Nächtliche Netzgedanken

die, die sonst am meisten schreien
heucheln schweigendes gedenken
und am meisten wird geschrien
von denen hinter masken
und nein, ich meine nicht
die masken gegen viren
anonym mit lauten bildern
ist die menschheit am verwildern
am kreuz wirft gott schon lange schatten
und man fragt sich, ob wir das
nicht alles irgendwann schon hatten.

MDO, November 2021

Momentaufnahme, Post

Ich mag analoge Post. So sehr ich mich über E-Mails, Anrufe und Messenges lieber Mitmenschen auch freue, übertrifft doch wenig die Freude daran, einen „richtigen“ Brief, eine Postkarte oder ein liebevoll geschnürtes Päckchen in den Händen zu halten, das nur wenige Tage vorher noch in den Händen des geschätzten anderen war.
Ohne analoge Post würde ich von kaum einem meiner Freunde die Handschrift kennen. Da gibt es hingeworfene „Sauklauen“ wie meine oder akribisch gemalte Buchstaben; und auch alle Geschlechterklischees werden gern widerlegt: So hat ein Berliner Freund eine ausgemachte „Mädchenschrift“, überaus ordentlich, rund und harmonisch, während einige Freundinnen(w) jedes Apotheker(m)-Vorurteil erfüllen. Handschrift war in der Grundschule mein schlechtestes Fach; meine Schrift ist eine konzeptlose Ansammlung  krakeliger Disharmonien, und oft kann ich sie selbst schon nach wenigen Minuten nicht mehr lesen, sodass ich einzelne Wörter im Notizbuch immer wieder durchstreichen und „ordentlicher“ überschreiben muss, was allerdings auch oft erst im zweiten oder dritten Anlauf gelingt. Mich ärgert das selbst, aber angesichts des Nachlassens der Feinmotorik mit dem Alter und mangelnder Übung im Mit-der-Hand-schreiben, kann ich diesbezüglich wohl wenig Besserung erwarten. Und, zugegeben: Die Erinnerung an die Grundschullehrerinnen-Schimpftiraden bezüglich meiner Sauklaue motivieren auch 40 Jahre später noch nicht unbedingt.
Da ich ansonsten eher pendantisch veranlagt bin und meine Wohnung mitnichten wie meine Handschrift aussieht, wäre ich indes vorsichtig, was Rückschlüsse aus der Schrift über den Charakter angeht. Tatsächlich erinnere ich aber einen Schweizer Verlag, bei dem ich eine Handschriftenprobe mit der Bewerbung einzureichen hatte — für ein graphologisches Gutachten. Freilich war das Anfang der Nullerjahre und ich bezweifle, dass das dort immer noch üblich ist; die Stelle bekam ich jedenfalls nicht.
Auf jeden Fall vermag auch die viehischste Schrift mir nicht die Freude an analoger Post verleiden; weder beim Senden noch beim Empfangen. Denn natürlich verschicke ich selbst gern schöne Dinge, Postkarten, Briefe und kleine Aufmerksamkeiten: Nur wenig schlägt die heimliche Vorfreude darüber, was der oder die Beschenkte wohl dazu sagen wird, und das Schönste ist, dass man diese Vorfreude die ganze Lieferzeit über auskosten kann. Bei Messenges, wo man die Antwort binnen Minuten erhält, ist das natürlich weniger ausgeprägt.

Das Faszinierende am Analogen, denke ich, ist wohl, dass einfach mehr Sinne daran beteiligt sind. So ein Paket zu öffnen, bietet schließlich eine ganze Menge haptischer, audiovisueller und sogar olfaktorischer Reize: Angefangen vom dezenten Zigaretten-Odeur, der noch im Seidenpapier des ketterauchenden Freundes festhängt, bis hin zum versehentlich hinterlassenen Tintenfingerabdruck eines anderen. Auch Lokalzeitungen aus der Heimatregion des Absenders als Paketpolsterung sind immer etwas Herzerwärmendes. Hinzu kommen die Geräusche des Aufschneidens und Kramens, des Entwirrens und Entfaltens und all die Gefühle dabei: Das glatte Klebeband, die grobe Papierwolle, die quietschenden Styroporflocken, die durch Reibungselektrizität an den Fingern haften bleiben. All das entfällt beim Öffnen einer E-Mail.

