Gewöhnung

Nun also: Weihnachten. „Noch in keinem Jahr habe ich mich so wenig weihnachtlich gefühlt wie in diesem“, klage ich einem Freund, und er stimmt mir zu. „Das geht mir genauso“, sagt er, „es ist der 22. Dezember und ich habe noch nichts geschmückt, noch kein einziges Weihnachtslied gehört und bin einfach so gar nicht in Stimmung.“ Lange rätseln wir, woran das liegen könnte. Ist es wieder einmal das Phänomen, dass dieses zweite Pandemie-Jahr nur so dahinzurasen scheint, obwohl zugleich doch so viel Stillstand herrscht? Ist es diese Unplanbarkeit der Dinge, die jede Vorfreude lähmt, weil man nicht weiß, welche der unzähligen Regeln in diesem Kleckerkram deutscher Pandemiebewältigung am Tag X gerade gelten werden? Auch den Freund sähe ich gerne wieder, aber er lebt in Schweden, und wer weiß, ob ich zum fraglichen Zeitpunkt aus meinem Land gelassen werden oder in seins hinein. Oder umgekehrt? „Quarantäne kann ich mir nicht leisten“, sagt die Freundin, und ich mir auch nicht — schon gar nicht im teuren Schweden, dem sein Sonderweg letztlich auch herzlich wenig gebracht hat.
Und so trauen wir uns nicht einmal, die Flüge zu buchen: Zum Freund fliegt zunächst wohl nur unser Traum von unbeschwerter Zeit, warmen Zimtschnecken und winterlichem Stockholm-Zauber.

Nun also: Weihnachten. An Corona hat man sich mittlerweile gewöhnt; in den Jackentaschen stecken FFP2-Masken und Impfnachweis inzwischen so selbstverständlich wie Taschentücher, Portemonnaie und Schlüsselbund. Meine eigenen Impfungen und die meiner Liebsten haben mir einige Ängste vor der Krankheit genommen, und dennoch schwingt eine unterschwellige Ablehnung dem gegenüber mit: Gewöhnen ist grundsätzlich gut, aber will ich das in diesem Fall überhaupt? Will ich, dass die Pandemie sich einfach so in meinem Leben einnistet wie eine weitere lästige Pflichtübung, gleich neben Abwasch, Müllraustragen und Steuererklärung? Ich glaube nicht. Und so bleiben wohl nur die kleinen Alltagsfluchten in vorpandemische Zeiten, in Traditionen und Kindheitserrinerungen. Wie eben: Weihnachten.

Bei der Freundin duftet es nach Vanille; ein Klumpen Keksteig wartet auf unserer Hände Arbeit, um sich nach und nach in duftende Bleche voller Gebäck zu verwandeln, an denen wir uns wenig später hemmungslos überfressen haben werden. Ebenso wie an Ente, Klößen und Rotkohl. Wir machen uns schick für eine halbleere Kirche und füreinander, die Eltern sind geografisch fern, aber im Herzen zugegen. Es ist ein Klammern an diese heimeligen Momente der Idylle in dieser durchorganisierten und -technisierten neuen Corona-Welt. Apps und Bürokratiedeutsch, Testzentrumsöffnungszeiten, Statistiken, Erlasse.
Die neuen Ohrringe der Freundin glitzern im Kerzenlicht, ich streiche bewundernd über das samtige Veloursarmband der Uhr, die sie mir schenkte. Tags darauf sieht die Küche aus, als sei ein Rudel Wölfe dort eingefallen; Entengerippe, Fettpfannen, zerfetztes Papier, dazwischen der Hund, der bei uns Weihnachtsasyl fand. Wir braten die Klöße des Vortags; auch das gehört dazu, zu einem Weihnachten wie ich es von früher kenne, also gefühlt von vor hundert Jahren. Das ursprünglich als romantisch geplante, traditionelle gemeinsame Filmgucken spoilert ein furzender Hund, es stinkt zum Gotterbarmen. Aber auch diese kleinen Malheurs gehören zu Weihnachten, zu einem Weihnachten, als es das große Malheur drumherum noch nicht gab.

