Hoffnung

„Die Gewalt, der Terror und der Hass werden ein Ende haben“, verspricht der Priester, und er strahlt dabei so vereinnahmend, dass man ihm das nur zu gerne glauben möchte. Das sei Jesu Botschaft: Die Hoffnung auf Frieden. Das Leben in Fülle. Auch und gerade in Zeiten, wo dieser grässliche Krieg unser Europa fest im Griff hat und wir alle dessen Auswirkungen langsam zu spüren bekommen, auch wenn unser Haus nicht in der Ukraine steht. Doch die Hoffnung und Zuversicht auf ein Ende des Elends sei das, was uns durchhalten helfe. Jesu Trost und Versprechen an uns. „Credo!“, möchte ich unverzüglich ausrufen, „credo!“ — Wenn es nicht so schwer fiele. Dabei ist auch der nette Priester keinesfalls weltfremd, vielmehr sitzen die Kriegsgräuel im Wortsinne täglich bei ihm am Tisch, denn er hat Dutzende ukrainische Geflüchtete bei sich im Priesterseminar aufgenommen und wird deren Geschichten mit Sicherheit anhören.
Ich gebe zu, dass ich kaum noch schaffe, mich bezüglich des Krieges auf dem Laufenden zu halten; ich kann mich schlicht nicht überwinden, all diese Artikel über so viel Leid zu lesen, auch wenn ich das als mündiger Bürger müsste. Das meiste bekomme ich nur noch über unermüdlich engagierte Freunde mit, denen an dieser Stelle meine ganze Bewunderung gilt. Ich bin so leider nicht. Ich bin feige.
Und dennoch kann ich nicht weglaufen, denn einflatternde Rechnungen für Strom und Gas in absurder Höhe sowie verschiedene, kriegsinduzierte Lieferschwierigkeiten im Warenverkehr erinnern mich täglich daran, dass der Krieg seine hässlichen Krallen längst auch um Deutschland gelegt hat. Die Freundin ist nicht mit in der Kirche. Sie spült nach Feierabend noch in einem Freizeitheim, der Preissteigerungen wegen. Damit wir zumindest tageweise noch Urlaub machen können oder überhaupt mal irgendeine Form von Lustkauf drin ist. Und dass, obwohl sie einen systemrelevanten Hauptjob hat, der der Gesellschaft aber letztlich doch nur Worthülsen und hohlhändigen Applaus wert ist. Auch meine Einkünfte werden von den Fixkosten fast gänzlich gefressen und es wäre mehr als traurig, wenn der Inseltraum nach so vielen glücklichen Jahren letztlich am Geld scheitern müsste. Ich denke, dass es keinem Ort, keiner Insel und keiner Region guttäte, zu einem Reichenbiotop zu verkommen, wo man die Angestellten nach Feierabend in irgendwelche Vororte, wahlweise aufs Festland, abschiebt, und ich hoffe, dass Langeoog nicht so endet.

Der Himmel über der Insel ist strahlend blau. Schwalben umschwirren die Kirche, als ich ins Freie trete. Nachts höre ich das Meer rauschen und danke Gott, dass dieses ferne Rauschen wirklich das Meer ist und keine Straße, dass ich morgens nicht von Hupen und Autotürenknallen geweckt werde, dass sich keine Besoffenen nächtens anschreien und in die Vorgärten kotzen. Ich bin froh, an einem Ort zu leben, der es einem leicht macht, an ein gutes Ende von allem Elend zu glauben.
Aber macht es nicht vielleicht auch leichtsinnig, an so einem Ort zu leben? Not, Armut, Kriminalität und Gewalt sind zumindest auf den ersten Blick so weit weg, auch wenn es das auf Langeoog, obschon in kleinen Dosen, natürlich ebenfalls gibt, die Inselpolizei wird es bestätigen können.
Und doch ist die Gefahr groß, sich von dieser Schönheit und zumindest oberflächlichen Unschuld verführen zu lassen und zu denken: Solange ich hier bin, bin ich in Sicherheit. Alles Schlechte ist so weit weg, wie könnte es an so einen Ort gelangen? Ebenso verführt das strahlende Lächeln des Priesters dazu, ihm alles zu glauben was er sagt; alles, was er von Jesus erzählt, und davon, dass alles gut wird. Ich will ihm glauben. Jedes seiner Worte über Hoffnung, Frieden, Fülle und Zuversicht. Und doch ist nicht nur der Krieg längst um uns, sondern auch das Artensterben, der Klimawandel sowie ein umsichgreifender Egoismus und Sozialdarwinismus, der einen nicht nur aus den Kommentarspalten im Internet täglich anbrüllt.
Indes: Was bliebe uns vom Leben ohne Hoffnung? Wäre das nicht mindestens so trostlos wie ein Schottergarten ohne Blumen und Schmetterlinge, wie abgemagerte Eisbären auf schmelzendem Eis, wie sterbende Wälder und Monokulturen? Auf einem Bild aus der Ukraine sehe ich ein Paar, das zwischen Trümmern heiratet. Die haben Hoffnung, denke, ich, sonst würde man das nicht machen. Über den zerbombten grauen Häusern sieht man ein Stück Himmel.