Die letzten Tage bekam ich überhaupt keine Post, nicht einmal Rechnungen, da ja sogar diese fast nur noch als PDF erhältlich sind — und zu deren Abrufen man sich dann 800 Passwörter für 900 Websites à 150 Zeichen merken muss. Eine Erleichterung für mich als Endkunden sehe ich hier nicht; sehr wohl aber die Portoersparnis für das Unternehmen. Auf jeden Fall machte mich die postlose Zeit so traurig, dass ich nicht nur über das besondere Vergnügen des Empfangens sinnierte, sondern auch über das Versenden. 

Und da fiel mein Blick auf den liturgischen Kalender.

„Jetzt bestellen!“ warb ein Zwischenblatt schon für die Ausgabe 2021; auf der Rückseite waren Linien eingedruckt, in die man die eigene Adresse eintragen konnte, um das Ganze dann im Umschlag zu verschicken. Natürlich: Man hätte vermutlich problemlos auch eine E-Mail-Bestelloption ergooglen können. Oder das Ganze per Telefon erledigen. Aber ich witterte meine Chance, etwas wunderbar Anachronistisches zu machen und bestellte den neuen Kalender per Post. Natürlich ist das, genau überlegt, ein Wahnsinn: Ökologisch wie ökonomisch. Man braucht einen Stift, einen Briefumschlag und eine 80-Cent-Marke. Das Postauto verbrät CO² auf dem Weg, und angekommen im Verlag muss irgendein armes Schwein den Umschlag öffnen, den Zettel hervorkramen, meine Sauklaue entziffern und die Adresse in den Computer tippen, damit der neue Kalender dann irgendwann vorm 31. Dezember den Weg nach Langeoog findet.
Ich erinnere, dass in einer der Werbeabteilungen, in denen ich früher gerabeitet hatte, eigens Praktikanten beschäftigt wurden, die 8 Stunden nichts anderes zu tun bekamen als Adressen auf Gewinnspiel-Postkarten abzutippen, obwohl es meist eh nicht wirklich etwas zu gewinnen gab oder die Gewinner aus Klüngelgründen bereits vorher feststanden. Dass die Praktikanten dabei nichts über Marketing lernten, außer, dass noch viel mehr Beschiss dabei ist, als man schon immer vermutet hatte, steht leider außer Frage. Und vermutlich gereicht die Möglichkeit zur Online-Teilnahme an Gewinnspielen heutigen PraktikantInnen sehr zum Vorteil.

Dennoch hatte das Ausfüllen des Kalender-Bestellzettels für mich etwas Besonderes: Es waren, wie auch beim Empfangen, fast alle Sinne beteiligt (hier sogar inklusive des Geschmacksinnes beim Anlecken der Briefmarke), und man hatte gleich doppelte Spannung: Kommt die Karte an? Und kommt auch der Kalender?
 Zudem sind die Bestelloptionen auf so einem Zettel begrenzt, was auch vor Shopping-Exzessen schützt.
Im Internet hätte ich neben dem Kalender nämlich vermutlich noch Kerzen und Deko und Bücher und Rosenkränze gekauft — der Zettel indes sah genau eine Option vor: „Hiermit bestelle ich __ Exemplare ‚Liturgischer Kalender'“, mit oder ohne Rückwand, Unzutreffendes bitte streichen. That’s all.

Überdies wurden Kindheitserinnerungen wach: Plötzlich hatte ich wieder plastisch vor Augen, wie die ganze Familie früher am Esstisch über dem dicken OTTO-Katalog hockte. Der Bestellzettel dazu hatte vielleicht 15 Zeilen, und das war’s dann: Wenn voll, dann voll, während virtuelle Einkaufswägen bekanntlich das Fassungsvermögen eines Containerschiffes haben. Man musste sich also einschränken und seine Wahl weise treffen; nicht nur des Budgets wegen. Außerdem machte das Eintragen der ewig langen Artikelnummern, Farb- und Größencodes keinen Spaß, sodass auch dieser Punkt beim Zusammenreißen half. Danach verschickte man den Zettel mit der Post oder Muttern gab die Wünsche telefonisch durch; im Anschluss hieß es: Warten. 2-3 Wochen Lieferzeit juckten damals niemanden, während die Leute heute teils schon nach 48 Stunden eskalieren. Es war also nicht alles schlechter ohne Internet, wiewohl ich hier unumwunden zugebe, durchaus auch nostalgisch zu verklären. Auf einer Insel ist man ohne funktionierenden Online-Handel mitunter verloren. Wie sonst bekäme ich hier neue Möbel vor die Tür gestellt, Tinte für meinen Uralt-Drucker oder die von mir besonders begehrten internationalen Süßwaren, die man auf dem Festland maximal im KaDeWe, aber sicher nicht in Ostfriesland findet? Das Internet kann auch ein Segen sein.