Zwischendurch gibt es noch Arbeit, denn der berühmte Spruch „Arbeiten, wo andere Urlaub machen“ bedeutet eben auch, dass man dann arbeitet, wenn andere Urlaub machen. Immerhin, zumindest das Wetter wird wohl im Gedächtnis bleiben von diesem Christfest 2021, denn die Sonne strahlt mit Kerzen und Kinderaugen um die Wette; es könnte kaum schöner sein. Dankbar nehmen wir auch davon mit, was geht, und dann — ist Weihnachten schon wieder vorbei.
Vorbeigerast, als habe man nur eben ein Fotoalbum durchgeblättert; in der Keksdose liegen noch ein paar Krümel, das Jahr hat noch vier Tage.

Ich kann kaum glauben, dass es tatsächlich schon das dritte Pandemie-Jahr ist, in das wir gehen. Wie jedes Jahr, kann ich nur beten, dass mir 2022 keine lieben Menschen genommen werden, das ich im Idealfall selbst nicht sterbe und auch sonst nichts Existenzbedrohendes über uns hineinbricht. Ansonsten bleibt uns nur das Aus- und Durchhalten, wie in den Vorjahren auch. Und ein bisschen erschreckt mich, wie sehr ich mich auch schon daran gewöhnt habe.

Langeooger Weihnachtswetter

Da ich zurzeit vor Arbeit leider kaum zum Prosaschreiben oder Malen komme, hier als „Weihnachstpräsent“ einfach mal ein paar Bilder vom wunderbaren Weihnachtswetter auf Langeoog. Es war frostig und schneefrei, aber wunderbar sonnig. Freude machten auch die entzückenden Sanderlinge und viele, kaum noch scheue Rotkehlchen.

November

Inzwischen ist es November geworden. Nachts radele ich durch tiefste Dunkelheit und feuchtkalte Nebelschwaden, die der Lichtkegel meiner Fahrradlampe schemenhaft erkennen lässt. Der Nebel hüllt mich ein, nimmt von mir Besitz mit seiner klammen Eisigkeit, und drumherum ist nichts und niemand; irgendwo in der Ferne verrichtet eine einsame Straßenlaterne ihren nahezu nutzlosen Dienst und vermag die schweröldicke Novemberschwärze kaum zu durchdringen. Ich will nur noch nach Hause. Es sind keine 700 Meter zwischen dem einen Zuhause und dem anderen — aber je nach Jahreszeit und Wetter können einem auch diese endlos erscheinen. „Wir bräuchten einen beheizten und beleuchteten Tunnel zwischen unseren Wohnhäusern“, scherzte ich einst mit der Freundin, und in Nächten wie diesen wäre das wirklich eine gelungene Investition.

Es ist eigenartig mit diesem November. Kann man den Insel-Oktober mit seinen Zugvogelscharen, den vielen goldenen und warmen Tagen und der Gästeflut während der Herbstferien noch gefühlt unter „Spätsommer“ verbuchen, so geht das im November plötzlich nicht mehr. November ist Winter, auch auf Langeoog.
Zwar sind auch jetzt noch die Temperaturen an vielen Tagen zweistellig und es gab erst einen größeren Sturm — dennoch sind die Bäume inzwischen zu nackt, die Vögel zu wenige und die Tage zu kurz, um noch irgendeine Sommer- oder Herbstassoziation zu finden. Nein, der November, man muss es sich eingestehen, der November ist Winter.

„Es ist ein schwieriger Monat“, predigen auch die Geistlichen aller Konfessionen dieser Tage, mit all diesen traurigen Tagen, Allerseelen, Totensonntag, dazu diese Dunkelheit. Die stillen Feiertage finde ich wiederum nicht allzu schwierig, denn es ist gut, dass auch das Trauern und die Schwermut einen Platz im Kirchenjahr bekommen: Schließlich ist auch das Leben keineswegs frei davon. Ich finde nicht einmal Allerseelen einen traurigen Tag, denn die beleuchteten Friedhöfe sehen schön aus und zur Gräbersegnung wird auch auf jene Gräber Weihwasser gesprengt, an denen schon lange kein Angehöriger mehr saß. So ist niemand vergessen.