Momentaufnahme, Goldenes Handwerk

Der volle Mond wirft seinen Lichtschein durch eine dünne Schicht kleiner Schäfchenwolken, die sich um den Erdtrabanten drängen wie eine Wärme suchende Herde. Das Licht bricht sich an den zirkulierenden Eiskristallen der Atmosphäre in bunten Spektralfarben.
Einige Luftschichten tiefer, auf der Erde, ist es für Dezember recht warm.
In zwei Tagen ist Heiligabend.

Die Insel füllt sich; viele verwaiste Ferienwohnungen sind nun abends wieder beleuchtet. Auch in den Regalen der Lebensmittelmärkte wurde erneut aufgerüstet. Für die Angestellten auf Langeoog zieht der Stress nun wieder an, aber dennoch scheint die Welt kurz vor Weihnachten immer auf eine wundersame Weise stillzustehen.

Der Advent ist, wenn auch für die meisten nicht mehr als Bußzeit, so doch als Wartezeit erspürbar. Zumindest, wenn man sich, wie ich, relativ geruhsam auf die Feiertage vorbereiten kann.

Auf den Baustellen wurde die Arbeit jetzt niedergelegt. Etliche Gerüste wurden abgebaut; Halbfertiges festgezurrt und abgesperrt. Letzte Handwerker machen sich mit ihren Werkzeugkoffern auf zur Fähre, während die Welt die Ankunft des wohl bekanntesten Zimmermanns erwartet.

Ich denke an die historisch ziemlich unbeleuchteten, jungen Erwachsenenjahre Jesu — bevor er als Wanderprediger bekannt wurde — und frage mich, wie es IHM heute als Zimmermann auf Langeoog wohl ergehen würde. Würde man ihn mit Respekt behandeln, pünktlich bezahlen, würde ein Kollege vielleicht seine Pausenration mit ihm teilen, ein Bauherr ihm bei Schietwedder mal einen Kaffee zum Wärmen der Finger ausgeben? Würde er eine bezahlbare Bleibe finden?

Ich frage mich, wie es ihm wohl wirklich ergangen ist, damals in Galiläa. Vielleicht hatte er einen Esel dabei, um Baumaterial, Lot, Wasserwaage und Werkzeug zu den Baustellen zu transportieren. Vielleicht hatte er einen Handkarren, vielleicht auch nur eine Schulterkiepe. Ein Stück Stoff mit eingewickeltem Proviant: Brot, Obst, Trockenfleisch oder -fisch. Einen Wasserkrug. „Jesus war in Allem Mensch, außer in der Sünde“ las ich einmal irgendwo.

Ich stelle mir den Heiland vor, wie er in der Arbeitspause auf einem niedrigen Mäuerchen sitzt. Seine Kollegen werden Zoten gerissen haben, wie auf allen Baustellen Zoten gerissen werden, möglicherweise gab es auch Bier oder dünnen Wein. Jesus schalt sie aber sicher nicht dafür, solange es nicht bösartig wurde, denke ich, vermutlich saß er einfach nur dabei und lächelte nachsichtig. Aber wenn es gemein wurde, dann griff er mit Sicherheit ein.

Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit an einen Kindergottesdienst, bei dem ein Kind gefragt hat, ob Jesus auch aufs Klo gegangen sei. Und noch deutlicher erinnere ich, wie die anwesenden Erwachsenen bei dieser Frage scharf die Luft einsogen. Nervöses Stottern war die Folge. 
„Getrunken und gegessen hat er“, presste schließlich jemand mutig hervor, „Das steht zumindest recht eindeutig in der Bibel.“ Und dass man sich den Rest dann wohl denken könne.
Heute denke ich, dass es doch irgendwie schön ist, wie unbefangen sich Kinder der Materie nähern. Für Kinder gibt es noch keine ungehörigen Fragen. Und auch ich fand die Frage damals eigentlich nicht schlimm.
Im Gegenteil: Ich fand es als junger Mensch immer schön, Jesus als echten Freund zu sehen. Als Gott zum Anfassen. Den man immer hatte, auch wenn man niemanden sonst hatte. Der verstand, verzieh und niemals petzte. Der einen so sah, wie man von Gott gemeint war.
Den Heiligen Geist, GOTT, die Dreifaltigkeit: All das begriff ich erst später. Aber dass Jesus Mensch war wie wir, nur ohne miese Eigenschaften — das hingegen verstand ich sofort.

Wie war Jesus als Teenager? Bestimmt auch mal aufsässig oder unmotiviert. Aber er mobbte oder versetzte mit Sicherheit niemanden. Wie war Jesus als Schüler? Vielleicht nur mittelprächtig. Und doch verstand er mehr als jeder andere. Und als Arbeiter, als Zimmermann? Ich stelle ihn mir sehr zuverlässig vor, sehr gründlich. Aber niemals verbissen. Und kein Karrierist. Ich denke, wenn Jesus einfache Tische und Bänke für eine Taverne zimmerte, nahm er den Auftrag genauso ernst wie den, einen Palast auszubauen. Freundlich wird er gewesen sein, bescheiden, aber bestimmt. Jemand, der nichts und niemanden ausnutzte, der sich aber auch nicht ausnutzen ließ. Ein Vorbild durch alle Zeit, bis heute.

Und nun feiern rund 2,2 Milliarden Christinnen und Christen in zwei Tagen seine Geburt, weltweit: Seine heutigen Handwerkskollegen feiern ihn, der Papst feiert ihn, arme Menschen und reiche, manche allein, andere in Gesellschaft. Es gibt Darstellungen, die das Christuskind in Königsgewändern zeigen, mit allem Prunk und Gold. Es gibt Darstellungen, die das Christuskind in absoluter Armut zeigen: Im Stall, mit einem Lumpen als Windel; seine Eltern als einfache Leute, ohne Gold, ohne Heiligenschein. Und tatsächlich mag ich beide Betrachtungsweisen.
Ich finde es schön, in dem armen Kind den Himmelskönig zu sehen. Und in dem König das arme Kind.

Ich bin kein Theologe. Ich weiß mich nicht besonders schlau zu Weihnachten zu äußern, tatsächlich bin ich nicht einmal besonders bibelfest und schnorre mir mein Wissen bislang bedarfsweise bei befreundeten Theologen zusammen. Aber das Schöne an genau diesem Weihnachten ist, dass ich es vielleicht nicht besser verstehe, aber doch mehr fühle als alle anderen Weihnachtsfeste zuvor. Es liegt so etwas Beruhigendes darin, so ein Frieden. Ja: Ich fühle mich weihnachtlich.
Ich fühle die Hoffnung, die dieses arme Kindlein uns immer wieder aufs Neue bringt. Das arme Kind, dass damals für so viele ein Nichts gewesen ist. Und das heute für so viele Alles ist. Ich fühle die Erlösung, die Gnade und Vergebung, die uns das Fest verheißt: Gott ist barmherzig, auch wenn es die Menschen nicht sind. Und Weihnachten bringt auch dem Traurigsten, der an die Botschaft glaubt, einen Grund zur Freude, denn niemand ist allein, der Jesus einen Platz frei hält. Nicht einmal die eigene arme Hütte muss einen da beschämen — denn diesbezüglich ist ER, der sein Leben in einer Krippe begann, ja nun wirklich alles gewohnt. Was sollte IHN da eine billig möblierte Einzimmerwohnung stören oder ein Würstchen mit Kartoffelsalat statt Festmenü?