Was persönliche Post angeht, möchte ich aber keinesfalls auf alles analoge verzichten, und gute FreundInnen wissen das. Umso mehr freute mich, als nach 3 postlosen Tagen gleich zwei schöne Briefe von den Lieben auf dem Kontinent eintrudelten — dazu eine Rechnung sowie ein Kreditangebot, das mir auf Papier sorgloses Online-Shopping versprach. Ich lehnte dankend ab.

Bildschirmfoto 2019-08-16 um 20.41.56

Momentaufnahme, Netz

Letzlich hat es die Sonne doch geschafft. Durch einen Wolkenspalt hindurch zwingt sie ihr glutrotes Licht in die Trübnis. Ich sitze im Strandkorb und kaue an einem Erbeereis herum. Das widerspricht sich im Februar nicht zwangsläufig, wenn der Strandkorb im Fährhaus steht und man sich das kalte Sauwetter nur durch das Fenster ansieht, während man auf das Einlaufen der Fähre wartet.
Der Akku meines Mobiltelefons ist längst leer und ich habe kein Kabel dabei, um es an eine der Steckdosen hier zu hängen, also betrachte ich den Sonnenuntergang ganz analog und bedaure, dass ich ihn nicht teilen und niemandem zeigen kann.

Gleichzeitig frage ich mich: Enfernt uns die Digitalisierung vielleicht von der Genussfähigkeit? Sind Sonnenuntergänge also quasi weniger Wert, wenn wir sie nur noch durch unser physisches Auge betrachten können, wenn wir nur noch im Herzen die Statusmeldung aufploppen sehen: „Wie schön“?
Sofern ich mich noch an Prä-Internet-Zeiten erinnere (und diese waren lang: Ich war erst Mitte 20 im Besitz einer E-Mail-Adresse), so gab es aber auch damals schon das Bedürfnis, beeindruckende Dinge, die man erlebt hatte, zumindest seinen Liebsten zu zeigen — und das leise Bedauern darüber, wenn man es nicht konnte. Die Urahnen der heutigen Facebook-Spammer luden dagegen gern zu Dia-Abenden: 3 Stunden Schwarzwald-Pensionsurlaubs-Retrospektive mit großformatigen Bildern eines misslungenen Toasts Hawaii und weinseligen Schnapsverkostungen konnten mitunter sehr lang werden — einigen heutigen Social-Media-Auftritten qualitativ wie quantitativ nicht unähnlich. Mit dem heutigen Vorteil, dass man langatmige Bilderstrecken von Toast und Konsorten einfach herunterscrollen kann …

Während ich mir über diese Dinge Gedanken mache, versinkt die Sonne unbeachtet mit dem Rest ihres Farbenspiels hinter einer kabbeligen See. Das Schiff hat angelegt.
Ich beziehe den Salon unter Deck.

Gestern sah ich eine Dokumentation über die Macht der Sozialen Medien, und in Erinnerung daran werden mir meine profanen Gedankenspielchen über das Schmälern von Schönheitsgenuss durch die Frage „To share or not to share?“ oder die Evolution des Vorzeigens von Urlaubs- und Essenbildern unangenehm. Denn am Ende dieses Films war erst einmal in jeder Hinsicht Schluss mit lustig.

Die Fragestellungen des Films hatten es in sich: Inwieweit sind facebook und Co. für das zunehmende Aufwiegeln der Massen verantwortlich, für Meinungsmanipulation, für politische Einflussnahme in Gesellschaften, in denen nur wenige Menschen Zugang zu anderen Informationsquellen bekommen? Sei es durch eine teils fragwürdige Zensurpolitk oder durch das bloße Zurverfügungstellen eines „Werkzeugs“, das es ermöglicht, binnen Minuten einen Lynchmob zusammenzurotten und Existenzen zu vernichten, wofür man früher immerhin noch mit brennenden Mistgabeln und Bottichen mit Teer und Federn hätte von Dorf zu Dorf ziehen müssen.
Wobei die Menschheit auch in digitalisierten Zeiten nicht weniger primitiv ist als zu allen Zeiten — Mit dem Unterschied, dass es heute weltweit jeder mitbekommt.
Natürlich wusste ich auch vor dieser Dokumentation um das unerträgliche Maß an Hass, an Bosheit, an Gier, Müll, Armut und Überbevölkerung auf diesem Planeten: Man liest ja Zeitung. Ich wusste um die Existenz des puren Bösen, das auf allen Kanälen on- und offline seine abstoßende Fratze zeigt. Aber es nochmals so komprimiert vorgeführt zu bekommen, mit dem Wissen, dass nichts davon Fiktion ist, hat mich erschüttert.