Vergessen habe ich dagegen fast einen Großteil des Jahres und frage mich: Wie konnte ein Jahr, an dem Pandemiebedingt immer noch nicht so viel wie früher passieren konnte, so dergestalt dahinrasen? Wo war der Sommer, die Muße, wo waren die freien, warmen Balkonabende? Auch mein Urlaub im September liegt gefühlt schon Lichtjahre zurück, und der Winter wird gewohnt arbeitsreich: Es gilt, die paar ruhigeren Novembertage für größere Projektvorbereitungen zu nutzen, bevor zum Advent und Jahreswechsel hin die nächste Hauptsaison auf Langeoog lostobt. Andere Langeooger:innen nutzen die Zeit, um selbst in den Urlaub zu fahren. Im Grunde ist der November für die Menschen auf der Insel also ein durchaus ereignisreicher Monat — trotzdem habe ich jedes Jahr das Gefühl, als hielte dieser Monat das Kreisen und Kreiseln der Welt für einen Moment an.

Über dem Meer klart der Himmel jetzt auf. Streifen von Blau weben sich in die bisher dichte, schmutziggraue Wolkendecke. Es ist einem nicht mehr viel Tageslicht geschenkt um dieser Zeit, also werfe ich nur das Nötigste über und radele zum Strand.
Durch die Wolkenlöcher lugt roséfarbener Himmel, der bald in leuchtendes Orange übergeht, und so doch noch mächtig Farbe in diesen — für mich — bisher farblosen Tag bringt. Über dem Festland weisen dunkle Fallstreifen auf ein Unwetter hin; auch das sieht sehr eindrucksvoll aus, wiewohl ich die Menschen auf dem Kontinent nicht um den Regenguss beneide. Hinter den Silhouetten der Strandpaziergänger:innen zeichnet sich die Dünenkette der Nachbarinsel Baltrum ab.
Getröstet stelle ich fest, dass doch noch nicht alle Vögel fort sind, denn eine Formation Gänse zieht mit lautem Rufen Richtung Westen. Auf der Sandbank ruhen sich Möwen aus.
Später zeigt mir ein Freund noch wundervolle Fotos vom Morgennebel im Sonnenaufgang, den ich, meiner Eulen-Natur geschuldet, allerdings verschlafen hatte. Dieser erhabene, mystische und majestätische Anblick der vom Nebel durchwobenen, sonnenvergoldeten Insellandschaft lässt mich den unheimlichen, ungemütlichen Nachtnebel sofort vergessen. Und so verabschiedet sich der Novembertag doch noch mit reichlich Versöhnlichem: Mit Farbe und Schönheit.

Winterliebe

Es ist ein traumhaft schöner Wintertag. Nach einem eher unsanften Auftakt mit heftigem Schneefall, steingrauem Himmel und rabiaten Windböen, zeigt sich die verschneite Insel nun in voller Pracht. Der Schneefall ist zum Erliegen gekommen; das Grau am Himmel ist einem satten, leuchtenden Blau gewichen, durch das nur noch vereinzelt Wolken treiben. Die Müdigkeit der vielen dunklen Tage sitzt mir noch in den Knochen, und ohne berufliche Verpflichtungen hätte ich mich an diesem Tage wohl kaum weit vor die Tür begeben. Doch nun mache ich mich auf zum Hafen, ein Auftrag wartet. Ich hefte die Augen fest auf die Straße, um nicht hinzufallen, und halte immer wieder an, um mir den Winterzauber rechts und links des Weges anzusehen. Nur gedämpft hört man das Schnattern der Graugänse auf den Weiden; sie haben sich in die Nähe schützender Sträucher und Gebäude zurückgezogen.
Ein großer Greifvogel gleitet über mich hinweg; ich kann noch sein dunkelbraunes Gefieder erkennen; vermutlich ein Mäusebussard. Der Greif lässt sich auf einem hohen Baum nieder und späht von diesem Ansitz aus nach Beute.
Je mehr ich mich Hafen und Seedeich nähere, umso mehr Stimmen dringen an mein Ohr: Stimmen, bei denen sich mein Herz öffnet. Ich höre das Trillern von Austernfischern, die wehmütigen Laute Großer Brachvögel, das Piepsen der niedlichen Sanderlinge, dazu Entengeschnatter und natürlich: Möwen. Aus den Bäumen melden sich Rotkehlchen und Meisen; eine Drossel labt sich an letzten Hagebutten.
Die nackten Zweige der Bäume erheben sich majestätisch in den Himmel, der sich am späten Nachmittag schon in Rosé und Apricot färbt. Aber die Sonne hat noch Kraft; ich öffne meine Jacke und lasse mich von Licht und Vogellauten beschenken.
Liebe erfüllt mich: Zu dieser wunderbaren Natur, zu diesem Tag, zu diesem Leben. Und auch in die Insel verliebe ich mich wieder neu, als wäre es nicht schon mein achtes Jahr hier. Beinahe fühle ich wieder die Anfangseuphorie von 2014, als ich in jeder freie Minute in die Natur radelte und dabei jede Farbe, jede Pflanze, jedes Tier mit einer Innigkeit ins Herz schloss, als würden sie mir tags darauf wieder fortgenommen. Nun war bis zu meiner Insel-Ankunft mein Leben auch nicht durch Beständigkeit ausgezeichnet, und so war diese Verlustangst und dieses Gefühl von „Mitnehmen, was geht, solange es nur geht“ vermutlich nur natürlich. Auch heute möchte ich die Insel freilich nicht hergeben, aber es sind mir doch einige Ängste genommen: Die Wohnung ist fest und auch beruflich fühle ich mich endlich angekommen und angenommen. Die Kirche gibt meiner Seele Halt. Es ist ein gutes Leben.

