Momentaufnahme, Ruhepol

Der Himmel gibt sich heute alle Mühe, um einen nicht vergessen zu lassen, warum es auf Langeoog schön ist. Vor dem Korallenrot und Gold des Sonnenuntergangs präsentieren sich winzige Wölkenflöckchen, schwungvolle Federwolken und Wolkenfelder, die aussehen wie ein Strang ordentlich gekämmter Wolle. Darunter glänzt silbrig die unendliche Weite des Meeres.
Dass sich in den Duft nach Seewasser noch der Diesel der Baufahrzeuge mischt, die zurzeit eine Strandaufspülung bewerkstelligen — geschenkt; ebenso wie das Hämmern und Rumpeln des Sand-Wasser-Gemischs, das durch die ausgelegten Rohre schießt. Die Maßnahme ist nötig, und sie hilft uns allen. Sie verspricht mehr Sicherheit für die nächste Sturmflutsaison und ein noch höheres Maß an Geborgenheit auf der bis dahin hoffentlich etwas einsameren Insel.

Noch immer hat der Saisonbetrieb nicht nachgelassen, obwohl an den Bäumen bereits die ersten Kastanien reifen und auch der Sanddorn bald in voller Pracht steht. An manchen Morgen riecht auch die Luft schon herbstlich, aber die Tage sind immer noch gefühlter Hochsommer. Es ist so heiß, dass man nicht bei geschlossenem Fenster arbeiten oder gar schlafen kann. Lässt man aber die Fenster offen, so dringt unablässig Lärm herein, der an Konzentration und Nerven zerrt. Ich kann nicht behaupten, dass ich diese Zeit genieße. Viele Bekannte machen derzeit auf Langeoog Urlaub, und gerne sähe ich den einen oder die andere davon, aber die Saison raubt mir jede Kraft zum Socializing. „Kommt im Herbst wieder, im Winter oder im Frühjahr“, sage ich dann, und die meisten verstehen das sogar. 
Nicht einmal die Freundin sehe ich zurzeit in nennenswerter Menge, denn zum einen sind unsere Arbeitszeiten reichlich (und reichlich verschieden), und zum anderen möchte man nicht noch unbedingt ein 37°C warmes Lebewesen neben sich im Bett haben, wenn man in der winzigen Wohnung ohnehin schon das Schicksal des heiligen Laurentius teilt, den man bekanntlich lebendig grillte.

Jetzt am Strand aber ist sie bei mir, und sie ist mir die Insel der Ruhe, die Langeoog zurzeit nicht sein kann. Ich bin dankbar für ihre Anwesenheit und sehne den stillen Tagen entgegen, in der mehr Zeit für ein Miteinander bleibt und die ständige Reizüberflutung durch die Vielzahl an Menschen endlich zum Stillstand gelangt.
An manchen Tagen der Hauptsaison fällt es mir schwer, nicht in einen Zustand von Anhedonie zu verfallen; und ja, es gab sogar schon Momente, in denen ich an meinem geliebten Meer stand und fürchtete, dass das mit mir und Langeoog doch irgendwann enden könnte — und zwar auf eine Weise, wie sie Erich Kästner in seinem Gedicht „Sachliche Romanze“ unübertrefflich beschreibt:



„Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut. (…)“

Aber dann stellte ich mir vor, wie es wäre, wieder kilometerweit vom Meer entfernt zu leben, und jeder Zweifel an der Haltbarkeit meiner Liebe zur Insel war unverzüglich ausgeräumt. Ich habe hier das Beste aller bisherigen Leben, und es ist zweifelsohne eine große Quelle des Unglücks, nur auf das zu schauen, was man nicht hat, anstatt sich seines aktuellen Beschenktseins bewusst zu werden. Die Hauptsaison ist für jemanden mit meinem Naturell schwer auszuhalten; das ist sie jedes Jahr — aber ich erfahre auch immer wieder, dass sich das Aushalten lohnt.

Eines der schönsten Geschenke dieses Jahres klettert soeben über die Rohre im Sand, um zu den Strandkörben zu gelangen, und ich bin froh, dass ich nichts weiter tun muss, als ihr zu folgen. Dass ich nichts haben, nichts sein und nichts beweisen muss, und sie trotzdem bei mir sein will; dass ich für ihre Liebe nichts tun muss, außer zu existieren. Ich war in dieser Lage nicht oft, aber das ist wohl das vielbesungene Wunder der Liebe. Liebe, so denke ich, gibt einem wohl immer exakt das, was man gerade braucht: Liebe bringt Stille in den Lärm, liefert Zerstreuung, wo man angespannt ist, und die gemeinsamen Träume vom Winter bringen sogar etwas Kühlung in diese heißen Tage. Die Liebe ist mein Schutzschild in Zeiten des ständigen Ausgeliefertseins; die Rettungsinsel im Menschenmeer. Auch der heilige Bernhard von Clairvaux, dessen Gedenktag heute gefeiert wurde, hat zum Thema „Liebe als Ruhepol“ etwas sehr Schönes gesagt: 
“Wir finden innere Ruhe bei denen, die wir lieben und schaffen Orte der Ruhe in uns für jene, die uns lieben.“

Die Freundin wird mir fehlen, wenn ich mich für meinen Herbsturlaub alleine in die vollkommene Stille verabschiede, aber es ist ein gutes Gefühl, dass sie mit einer vergleichbaren Unaufdringlichkeit, Anmut und Tiefe auf mich warten wird, wie der Wald, in den ich mich flüchte.

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