„Man hat mein Baby ins Feuer geworfen und den Zweijährigen im Fluss ertränkt“, erzählt eine Rohinga-Frau. Sie selbst wurde gefoltert, gedemütigt: sexuell, seelisch. Sie zeigt ein paar Narben. Dann weint sie. In der nächsten Einstellung wäscht sich der Reporter, der sie interviewte, das Gesicht. Es bedarf keines weiteren Kommentars.
Ein Posting, das zur Ermordung der Rohinga aufrief, hatte binnen Minuten Hunderttausende Likes. Welchen Anteil am unermesslichen Leid dieser Frau hatte die Hetze im Netz? Es schmerzt, sich diese Frage zu stellen. Denn oft genug hat man — wenn auch zu nicht unmittelbar vergleichbaren Themen — ja selbst gelangweilt weitergeklickt, wenn irgendwo im Netz der Hass tobte. Es wird so erschreckend normal irgendwann. Und Gegenrede viel zu häufig einfach zwecklos. Wer keine Argumente hat, brüllt. Und wer empathisch ist, hält das nicht lange aus; wird müde und schweigt. Oder klinkt sich ganz aus. Wie im Internet, so auch in der Welt.

„Ich habe Hunderte Enthauptungen gesehen“, erzählt ein Mann, der für eine große Social-Media-Plattform Fotos und Videos sichtet und zensiert. „Jede Art von Folter.“ Die ganze widerliche Fratze des Bösen. Manche Menschen, die diese Art von Content Management als Beruf ausüben, bringen sich nach einigen Monaten um. Denn auch wenn man den Teufel aus dem Internet wirft: In der Welt ist er ja trotzdem. Es muss schwer sein, das auszuhalten. Als einige der Sachen eingeblendet werden, die sich diese Menschen acht Stunden lang am Tag anschauen müssen, halte ich mir die Augen zu. „Das Tagessoll sind 25.000 Bilder“, sagt einer der Moderatoren. Dazu kommen Videos. „Einige werde ich nie vergessen.“

Ignore. Delete.

Die Kinobesucher verließen den Saal schweigend. Eine junge Frau lehnte sich bleich an ihren Freund. Noch beim Abspann wurden die ersten Smartphones eingeschaltet, man sah die Displays aufleuchten. Auch meins war darunter.

Ich werde diesen Text im Internet platzieren. Wiederum andere platziere ich nicht; aus vielerlei Gründen. An den meisten Tagen macht es mir Freunde im Netz zu sein. Aber ich bin mir nie sicher, ob ich dabei die Spinne bin oder die Fliege. 
Und, ehrlich gesagt, sind mir beide Tierarten nicht besonders sympathisch.

 

img_3366

 

 

 

Momentaufnahme, Vielleicht

Das Wetter ist unschlüssig die Tage.
Am Strand in Schals und Sweatshirts gehüllte Menschen, die untenherum nur Badehosen tragen; in den Strandkörben liegen Wolldecken neben der Sonnenmilch. Im Dorf zerren Windböen an Kleiderbügeln, auf denen maritim gestreifte Urlaubsmode hängt, das metallische Klirren der Bügel mischt sich ins Kampfgeschrei der Möwen auf dem Dachfirst. Der Himmel ist in zwei Streifen zerschnitten: Ein blaues Band markiert den Horizont, darüber ballt sich steingrau das nächste Gewitter, und man weiß nicht, ob der blaue Streifen den grauen trägt oder ob der graue den blauen niederdrückt.
 Dem Monat nach ist es Sommer, aber ich fühle den Herbst.
Am Strandüberweg reift der Sanddorn. Auch die Brombeersträucher tragen erste Früchte, nebenan noch späte Blüten. Im Garten würgt eine große Möwe am Kadaver eines Staren, der in der Choreografie des Schwarmes über den Weiden am Deich nun eine Lücke lässt. Ich betrachte all das mit seltsamer Reglosigkeit. Der Sommer geht, aber wie soll man Abschied nehmen von etwas, das man gar nicht erst hatte?
 Sicher: Es waren mitunter schöne Tage, aber es gab keine Phasen andauernder Sommerhitze, es gab keinen Tag, der warm genug gewesen wäre, dass ich in der Nordsee hätte tauchen können, das Zusammenschlagen der Wellen über mir fühlend, den wirbelnden Sand unter mir, um mich herum nichts als grünblaue Unendlichkeit, das Meer: Meine irdische Ewigkeit.

