so alt, denke ich. Warum also erst jetzt? Wurde ich wirklich erst so spät erwachsen? Sollte ich mich schämen dafür, oder einfach nur dankbar sein, dass es so ist, dankbar für die Chance, zu erkennen, wem ich wirklich wichtig bin?

Abends liege ich, angenehm müde vom Tage, in meinen blütenweißen Kissen. Ich berge das Gesicht in dem weichen Bettzeug, dem ein Duft aus Inselsommer, selbstgezogenem Lavendel und Weihrauch anhaftet. Letzterer, Marke „Lourdes Gold“, den ich mir allabendlich zu verräuchern angewöhnte, beruhigt und weckt zugleich Erinnerungen an Sommerferien in Bayern mit den Eltern, an winzige Kirchlein, in denen es nach eben jenem Weihrauch duftete, nach Kerzen und Hoffnung. Und man konnte die sommererhitzte Stirn an das kühle, weiße Gemäuer lehnen, das schon so viele Jahrhunderte in sich trug und noch immer von den Gläubigen dort gehegt und gepflegt wurde. Ich liebte als Kind all den Barock, die kunstvollen Deckengemälde, die Säulen, Seitenaltäre, die Blumen und Heiligen. Als Protestant kannte man das ja nicht: So viel Sinnlichkeit in einem Gotteshaus. Bei uns gab es ein nacktes Kreuz, das Taufbecken, unverputzte Backsteine und mit Glück ein Fenster, durch das etwas verwaschenes Licht auf den nicht minder verwaschenen Talar des Predigenden fiel, der meistens langweiliges Zeugs erzählte, und dann hatte man nicht einmal schöne Bilder zum Angucken drumherum. Ich erinnere, wie mich eine katholische Schulfreundin, die Messdienerin war, einmal in ihre Kirche mitnahm, in das Räumchen, in dem all die Gewänder hingen. Ich beneidete sie um ihr hübsches Messdienerkittelchen und den feierlichen Ernst, mit dem sie es zur Messe trug, das blondgelockte Mädchen, 8 oder 9 Jahre alt. Auch das Gewand des Priesters hing da, und ich strich, in einem Anflug zärtlicher Bewunderung, mit der Hand über den golddurchwirkten Stoff und die seidige Stola. Ich erinnere einen Anschiss des Küsters, weil wir da außer der Reihe nichts drin verloren hatten, und so sahen wir zügig zu, dass wir Land gewannen — aber schön war es doch. Und nun atme ich diesen Resthauch „Lourdes Gold“ aus meiner Bettwäsche, während mir all das wieder einfällt.

„Jetzt riecht mein Sündenpfuhl hier nach Kirche!“ berichtete ich lachend einer Freundin, als ich das Päckchen mit dem Weihrauch — Geschenk eines Freundes — auswickelte, und tatsächlich ist es wohl so zurzeit: Es ist als, hätte mir die Phase des Nicht-Verliebtseins wieder ein Stück Unschuld zurückgegeben und Platz geschaffen für Neues, das, wie die weißen Kirchenmauern, zwar viel Vergangenheit in sich trägt, aber dennoch ein Gefühl reiner und erhabener Heiligkeit mit sich bringt, die Erfrischung von Geist und Seele, den Balsam von Neuanfang und Versöhnung: Auch mit sich selbst.

Natürlich: Irgendwen hat man immer etwas lieber (oder auf andere Weise lieb) als andere. Bei irgendwem schlägt immer der ein oder andere Schmetterling mit dem Flügel, und man bangt, ob er wohl wieder Ruhe gibt oder ob man es sich demnächst erneut antun muss: Das Bangen, das Hoffen, das Leiden; die Detailverliebtheit beim Betrachten des geliebten Gesichts, die mit so viel Blindheit auf anderen Gebieten einhergeht. Dazu die Frage: Zulassen oder verdrängen? „Tell him that the sun and moon rises in his eyes“, singen Céline Dion und Barbra Streisand, „Worte zerstören, wo sie nicht hingehören“, setzt Daliah Lavi dagegen.
Die Morgensonne fließt mit warmem Kupferschimmer über die Dächer und beleuchtet meine Margeriten, den Lavendel und die Geranien: Zeit fürs Tagwerk.

Das Hufgetrappel der Kutschpferde lässt mich kurz aufsehen, als ich später am Schreibtisch sitze und arbeite. Der Himmel ist jetzt wieder grau; buntgekleidete Touristen schauen nach oben, ängstlich, ob der Urlaub wohl ins Wasser fällt, während erste Regenschlieren von der Plane des Kutschwagens rinnen. Auch ich beschließe, kurz vor die Tür zu gehen. Im Café ist es voll, dennoch herscht kein hektisches Gewusel; die Gepräche hängen im Raum wie der Sommerdunst über den Dünen: Diffus, wabernd, wahrnehmbar, aber nicht störend. Ein hübscher Kellner, ausgestattet mit einer natürlichen, aber souveränen Sanftheit, die sich nicht lernen lässt, bringt den Ostfriesentee.

Mit der Silberzange nehme ich die dicken, weißen Kluntjes aus der Schale und lausche dem Knistern, als sie im heißen Tee zerspringen. Dann gleitet ein Tropfen Sahne von dem winzigen Silberlöffel in die Tasse, versinkt und steigt kurz darauf wieder als weißes Wölkchen empor und erblüht in zarten Verästelungen auf dem Teespiegel. Man darf das nicht umrühren. Man braucht Geduld. Manche Dinge, denke ich, sind in sich perfekt, auch wenn man das oft nicht sofort überblicken kann. Aber die Geduld lohnt sich, das langsame Herantasten. Rührte man den Tee, so hätte man zwar einen guten Geschmack, aber man erführe nie das volle Spektrum, kostete nie von all den Nuancen, die Tee, Sahne und Kluntjes in sich bergen.
Ungefähr an diesem Punkt, denke ich, bin ich nun mit der Liebe: Das frisch eingelassene Wunder vor mir, das Wulkje erblüht. Alles ist möglich. Dann, der erste Schluck: Von eleganter Leichtigkeit und doch mit einer Ahnung von Bitterkeit, die man eher erinnert als schmeckt, und in die sich mit jedem weiteren Schluck mildernde Süße mischt. Noch weiß man: Das Bittere ist ebenfalls da, aber, ach, wie schön ist es doch, all das zu vergessen, sich seiner süßen Schwere hinzugeben, seine Wärme in sich aufzunehmen, und mehr will man, so viel mehr … bis plötzlich der Tee, in dessen tiefbrauner Farbe man noch eben von seidigen Wimpern umkränzte Augen wähnte, mit dem letzten Schluck zur Neige geht und den Tassenboden freigibt: Dünnes, weißes Porzellan, zerbrechlich und schnell erkaltend.
Ich lasse mir mit dem Trinken Zeit.

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