Vielleicht ist meine Vorstellung von Jesus noch immer kindlich. Aber ich glaube daran, dass er dort gerne einkehrt, wo er willkommen ist und wo man ihn freundlich empfängt. Und ich mag die zentrale Botschaft Christi, die radikale Nächstenliebe, selbst wenn ich oft weit davon entfernt bin.
Tatsächlich finden auch etliche meiner eher kirchenfernen Freunde — sogar jene, die sich als Atheisten bezeichnen würden — : Dieser Jesus, das war ein Guter.
Vermutlich hätten sie ihm, damals auf der Baustelle, auch mal einen ausgegeben.Bildschirmfoto 2018-12-22 um 20.42.20

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, allen Freundinnen und Freunden gesegnete Weihnachtstage und einen gesunden Start ins neue Jahr!

Gaudium et spes

„Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der frühere Himmel und die frühere Erde waren vergangen. Und auch das alte Meer, die dämonische Unheilsmacht, war nicht mehr da.“ (Offb.Joh.21,1.)

Nach aufwühlenden Tagen, Wochen, Monaten wird es Zeit, das noch immer tosende Meer in mir zur Ruhe zu bringen. Exerzitien in Schweigen stehen an; auf Empfehlung eines Beichtvaters, aber auch aus ureigenstem Wunsch, obwohl ich nicht genau weiß, was mich erwartet — schließlich sind es die ersten Exerzitien meines Lebens.
Angst habe ich nicht. Es herrschen Hoffnung und (Vor-)freude.

Das Exerzitienhaus liegt in der Nähe meines Geburtsortes auf einer Anhöhe. Durch das große Fenster in meinem Zimmer fällt der Blick auf Bäume; darunter eine Ahnung vom See, an dem ich viele Kindertage verbrachte.
„Das spült sicher auch viele hässliche Dinge frei“ unkt jemand über das Exerzitienvorhaben, „Das wird wehtun.“ Vermutlich ja. Aber wenn man alles jahrzehntelang frisst, vergiftet es einen. Und wo ließe sich besser seelisch Entmisten als in geschützter Umgebung, umsorgt und fern vom Alltag?

Im lichtdurchfluteten Atrium der Anlage plätschert ein Springbrunnen, eine rosenumkränzte Pergola leitet als eine Art Kreuzgang den Weg zur kleinen Seminarkirche, die sich im Innenraum deutlich großzügiger und heller präsentiert als vermutet. Es ist ein Ort zum Wohlfühlen. Ein Ort, um jener Art bedingungsloser und unendlicher Liebe nachzuspüren, die man ohnehin nur in Gott findet.

„Unruhig ist unser Herz, bis es in Dir ruht, O Gott.“

Dieses Zitat stammt vom heiligen Augustinus (354-430 n.Chr.), den mir ein weiterer Beichtvater zur näheren Beschäftigung ans Herz legte. Ich würde, als Spätberufener mit wildem Vorleben, einige Parallelen in dessen Lebenslauf finden, sagte er mir. Und Augustinus’ Beschäftigung mit dem Ideal der reinsten Liebe könnte mir ebenfalls gefallen. Von einem „unruhigen Herzen“ indes kann ich schon jetzt mehr als ein Lied singen, folglich soll dieses Wort des afrikanischen Gelehrten meine Exerzitien einläuten — und stetig läutend begleiten.

Ich finde das Zitat in einem kleinen Büchlein, das ich am ersten Abend im Wintergarten des Hauses lese. Es ist immer noch brütend warm, weit über 30°C. Ein Kaltgetränk schafft Abhilfe. Man kann sich die Flaschen auf Vertrauensbasis aus einem Kühlschrank nehmen und das Geld in eine Schachtel legen, die nicht einmal irgendwo angekettet oder videoüberwacht ist. Ein schönes Zeichen in einer durchkapitalisierten Welt voller Misstrauen. Erneut fühle ich: Dies ist ein guter Ort.