Ich sehe in den Spiegel. Die Bräune der Sonnenstunden verblasst, die Wimpern dagegen sind nahezu weißgeblichen. Auch hier weiß ich: Der Sommer endet, aber noch ist nicht Herbst. Ich bin der einzige, der mir heute in die Augen schaut; an vielen Tagen ist das so, aber ich kann nicht aus dem Fenster sehen und darauf warten, dass jemand, der mich ansehen mag, dort mit dem Koffer steht, mit seinem Leben — die Insel ist weit, ich muss mir selbst genügen.

„Wir sind im Zenit des Sommers, finde ich, es beginnt gerade zu kippen“, schreibt der Lieblingsmensch, und mir wird angst, dass er uns beide meint und nicht das Wetter. Es gibt Gründe, sich auf den Herbst zu freuen, auch auf den Winter, wenn im Herzen die Hoffnung auf Frühling keimt. Wenn es Pläne gibt, konkrete Dinge, auf die man sich freut, aber man kann seine Träume nicht ewig am Leben halten, irgendwann verliert auch das schönste Bild seine Farben und der Heiligenschein des einst Verehrten ist nur noch ein Lichtglanz auf einer Regenpfütze, dessen Quelle sich kaum noch eruieren lässt.
Fluch und Segen der Ferne. Wieviele Freundschaften wären schon gestorben, mitunter gar nie entstanden ohne das Internet, das uns so schnell Distanz vergessen lässt? Ich erinnere die Brieffreundschaften meiner Jugend, wo man mitunter eine Woche auf Antwort warten musste und nicht, wie heute, oft nur Minuten, aber dafür hatte man dann etwas Greifbares, das man in eine Schachtel legen konnte; man sah am Schriftbild, wie es dem Freund wirklich ging; manchmal waren Tränen auf dem Papier, manchmal lag ein getrockneter Halm darin, von der Wiese, von der er gerade schrieb.
Und heute? Ich denke an die in unzähligen Mails gewachsene Innigkeit, an all den wunderbaren Austausch. Und dass all das vernichtet werden könnte mit zwei Mausklicks: „Möchtest du diese Unterhaltung wirklich löschen?“ — Nein, das möchte ich nicht. 
Aber dann fällt das Netz für ein paar Tage aus, so ist das halt auf einer Insel, und man subsummiert, was eigentlich von ihm bleibt: Zwei Postkarten, zwei Bücher, ein Bild, das man ausdruckte. Immerhin. 
Dennoch frage ich mich, wie lange das halten kann, diese Zweidimensionalität einer Verbindung. Ist sie nicht irgendwann zu groß, die Sehnsucht nach der Stimme zu all den schönen Worten, nach dem Gesicht, das man lesen möchte, zusätzlich zu seinen Mails? Wie nah kann man jemandem kommen, wenn man ihn nicht fühlt, nicht riecht; nicht sieht, wie und wer er ist im Alltag? Natürlich: Alltag kann auch schnell desillusionieren. Aber irgendwann ist sie zu groß, die Diskrepanz zwischen all den Geheimnissen, die man voneinander kennt, und all den Trivialitäten, die man nie teilte. Dieser Mensch, denke ich, weiß um meine Zweifel, meine Scham und Sünden. Es ist so viel von Wert zwischen uns. Aber ich möchte eines Tages einfach nur stumm an seiner Seite gehen, mit ihm Zeit verbringen, beisammen sitzen, am Meer, im Wald. Ich will ihn schweigend verstehen, ihn für einen Moment wenigstens im Arm halten — ihn, der mir so lange Freund ist — wie könnte ich das denn mit einer E-Mail, einem Blatt Papier? Es ist schön, mit ihm über Lyrik zu schreiben und all das Vergeistigte — aber ich möchte ihn eines Tages auch ganz einfach nur fragen, was er zum Frühstück will. Und ich frage mich: Kann eine Freundschaft oder wie auch immer geartete Verbindung zweier Menschen wirklich sein, wenn es kaum oder keine analogen Erinnerungen gibt, die man teilt?

