Nun also: Weihnachten. „Noch in keinem Jahr habe ich mich so wenig weihnachtlich gefühlt wie in diesem“, klage ich einem Freund, und er stimmt mir zu. „Das geht mir genauso“, sagt er, „es ist der 22. Dezember und ich habe noch nichts geschmückt, noch kein einziges Weihnachtslied gehört und bin einfach so gar nicht in Stimmung.“ Lange rätseln wir, woran das liegen könnte. Ist es wieder einmal das Phänomen, dass dieses zweite Pandemie-Jahr nur so dahinzurasen scheint, obwohl zugleich doch so viel Stillstand herrscht? Ist es diese Unplanbarkeit der Dinge, die jede Vorfreude lähmt, weil man nicht weiß, welche der unzähligen Regeln in diesem Kleckerkram deutscher Pandemiebewältigung am Tag X gerade gelten werden? Auch den Freund sähe ich gerne wieder, aber er lebt in Schweden, und wer weiß, ob ich zum fraglichen Zeitpunkt aus meinem Land gelassen werden oder in seins hinein. Oder umgekehrt? „Quarantäne kann ich mir nicht leisten“, sagt die Freundin, und ich mir auch nicht — schon gar nicht im teuren Schweden, dem sein Sonderweg letztlich auch herzlich wenig gebracht hat.
Und so trauen wir uns nicht einmal, die Flüge zu buchen: Zum Freund fliegt zunächst wohl nur unser Traum von unbeschwerter Zeit, warmen Zimtschnecken und winterlichem Stockholm-Zauber.
Nun also: Weihnachten. An Corona hat man sich mittlerweile gewöhnt; in den Jackentaschen stecken FFP2-Masken und Impfnachweis inzwischen so selbstverständlich wie Taschentücher, Portemonnaie und Schlüsselbund. Meine eigenen Impfungen und die meiner Liebsten haben mir einige Ängste vor der Krankheit genommen, und dennoch schwingt eine unterschwellige Ablehnung dem gegenüber mit: Gewöhnen ist grundsätzlich gut, aber will ich das in diesem Fall überhaupt? Will ich, dass die Pandemie sich einfach so in meinem Leben einnistet wie eine weitere lästige Pflichtübung, gleich neben Abwasch, Müllraustragen und Steuererklärung? Ich glaube nicht. Und so bleiben wohl nur die kleinen Alltagsfluchten in vorpandemische Zeiten, in Traditionen und Kindheitserrinerungen. Wie eben: Weihnachten.
Bei der Freundin duftet es nach Vanille; ein Klumpen Keksteig wartet auf unserer Hände Arbeit, um sich nach und nach in duftende Bleche voller Gebäck zu verwandeln, an denen wir uns wenig später hemmungslos überfressen haben werden. Ebenso wie an Ente, Klößen und Rotkohl. Wir machen uns schick für eine halbleere Kirche und füreinander, die Eltern sind geografisch fern, aber im Herzen zugegen. Es ist ein Klammern an diese heimeligen Momente der Idylle in dieser durchorganisierten und -technisierten neuen Corona-Welt. Apps und Bürokratiedeutsch, Testzentrumsöffnungszeiten, Statistiken, Erlasse.
Die neuen Ohrringe der Freundin glitzern im Kerzenlicht, ich streiche bewundernd über das samtige Veloursarmband der Uhr, die sie mir schenkte. Tags darauf sieht die Küche aus, als sei ein Rudel Wölfe dort eingefallen; Entengerippe, Fettpfannen, zerfetztes Papier, dazwischen der Hund, der bei uns Weihnachtsasyl fand. Wir braten die Klöße des Vortags; auch das gehört dazu, zu einem Weihnachten wie ich es von früher kenne, also gefühlt von vor hundert Jahren. Das ursprünglich als romantisch geplante, traditionelle gemeinsame Filmgucken spoilert ein furzender Hund, es stinkt zum Gotterbarmen. Aber auch diese kleinen Malheurs gehören zu Weihnachten, zu einem Weihnachten, als es das große Malheur drumherum noch nicht gab.
Zwischendurch gibt es noch Arbeit, denn der berühmte Spruch „Arbeiten, wo andere Urlaub machen“ bedeutet eben auch, dass man dann arbeitet, wenn andere Urlaub machen. Immerhin, zumindest das Wetter wird wohl im Gedächtnis bleiben von diesem Christfest 2021, denn die Sonne strahlt mit Kerzen und Kinderaugen um die Wette; es könnte kaum schöner sein. Dankbar nehmen wir auch davon mit, was geht, und dann — ist Weihnachten schon wieder vorbei.
Vorbeigerast, als habe man nur eben ein Fotoalbum durchgeblättert; in der Keksdose liegen noch ein paar Krümel, das Jahr hat noch vier Tage.
Ich kann kaum glauben, dass es tatsächlich schon das dritte Pandemie-Jahr ist, in das wir gehen. Wie jedes Jahr, kann ich nur beten, dass mir 2022 keine lieben Menschen genommen werden, das ich im Idealfall selbst nicht sterbe und auch sonst nichts Existenzbedrohendes über uns hineinbricht. Ansonsten bleibt uns nur das Aus- und Durchhalten, wie in den Vorjahren auch. Und ein bisschen erschreckt mich, wie sehr ich mich auch schon daran gewöhnt habe.