Kurz darauf treffe ich beim Abendessen auf die Gruppe. Beim Essen darf man noch reden, man soll sich kennenlernen. Frage mich zwar wozu, wenn man mit diesen Menschen in den kommenden Tagen doch ohnehin Schweigen wird, aber vermutlich lässt es sich auch non-verbal Fremdeln, ergo höre ich mir ein paar Lebensläufe an und erzähle das Nötigste, wo gefragt wird.
Das, was mich wirklich bewegt, hebe ich für das Einzelgespräch mit der Seelsorgerin auf: Eine warmherzig und offen wirkende Person mit entzückendem osteuropäischem Akzent und interessanter Biografie; souverän und sanft zugleich. Aus einem Stapel Postkarten mit Wörtern wie „Geduld“, „Mut“, „Geborgenheit“ und Ähnlichem soll ich spontan eine wählen, die mich am ehesten anspricht und auf das weist, warum ich hier bin.
Ich wähle „Vertrauen.“

Auch das ist ein guter Anfang, und so beschließe ich den ersten Exerzitientag gelöst und friedlich. Es ist erstaunlich still ums Haus, fast stiller als auf Langeoog. Bis auf das Rauschen der Straße ist kein Menschenlärm zu hören. Niemand plappert. In den Bäumen rauscht Wind, im nahen Wald meldet sich ein Kauz. Vögel singen; im Hof kann man sogar das Geräusch zu Boden fallender Rosenblütenblätter vernehmen.

***

„Unsere Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Zugehörigkeit und einer Nähe, die für immer geschenkt wird, kann kein Mensch oder Ding füllen.“

Mit diesem Zitat, dessen Quelle ich leider nicht erinnere, beginne ich den zweiten Tag. Wider Erwarten war ich bereits weit vor der Morgenandacht wach; von alleine und ausgeruht. Wie gut es tut, sich um nichts kümmern zu müssen! Und wie gut tut mir das Schweigen. Gemeinschaft ohne Smalltalk. Und schon beim Frühstück stelle ich fest: Menschen erzählen viel ehrlicher von sich, wenn sie nichts sagen. Wer lächelt, wer hält einem die Tür auf, wer seht einen freundlich an? Sich hinter Floskeln und Worten zu verstecken ist so leicht, denke ich. Ich mache mich selbst oft genug schuldig daran, wenn auch eher schriftsprachlich. Der Mensch, den ich liebte? Vielleicht liebte ich doch nur seine Worte. Was davon, denke ich nun, war aber wirklich er? Was würde bleiben, wenn er schwiege? Aber ich will nicht mehr an ihn denken. Meine Liebe gehört hier Gott.

Im Schatten einer Lärche verfasse ich zwei Gedichte. Sie kommen einfach so, ich feile kaum daran herum. Dankbar für Kunst und Worte streichele ich die weichen Nadeln des Baumes und seine Rinde, die sonnenwarm ist. Sie riecht nach Harz. Ich fühle Heilung.

„Ich selbst bin die Spur, die mich hinführt zur Erfüllung meiner tiefsten Sehnsucht“.

Die Spur, auf der ich wandelnd über dieses Zitat einer Eremitin nachdenken möchte, ist steil und flankiert von Brennessel- und Brombeerdickicht. Links und rechts daneben erstrecken sich Felder hoch über dem Ruhrtal, versprengte Waldinseln dazwischen; aus der Ferne ragt die Basilika mit ihrem grün oxidierten Kupferdach.