 Es ist besser als nichts, mag man denken, denn man weiß: Hinter seinem Rechner sitzt ja dieser Mensch, er ist warm, er atmet, und nur die Art der Kommunikation ist virtuell, nicht aber seine Seele, nicht sein Vertrauen, nicht die Verbundenheit. Und 900 Kilometer sind nunmal kein Tagesausflug.

Aber es ist schwer, und man hat Angst vor dem Tag, an dem man fühlt: Es kippt, auch wenn man es nicht ausspricht. Sofern man sich nicht wegen irgendeinem Unfug zerstreitet und damit das Ende der Freundschaft ad hoc provoziert wie mit einem Einmarsch auf fremdes Terrain, kann man dann zusehen, wie die Sache langsam ausblutet, die Mails weniger werden, von Besuch keine Rede mehr ist, Vertrauen und Nähe schwinden und man schließlich in den Status von Bekannten wechselt, bis am Ende einer schweigend fort ist oder nur noch Karteileiche auf facebook.

„Sei nicht so weibisch“, schimpfe ich mit mir selbst, während ich mich aus diesem Gedankenkreisel herausreiße, „natürlich meint er das Wetter.“ Diese 30 Ebenen Subtext, das machen Männer doch nicht. Weder als Sender einer Botschaft, noch als deren Empfänger. Oder? Aber, wie eigentlich überall im Leben, bringen einen Stereotype hier nicht weiter.

Vor dem Fenster ist es jetzt wieder blau. Man muss vertrauen, sage ich mir: Darauf, dass es wieder wärmer wird, und sei es erst im nächsten Sommer. Darauf, dass auf einen grau verhangenen Morgen immer noch ein strahlender Tag folgen kann.
Über dem Deich formatiert sich der reduzierte Starenschwarm und verdunkelt mit atemberaubenden, flirrenden Sausen für einen Moment den Himmel. Die Vögel ziehen weiter, aber die meisten von ihnen kommen zurück. Und so sorgt zumindest dieser Abschied nur für ein kurzes, wehmütiges Ziehen im Herzen, das spätestens mit dem Frühjahr vergessen sein wird.
Vertrauen und Loslassen, denke ich, gehören wohl untrennbar zueinander, vermutlich bedingen sie einander sogar. Die Zugvögel finden ihren Weg, solange man sie nicht einsperrt. Sie mögen unterwegs rasten, Halt machen anderswo. Aber irgendwann sind sie wieder hier, das funktioniert seit Jahrmillionen. 
Natürlich sind Menschen keine Zugvögel, und unsere Wege kennt nur Gott, ebenso wie die Irrpfade und Sackgassen auf denen wir wandeln und uns zuweilen verrennen. Manchmal müssen wir alleine durch, manchmal bekommen wir liebe Begleiter, und sei es nur für ein Stück des Weges. Es ist wichtig, dass der bange Blick in eine Zukunft, die wir nicht kennen, nicht den Wert des Jetzt schmälert. 

Es wird kälter, sagt der Wetterbericht, während ich das Display meines Mobiltelefons vor den plötzlich hervorgebrochenen Sonnenstrahlen abschirme. Auf dem Dünenfriedhof hat jemand die Glocke geschlagen.

12a13a

Momentaufnahme: Uhl und Nachtigall

Am Horizont reihen sich kleine Cumuluswolkenberge hinter dem Deich wie eine Perlenkette. Zeugen einer neuen Kaltwetterfront, und dennoch ist am Fuße des Deiches der Frühling in vollem Gange. Kiebitze staksen durch die Weiden, die charakteristischen Häubchen wippen dabei im Takt. Nebenan stochert eine Pfuhlschnepfe nach Nahrung, kleine Schwärme von Steinschmätzern gesellen sich dazu, das Federkleid in der Farbenpracht der Brutsaison. Rinder dösen.

Der Wind fegt in steifen Böen über das Land und erschwert das Fortkommen auf dem Rad. Ich raste kampfmüde an der Weide. Auf dem Asphalt zu meinen Füßen zeichnet sich ein V-förmiger Schatten ab: Eine Formation Gänse ist im Anmarsch. In den Salzwiesen auf der anderen Seite des Deiches trillern Austernfischer. Ein Paradies — für den, der Vögel liebt.