Ich stelle mein Fahrrad in der Nähe des Zugangs zur Deichkrone ab. Das Schloss benutze ich nicht, denn außer mir, Hunderten von Vögeln und ein paar anderen Tieren ist hier niemand. Ich setze meine Fußspur in die eines Feldhasen, der scheinbar ordnungsgemäß den schmalen Weg auf dem Deich entlanggehoppelt ist, ohne auch nur den kleinsten Haken zu schlagen. Doch lange kann ich seine Spur ohnehin nicht verfolgen, weil ich den Blick nicht mehr senken kann: Vor mir breitet sich das Paradies. Zuletzt sah ich Deich, Watt und Salzwiese irgendwann im Herbst aus dieser Richtung. Im Schnee war ich tatsächlich noch nicht hier. Und nun liegt dieser atemberaubend schöne Teil Langeoogs in so traumhaften Farben vor mir, dass ich mich automatisch in die Tundra oder ins sommerliche Spitzbergen versetzt fühle. Tatsächlich erstreckt sich das Weiß des Schnees nicht über die gesamte Landschaft. Ein bisschen grünes Deichgras ist zu sehen, dazwischen die warmen Gelb- und Rottöne der Salzwiese; das tiefe Blau des Meeres und das Graubraun der Schlickflächen. Im Hintergrund erhebt sich die Dünenkette Richtung Ostende; mit ihrer Schneehaube sieht sie aus wie ein stattliches Gebirge. Alles, was in den letzten Tagen, Monaten, Jahren anstrengend und hässlich war auf der Insel, fällt von mir ab, und ich spüre, dass ich diese Euphorie des Frischverliebtseins lange vermisst habe. Ein Verliebtsein, das die Neugier mit sich bringt, immer mehr Facetten am Gegenüber entdecken zu wollen, von denen dann eine schöner als die andere zu Leuchten beginnt. Ich habe das 2014er-Langeooggefühl vermisst. Und nun ist es zurück, als sich die Insel mir an diesem Tage noch einmal ganz neu zeigt.

„Dein Bild in der Hand, träum’ ich vom Schnee / Und nichts tut mehr weh“, singt Ulla Meinecke in dem Lied „Hafencafé“, und ich muss unwillkürlich Lächeln, als mir diese Liedzeile einfällt. Nicht nur, weil sie mich tatsächlich an eine alte Schwärmerei erinnerte — an jemanden, in den ich mich einst während eines Winterurlaubs verguckte und der mir damit sehr über eine andere, äußerst schmerzhafte Erfahrung hinweghalf — sondern auch, weil ich wusste, dass diese Zeile mir auch künftig helfen würde.
Denn immer, wenn mir das Inselleben eine hässliche Seite enthüllen würde — zwischenmenschlichen Unrat oder sonst etwas Gärendes und Faules — würde ich ab jetzt an diesen Satz und an diesen Tag denken. An diesen Anblick. An den schneebedeckten Deich mit der Hasenspur, an die wundervollen Tundra-Farben, an die Sonnenwärme und ans glitzernd vereiste Watt. Und die Rufe der Brachvögel würden mir sagen, dass alles gut wird. Weil alles gut ist.