Doch die Idee, an einem schwülen, heißen Tag wandernd in Dialog mit Gott zu treten, erweist sich schon bald als bescheuert. Die Straßen rund um das Haus heißen alle etwas mit -berg oder -höhe: Ich hätte etwas ahnen können. tatsächlich wird der Ansteig immer anstrengender, der Weg immer steiler und ich verfluche das Vorhaben, kaum, dass ich es begann.
Zum Glück sieht mich keiner, denke ich, war ja klar, dass der Typ aus dem platten Ostfriesland an jedem Hügel schon aus dem letzten Loch pfeift. Indes: Mir wurde am Ende der Straße ein Wald versprochen und so quäle ich mich noch eine Weile, dann aber gebe ich auf. Beim Abstieg leiden meinen Knie sehr. Und das nächste sportliche Desaster folgt.
Qi Gong im Park steht auf dem Plan, und die Kursleiterin kann das sogar korrekt aussprechen. Als studierter Ostasienwissenschaftler habe ich mich zwar nie in diesem Berufsfeld bewegt, aber auch 20 Jahre nach dem Diplom graust es mir zuweilen noch bei der Verballhornung chinesischer Begriffe und ihrer Vereinnahmung durch diverse Zweige der Esoterik. „Diplom verpflichtet“ denke ich daher leider nicht nur bei der Aussprache, sondern auch bei der Ausführung der Übungen und mache etwas überambitioniert mit. Zusammen mit den Malaisen durch den gefühlt hochalpinen Ausflug zum Waldrand meutert mein Knie danach endgültig und ich schleppe mich in der Position „verendender Kranich“ eher mittelelegant vom Feld.

Nach dem Abendessen ereilt mich ein toter Punkt: Der Tag war lang. Aber es steht noch ein Gottesdienst an, also gehe ich hin, wenn auch unter Eingeständnis, dass ich die Augen nicht nur aus Frömmigkeitsgründen kaum offen halten kann.
Wir sollen in uns gehen und überlegen, wie unser Tag war, welche einzelnen Worte aktuell umreißen, wie es uns geht; wie es uns ging mit Gott. Ich bin außerstande, etwas spirituell Beseeltes zu denken. Ich denke „müde“ und „aua“. Denn außer den Knien berichten nun auch Nacken und Arme vom Qi Gong.
Als wir jedoch reihum laut aussprechen sollen, was unserer Erleben beschreibt — in einem einzigen Wort — höre ich mein Herz ein Wort sagen, bevor ich es denken kann: „Gnade“.
Na toll, denke ich. Meine ersten Exerzitien als Katholik. Ignatianische, katholische Exerzitien. Und das erste Wort, das mir als Resümee einfällt, könnte lutherischer nicht besetzt sein.
Sola gratia.
Allerdings geht dieser Kernbegriff der Reformation wiederum auf Augustinus zurück, der um den Satz „Alles ist Gnade“ seine Gedanken zur Demut häkelte — und Luther war schließlich Augustinermönch. Ein weiterer Kreis, der sich schließt: Ich freue mich darüber.

***

„Ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter meinem Dach. Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“

Am dritten Tag hat es endlich geregnet. Dankbar reiße ich am Morgen nach einer unruhigen und unschönen Nacht voller Albträume und durch die Schwüle gestörten Schlafs das Fenster auf. Ich bin todmüde und es dauert lange, bis ich die Nacht hinter mir lassen kann. Beim Morgengebet bin ich entsetzlich unkonzentriert. Ich verstehe das nicht: Gestern so en wundervoller Tag, voll Zuversicht und neuem Mut. Und dann die Nacht, die einen zurückwirft ins Bodenlose, mit erlebten Demütigungen, die noch immer an einem nagen und die man wieder und wieder im Traum ertragen muss, samt all der Gefühle, die sie aufwerfen wie ein Bagger, der mit dem aufgewühlten Morast vom Grund das schöne, klare Wasser eines Sees versaut, und man weiß, dass es dauern wird, bis sich das Sediment wieder setzt. Wie schön wäre es doch, diesen Morast ein für alle Mal aus der Seele heben und vernichten zu können! Aber so wie ein See ohne Schlamm, Steine und Erde auf dem Grund nur ein seelenloses Schwimmbecken wäre, ohne einen Halt für die Wurzeln der schönen Uferpflanzen, ohne Nahrung für alles was darin wohnt, wäre wohl auch eine Seele ohne Morast nicht wirklich ein Lebensraum.

„Gefühle sind nicht per se gut oder schlecht, Gefühle sind erst einmal einfach da“, sagte mir unsere Inselseelsorgerin einmal, aber es ist wohl bei jedem so, dass man einige davon lieber hat als andere. Nichtsdestotrotz zeigen einem vielleicht gerade die eher „ungewollten“ Gefühle, woran es sich noch zu arbeiten lohnt.