Für Ornithophobiker muss die Insel dagegen ein Albtraum sein, denke ich amüsiert, und dass es doch interessant ist, wie in dem, was einigen perfekt erscheint, für andere das blanke Grauen lauert. Oder wie oft ein winziges grausiges Detail ausreicht, um die Illusion des Perfekten zu zerstören.

Ich denke beispielsweise an Efeuhecken. In meinen Träumen sehe ich mich ja immer gern auf einem Landsitz; ein viktorianisches Gemäuer mit — natürlich — einer mächtigen Efeuhecke, aus der stets ein beeindruckendes Spatzenkonzert ertönt. Ich finde Efeuhecken schön.
Außerhalb meiner Träume wöllte ich eine solche aber nicht geschenkt haben wollen, Spatzenphilharmonie hin oder her. Der Grund hat acht Beine und liebt Efeuhecken ebensosehr wie die Spatzen: Spinnen.

Erst vor wenigen Tagen, im Rahmen einer Osterandacht, wurde die Schöpfungsgeschichte zitiert, und mir ging mit Grausen auf, dass es dort tatsächlich „und Gott schuf alle Lebewesen, die fliegen und weben …“ heißt, d.h. Spinnen werden dort explizit als gleichberechtigter Teil der Schöpfung aufgeführt, sofern mit „weben“ nicht Webervögel oder generell Vögel beim Nestbau gemeint sind. Mist, denke ich, hatte ich meine geliebten Vögel doch bisher unter „Gottes Werk“ und die achtbeinigen Sujets meiner schlimmsten Albträume unter „Teufels Beitrag“ verbucht.
Ein Grund mehr, ihre Existenz zumindest akzeptieren zu lernen, auch wenn ich nicht mehr daran glaube, jemals von meinem unbändigen Ekel vor Spinnen geheilt zu werden. Immerhin: Sie dienen Vögeln als Nahrung.

Auf jeden Fall muss ich wieder an die armen Ornithophobiker denken und daran, wie es wohl wäre, quartierte man mich auf einer Insel ein mit lauter Arachnoiden.

„Watt dem einen sin Uhl, is dem annern sin Nachtigall“ zitiert mein Vater hier gern, wobei mir persönlich Uhl und Nachtigall gleich lieb sind, aber die Botschaft ist klar.
Ich käme jedenfalls nicht auf die Idee, einem Ornithophobiker zu sagen „Stell Dich nicht so an“, auch wenn ich diese spezielle Phobie persönlich nicht im Geringsten nachfühlen kann. Aber ich kann Tierphobien als solche nachfühlen. Und ein paar andere Phobien auch noch.

Das wiederum bringt mich auf den Gedanken, warum es eigentlich so schwer fällt, das mit dem „Leben und leben lassen“. Nehmen wir zum Beispiel Sozialphobien, oder deren „harmlose“ Ausprägung, die Introvertiertheit. Nicht jeder Mensch fühlt sich in Gesellschaft wohl. Nicht jeder langweilt sich, wenn er allein ist. Nicht jeder schöpft Kraft aus einer Beziehung. Nicht jeder ist unglücklich ohne prall gefüllten Terminkalender. Nicht jeder mag Lärm, Gewusel und laute Farben.
Für einige ist Socializing und Smalltalk mit all den Gefahren des Bewertetwerdens und Sichblamierenkönnens eine regelrechte Qual, die Überwindung kostet und Kraft. Die Gründe sind vielfältig; oftmals stecken Traumata durch Mobbing oder ein liebloses, durch Leistungsdruck geprägtes Aufwachsen dahinter. Angst vor Menschen und Panik in Menschengruppen kann entstehen, wenn man in Menschengruppen, der Familie oder Beziehungen selten Geborgenheit fand, sondern Ignoranz, Demütigung und Gewalt, oder wenn man Menschen in irgendeiner anderen Form als potentielle Gefahr kennen gelernt hat.
Manchen steckt die Introvertiertheit aber auch schlicht in der Natur, fern jeder traumatischen Erfahrung. Auch glückliche Menschen ohne Traumata können introvertiert sein.
Und wie wertvoll ist es dann auf Leute zu treffen, die einem die Introvertiertheit weder zum Vorwurf machen noch meinen, einen mit roher Gewalt (z.B. der Mitleidskeule) aus dem vermeintlichen Schneckenhaus zerren zu müssen, sondern die einfach zuverlässig und unaufdringlich da sind.