Momentaufnahme, Ende

Nach einem sehr warmen Dezember hat nun der Winter Einzug gehalten auf Langeoog. Das Jahr hat nur noch wenige Tage. Die Nacht umrahmt ein so prachtvoller Sternenhimmel, wie ihn nur winterliche Inseldunkelheit hervorbringt. Ich stehe am Fahrrad und kratze Eis vom Sattel; das erste Mal in diesem Jahr. Ich weiß nicht, wo die letzten Wochen, der ganze letzte Monat geblieben sind. Selbst Weihnachten passierte dergestalt nebenbei, wie es eigentlich nicht passieren sollte. Es gab unzählige Adventsfeiern und -veranstaltungen, die ich dienstlich besuchte; dazu die ein oder andere dem Tag abgerungene Werktagsmesse; an den Sonntagen konnte ich nicht. Am ersten Weihnachtstag war frei. Ich erinnere mich an einen wohligen Kokon aus Nichtsmüssen, in Ruhe gekochtem Essen und nochmaliger Lektüre unzähliger Postkarten und Briefe, die mich in den Tagen zuvor erreicht hatten; soviel Liebe zwischen den Zeilen. Und dann war auch das Fest schon wieder vorbei.

Für viele meiner Freundinnen und Freunde oder Menschen im weiteren Bekanntenkreis war es kein frohes Fest. Sehr viele Elternteile verstarben dieses Jahr oder erkrankten schwer; teils wurden auch junge Menschen aus dem Leben gerissen. Langjährig treue Haustiere mussten für immer verabschiedet werden. Es wurde sich zerstritten oder getrennt, Babys wurden verloren und Arbeitsplätze. Dann sah man diese Menschen an, um deren Schicksal man wusste, und ahnte die Tapferkeit, die sie aufbringen mussten, um reihum „fröhliche Weihnachten“ zu wünschen, weil man das eben so machte. „Gesegnete Festtage“ sagte ich, der Neutralität halber, denn damit litt es sich hoffentlich etwas weniger.
Ich wurde mir des Luxus bewusst, meine Eltern wenigstens noch am Telefon bei mir haben zu können an Weihnachten, denn etliche meiner Freundinnen und Freunde konnten das nicht mehr. Reihum sah man, wie teils Ü50jährige im Freundeskreis wieder zu Kindern wurden und über Weihnachten heimfuhren zu Eltern, sonstiger Familie, Gans und Baum. Dann schliefen sie in ihren alten Kinderzimmern, fanden Erinnerungen wieder und Fotoalben. Und dann gab es jene, in deren Elternhaus nun Planen über den Möbeln lagen und durch dessen Zimmer Fremde als potentielle Käufer schritten. Und jene, deren Elternhaus bereits abgerissen worden war. Und jene, die nie eins hatten.
Auf der anderen Seite: Die Selbstverständlichkeit, mit der allerorten „Frohe Festtage im Kreise Ihrer Familien“, „schöne Weihnachten im Beisein Eurer Lieben“ und so fort gewünscht wird, als sei ein Alleinsein an Weihnachten oder die Abwesenheit einer Familie, sei es durch traumatische Erlebnisse oder den Tod, vollkommen ausgeschlossen. Oder eines der letzten Tabus unserer Zeit. Ich fürchte, Letzteres.
Ich versuchte, über die Weihnachtstage so viele Bekannte wie möglich zu kontaktieren, von denen ich wusste, dass sie unter irgendeiner Form von Verlust und Ausgeschlossensein litten. Nicht aus Mitleid. Sondern weil ich wusste, wie es war, in dieser Gesellschaft unsichtbar zu sein.

Nun ist die Zeit angebrochen, die etwas mysteriös als „die Zeit zwischen den Jahren“ bezeichnet wird. Eine Zeit, in der man einerseits noch hektisch Dinge zuende bringen will, es sich andererseits aber auch noch nicht wirklich lohnt, etwas Neues anzufangen — denn waren dafür nicht erst die Neujahrsvorsätze gut? Es ist eine Zeit, in der viele Menschen Bilanz ziehen. Auch ich tue das.
Über mein Jahr kann ich nicht klagen. „Still a pretty good year“ höre ich im Geiste Tori Amos singen; eine Frau, die mich in meiner Jugend mit ihrer keltisch-ätherischen Schönheit, ihrem Talent, ihrer Verletzlichkeit, dem Stolz in ihrer Nacktheit und der Anmut in ihrer Wut geradezu hypnotisierte. Inzwischen hat die plastische Chirurgie ihr leider eine Menge Seele aus dem Gesicht geraubt — aber die Faszination ist geblieben.
Auf jeden Fall habe ich keinen Grund zum Hadern; alles, wovor ich Angst hatte, ging gut aus oder ist in stabile Bahnen gelenkt. Es gibt keinen Verlust zu beklagen, der rückblickend nicht unumgänglich oder gar begrüßenswert gewesen wäre. Und alles, was ich liebe, ist noch da. Mehr, denke ich, kann man von so einem Jahr eigentlich nicht verlangen.