Im Lesesaal finde ich ein Bändchen zweier Benediktinerpatres mit dem Titel „Christus im Bruder“, in dem es um Verzeihen, Versöhnen, dem Umgang mit schwierigen Mitbrüdern und -schwestern geht. Ich finde viel Wertvolles darin und kaufe es mir.

Allmählich weicht der Albtraum; Hoffnung und Leichtigkeit kehren zurück. Das Seelsorgegespräch am Vormittag spendet Trost und tut mit frischen Impulsen ein Übriges dazu, um das Grübeln und Grämen zu beenden. Mit einer konkreten Gebetsanleitung und einer Bibelstelle zum Nachsinnen verlasse ich das Seelsorgebüro und spüre einmal mehr, wie gut es tut, auch einmal die Dinge aus der Hand zu geben.

Die Bibelstelle, von der ich zunächst dachte, dass sie keinen Bezug zu meinem Leben hätte, passt schon nach wenigen Minuten näherer Betrachtung wie ein Handschuh. Ich staune: Die Menschen hier können ihren Job. Und ich spüre, wie sehr ich noch am Anfang von allem stehe. Empfinde ich das als Defizit? Nein. Neues zu lernen ist schön. Und alles, was den eigenen Gedankenkreisel durchbricht, auch.

Im Atrium hat das nächtliche Gewitter den Rosenduft intensiviert. Die Tropfen an den Blüten und Ranken unterstreichen ihre Schönheit.
Ich genieße den Regen, der klare Luft bringt, kühlt und reinigt. Klarheit: Das ist meine Sehnsucht.

„Eine Linde ist mein Lieblingsbaum
Und alle Sommer, welche in ihr schweigen
rühren sich wieder in den tausend Zweigen
und wachen zwischen Tag und Traum“

Auch Rilke konnte sich der Faszination „Bäume“ nicht entziehen. Sein wunderschönes Gedicht mit dem Lindenbaum, das ich hier auszugsweise zitiere, fällt mir ein, als ich barfuß das regennasse Gras im Park des Exerzitienhauses durchstreife. Ich weiß nicht, wie lange ich nicht mehr barfuß durch eine nasse Wiese schritt. Es ist ewig her und es ist wunderschön. Zugleich kann ich mich an den mächtigen Baumkronen über mir nicht sattsehen. Denn Bäume, richtig alte, hohe Bäume, sind das Einzige, was ich wirklich vermisse auf Langeoog. Ich liebe Bäume. Tief verwurzelt und doch sich öffnend zum Himmel und in die Welt — Möchte ich nicht selbst so sein? Ein Menschenleben ist gemessen am Alter einiger dieser Baumriesen nur ein Wimpernschlag. Diese hier sahen die Stadt brennen im Krieg, und als das Ruhrgebiet noch Glanzzeiten hatte, flanierten unter ihren schattenspendenden Zweigen reiche Industrielle.
Heute tapse ich darunter herum und habe die Bäume lieb.

Der vorletzte Exerzitientag endet. Ich beschließe ihn in Frieden, mit einem letzten Gebet um eine traumlose Nacht.

***

„Wechselnde Pfade / Schatten und Licht / Alles ist Gnade / Fürchte dich nicht.“ (Baltischer Hausspruch)

Vierter Tag. Ich schlief so tief wie lange nicht und erwachte rechtzeitig ohne Wecker. Erst gegen Morgen träumte ich: Zwar wieder nichts, was man als schön bezeichnen könnte, aber es war kein quälender, unkonstruktiver Albtraum, der einem noch den ganzen Tag nachhängt. Vielmehr war der Traum ein Hinweis auf einem Bereich, in dem ich noch mehr auf meine Grenzen achten sollte. Gott räumt hier auf in meiner Seele: Ich spüre es deutlich. Ich bin dankbar dafür und bei der Morgenandacht klar, wach und konzentriert. Ein Zustand, der bei mir angesichts der Uhrzeit alles andere als selbstverständlich ist.