Was ich über Freundschaften, die auch mit Introvertierten funktionieren, weiß, ist Folgendes: Vertrauen wächst aus Vertrauen. Ganz einfach.
Wenn ein Freund mir Dinge offenbart, aus denen ich ihm, wäre ich bösartig veranlagt, einen Strick drehen könnte, fällt es mir natürlich wesentlich leichter, ebenfalls etwas Persönliches preiszugeben: Quid pro quo. Beschleicht mich hingegen das Gefühl, ich bin für die Person (im harmlosen Fall) nur ein Objekt, um einen wie auch immer gearteten altruistischen Narzsissmus auszuleben (aka Helfersyndrom) oder, im schlimmsten Fall,  nur dafür gut, um die Klatschsucht irgendwelcher tragischen Clowns zu füttern: No way. Leider braucht es mitunter Jahrzehnte, um die einen von den anderen zu unterscheiden.

„Wat dem einen sin Uhl, is dem annern sin Nachtigall“ gilt auch für zahlreiche andere, zentrale Lebensbereiche: Manche Menschen wären ohne Kinder todunglücklich, andere wären es mit. Manche vermissen den Respekt vor den Alten, andere den vor der Jugend. Kann man so stehen lassen. Sollte man auch. Und dennoch entbrennen über solche Dinge Diskussionen, die besonders in den Untiefen des Internets oft dergestalt ausarten, dass man jede Zivilisation in unerreichbarer Ferne wähnt. Die eigene Sicht wird zum Maß aller Dinge. Wer ein anderes Leben bevorzugt? „Neidisch“, natürlich: das Totschlagargument Nummer eins. Und immer wird versucht, irgendeinen Rechtfertigungsdruck zu erzeugen.

Du hast kein Kind, weil du es dir finanziell nicht leisten kannst? Egoist, denk doch mal an die Gesellschaft. Du hast ein Kind, obwohl du es dir finanziell nicht leisten kannst? Egoist, denk doch mal an die Gesellschaft. Du bist auch ohne Partner_in glücklich? Du machst dir was vor, „no man is an island“. Du bist überzeugt, den_die Richtigen zu haben? Du machst dir was vor, 50% aller Ehen gehen schief. Die dreisten Fragen sind Legion: Warum bist du Single? Warum hast du so früh geheiratet? Warum hast du keine Kinder? Warum hast du so viele Kinder? Warum hast du sowas Brotloses studiert? Warum hast du nur auf Karriere studiert? Warum hattest du im Leben erst einen Sexualpartner? Warum hattest du Hundert? Warum trinkst du keinen Alkohol? Warum trinkst du so viel? Weil, möchte man da manchmal, in Verzweiflung mit den Händen ringend, ausrufen: Weil … es euch einfach einen Scheiß angeht! Weil man sowas nicht fragt, weil es übergriffig ist und jeder von uns exakt nur ein einziges Leben hat und darum doch bitteschön selbst entscheiden darf, was er_sie daraus macht, solange es niemandem schadet! Und selbst wenn der Lebensweg nicht immer von klugen Entscheidungen geprägt war: Wer sind wir, um die Entscheidungen anderer zu hinterfragen?

Manchmal wird es unerträglich, all das Rotieren der Meinungen im Kreise, das Lärmen und Toben der Welt um einen. Und dann ist sie da, die Sehnsucht nach Stille, nach dem sicheren Kokon der eigenen Welt. Die Stille, die auf Langeoog zum Glück immer nur ein paar Hundert Meter entfernt liegt, selbst in der Hauptsaison. Ich bin froh, hier so viele Plätze zu kennen, wo die Gesellschaft der Vögel einen wieder kräftigt für die Gesellschaft der eigenen Spezies. Wo Wind und Wellen das Herz stärken und nähren und der Deich auch zum Schutzwall der Seele wird: Die Insel ist Medizin.

Ostern liegt hinter uns, der Sommer noch vor uns: Erfreuen wir uns an der Botschaft des Neuanfangs, der Vergebung und Heilung. Und vor allem: Öffnen wir die Augen für die Schönheit von Vielfalt. In der Natur, in uns selbst, und auch im Leben der anderen.

DSCI2146DSCI2208DSCI2152DSCI2213DSCI2215