Ich erahne bereits den Horizont. Mit der Morgendämmerung glitzern gefrorene Reifenspuren auf dem Backsteinpflaster meiner Straße. In meinen Träumen glitzert der Wienerwald im Winterkleid, rattert der Nachtzug bereits einer niederösterreichischen Morgendämmerung entgegen. 
Dem Wetterbericht nach wird es in Wirklichkeit zwar nichts mit Schnee im Wald, aber das ist mir jetzt reichlich egal, denn die nahende Reise hilft mir, das alte Jahr erwartungsfroh und ohne Sentimentalitäten hinter mir zu lassen. Der Wanderrucksack steht längst gepackt in der Zimmerecke.
Er ist, trotz mehrfachen Umpackens und Neusortierens, ziemlich schwer, aber ganz ohne Gepäck geht es halt nicht hinüber: Weder ins neue Jahr, noch in den Wienerwald.
Beim Anblick des Rucksacks muss ich wieder an die Freundinnen und Freunde denken, welche in diesem Jahr mit wirklich schwerer Last neu starten müssen. Mit der Last von Krankheit, Angst, Trauer, Armut oder Hoffnungslosigkeit. Mit Streit, Mobbing oder Verachtung. Ich hoffe, dass sie Erleichterung finden. Und dass ihnen Gott tragen hilft.

***

Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich einen guten Übergang ins Jahr 2020 — mit Freude, Gesundheit und Geborgenheit in allem Kommenden.

Bildschirmfoto 2019-12-29 um 01.52.11

November

November

In sanften Hügeln
Betten sich Träume
Zur Winterruhe

Bewacht von Vögeln
Dem Meer
Und den Sternen

Mögen sie
Wenn der Januar kommt
mit Gottes Hilfe
neu erwachen

***

MDO, 22.11.2019

 

Eisbrecher

Luft schmeckt nach Eis
Sturm zerrt an Kleidern
und Erinnerungen
Das Jahr tat weh

Das Meer ist grau
Als weinte es noch
Um Dich, um uns
um irgendetwas

doch vielleicht sind wir
ihm einfach auch egal
der See ist’s nur
ein weiterer Winter

Kein Halt im Sturm
Nur Gott, in dessen
Hand wir fallen
ist noch für uns

dort draußen.

(MDO, November 2018. Geschrieben am ersten eisigen Sturmtag auf Langeoog, in Anlehnung an meinen Firmspruch „Gott ist für mich. Ich fürchte mich nicht“, Psalm 118.6. und in Erinnerung an einen Freund.)

Momentaufnahme, Fest

Kurz erschrecke ich, als sich im Halbdunkel der Kirche das schwarz verhüllte Kruzifix abzeichnet. Es sieht aus wie eine überdimensionierte Fledermaus an der Wand, mit gewaltigem Schattenwurf bis hin zum Boden, lediglich illuminiert vom flackernden Licht der Opferkerzen. Aber es muss einen nicht ängstigen, denke ich, es ist ja nur der Herrgott drunter. Nächsten Freitag stirbt er, am Sonntag steht er wieder auf.
Jetzt ist Leidenszeit. Aber Erlösung naht.
Eigentlich sollte es jetzt hell sein in der Kirche, sie sollte belebt sein und Menschen darin singen, trotz oder gerade wegen des verhüllten Christus. ER lässt uns im Leid nicht allein. Und wir machen das auch nicht.
Es ist noch ungewohnt, dass es in meinem Leben jetzt dieses neue Wir gibt, diese Kirche, die jetzt auch meine Kirche ist.

Der Leib Christi der Erstkommunion klebte an meinem vor Aufregung trockenen Gaumen fest und ich fürchtete um mein Seelenheil, wenn ich ihn nicht schlucken könnte ― War das ein Omen oder schlichte Physik? Rettung nahte in Form von Blut.
Du kannst den Kelch ruhig austrinken“, sagte mir der Priester vorab, „das wäre mir sogar sehr Recht. Aber halt ihn bloß mit beiden Händen fest, ich werde ihn auch wirklich loslassen, nur nimm ihn mir wirklich ab, ansonsten passiert das, was niemand von uns möchte!“
Dieser Worte eingedenk (und einen zu Boden fallenden Kelch vor Augen, verschütteten Wein inklusive), trank ich das Blut des HERRN in zwei großen Schlucken, bis nur noch das rituell hineingebrockte Stück Hostie in einer winzigen Pfütze schwamm. Zu meiner Erleichterung brachte das Blut nun auch den festgeklebten Leib im Rachen zum Erweichen, glitt die Kehle hinab, und dann geschah es:
Ich war katholisch, Amen.

Minuten später stieg mir die Wärme des mit Wasser verdünnten Messweins in die Wangen, und noch später sollte mir jemand im Pfarrhaus sagen, ich hätte ja einen ganz schönen Zug drauf gehabt beim Abendmahl (das jetzt Kommunion heißt, ich muss mich noch umgewöhnen).
„Aber der Pfarrer hat gesagt, dass ich austrinken soll“, verteidigte ich mich, „und dann hab ich das gemacht.“ Ging so nicht Folgsamkeit?
Die Person, welche die Anmerkung gemacht hatte, schien damit jedenfalls besänftigt ― und ich um Haaresbreite dem Alkoholismusverdacht entronnen.
Es war ein schönes Fest, trotz allem, aber schon bald waren alle Utensilien weggeräumt: Das Fläschchen mit dem Chrisam, die heiligen Bücher, der Kelch; das purpurfarbene Gewand, die Albe, und mit dem nächsten Schiff war auch der Priester fort.

„Willkommen Zuhause“ hatte er noch gesagt, und dann stand ich allein in meiner neuen Heimat, nicht mehr fremdelnd, aber noch von welpenhafter Tapsigkeit ― geborgen und zugleich wohlwissend, dass mit einem neuen Zuhause auch die Verpflichtung einherging, dieses in Ordnung zu halten.

Heute aber ist, wie erwähnt, das Zuhause wider Erwarten dunkel und kein Leben darin. Das Schiff mit dem anderen Pfarrer schaffte es nicht rechtzeitig auf die Insel zur Messe, scharfer Ostwind trieb das Wasser aus der Deutschen Bucht; die Fähre kam nicht voran.
Die Orgel ertönt: Ich bin doch nicht allein in der Kirche. Die Organistin probt für den Sonntag, ich sah sie beim Hereinkommen nicht gleich. Ich lasse mich fallen in den schönen Klang und entzünde ein Licht, für meine Eltern und den, für den ich immer eines entzündete in letzter Zeit, auch wenn ich nicht weiß, ob er das noch will und würdigt.

„Gott ist größer, als alles, was wir uns vorstellen können“, wurde zur Firmung gepredigt, und so vertraue ich darauf, dass ER schon mit dem Lichtlein etwas anzufangen weiß; mit meinem Lichtlein und all den anderen, die im Laufe dieses Tages von Menschen mit Freude, Leid, Zweifeln, Sorgen, Dankbarkeit dort hingestellt wurden. Es ist gut, dass es dieses Ritual gibt, denke ich: Ein warmes schimmerndes Zeichen einer Gemeinschaft, die existiert, auch wenn man sich nicht einmal ― oder nicht mehr ― begegnet.

Auf dem Rückweg heult der Wind in schweren Böen durch die Straßen, wirbelt den Staub der Baustellen auf, lässt die Fahnenmasten kreischen, irgendwo schlägt ein schlecht festgezurrter Gegenstand enervierend kakophon gegen eine Brüstung. Es ist bitterkalt. Vor den Supermärkten steht erstes Strandspielzeug, drinnen warten Kübel mit Tulpen, Schütten mit Ostersüßigkeiten. Ein bisschen surreal, denke ich, und doch: Alles rüstet sich für die Saison.
Indes ist noch einmal strenger Frost hervorgesagt.

Meine auch dieses Jahr allzu voreilig erworbenen Balkonpflanzen fristen ein Kellerkinddasein im Warten auf bessere Tage. Ich gieße sie bei elektrischem Licht. Bald, sage ich, kommt ihr raus. Dann wird es wieder hell und warm. Doch bitte ― und das denke ich nur, während ich Pflanzen und Hoffnung füttere ―: Bitte sterbt mir hier unten nicht.