Eine Frau aus der Gruppe hat Geburtstag. Wir wissen das, weil sie es bei der Ankunft erzählt hat. Die Kursleiter überreichen ihr eine Rose in einer kleinen Vase, noch taufeucht aus dem Atrium. Ich finde die Geste schön und alle nicken ihr freundlich zu und lächeln oder machen eine kleine Verneigung. Sprechen wollen wir ja nicht.
Die Frau lächelt zurück. Aber beim Frühstück weint sie. Die Rose steht vor ihr. Ich bin der einzige, der das sieht, weil nur ich ihr gegenübersitze, und natürlich würde ich sie gerne trösten, ihr wenigstens ein mitfühlendes Lächeln schenken, aber sie sieht nicht her. Indes sehe ich aber auch, wie sehr sie sich zusammenzureißen bemüht; ein Beben geht durch ihren ganzen schmalen Körper und sie kämpft sichtlich gegen das aufsteigende Schluchzen. Kein Laut entweicht ihr, aber die Tränen rinnen in zwei klaren Bächen ihre Wangen hinunter und tropfen auf ihr schönes Oberteil, das sie zu diesem Tage sicher besonders sorgfältig wählte.
Vermutlich möchte sie nicht, dass es jemand mitbekommt, denke ich. Also blicke ich nur in Sorge zu ihr und reagiere nicht weiter. Kurz darauf versiegen ihre Tränen. Leid tut sie mir trotzdem: Ich kenne das Traurigsein an Geburtstagen. Das unvermeidliche Bilanzieren. Aber vielleicht hat das Weinen bei der Frau ja auch ganz andere Gründe. Ich kann das nicht wissen, denn wenn ich eines im Umgang mit anderen Menschen gelernt habe, dann diese goldene Regel: Ich bin nicht du. Und vice versa. Alle An- und Mutmaßungen über Motivation und Befindlichkeit anderer sowie Ratschläge im Sinne von „Wenn ich du wäre, würde ich …“ erübrigen sich damit. Und auch langjährige Partner sollten sich das ab und zu sagen, bevor sie die Sätze des significant other vorschnell ergänzen.

Später singen wir einen wunderbaren Kanon: „Wechselnde Pfade / Schatten und Licht / Alles ist Gnade / Fürchte dich nicht.“ Wir haben gute Sängerinnen und Sänger in der Gruppe, dadurch klingt es sehr schnell sehr schön, und sogar meine Stimme — sonst eher dünn und nichts, worauf ich stolz bin — ist heute erstaunlich volltönend, obwohl ich sie hier außer zum Singen für nichts benutze. Es überrascht mich ebenso, wie es mich glücklich macht. Aber der Text kommt auch aus tiefstem Herzen: Ich mag den Begriff der Gnade, insofern hatte Beichtvater Nr. 1 in Sachen Augustinus wohl wirklich den richtigen Riecher — und zugleich versöhnt es mich mit meiner lutherischen Vergangenheit.

Alles ist gut. Wie ich diesen Spruch „Alles wird gut“ im Fernsehen und als platte Floskel immer verabscheute, wie zynisch ich ihn fand angesichts all des Grauens in der Welt. Das vage Versprechen auf ein „wird“ finde ich immer noch mau. Was soll ich damit? Aber hier fühle ich es im Präsens: Alles ist gut. Das Grauen in der Welt tobt unbeirrt weiter, natürlich. Auch hinter Klostermauern wird man für das Draußen nicht blind. Aber das Gute ist trotzdem auch da, immer noch, und es gibt Menschen, Orte, Werte, die es nähren und erstarken lassen.
Es ist ein Segen, sich darauf einzulassen.

„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.“ (Dietrich Bonhoeffer)

Am Nachmittag hört der Regen auf und es wird schlagartig wieder warm. Ein Spaziergang führt mich (dieses Mal ohne Anstieg) entlang am Rande der Felder. Auf den vom Regen gebeugten Grashalmen liegen die Tropfen wie Glasmurmeln in einer Schale. Wie vollkommen die Schöpfung ist, denke ich, und möchte mich alle zehn Meter auf den Boden werfen vor Ehrfurcht.
Nacheinander kommen mir zwei Spaziergänger mit ihren Hunden entgegen. Sie machen mir Platz, lächeln und grüßen freundlich. Menschen können ja nett sein, denke ich. Ich hatte das fast vergessen. Aber vielleicht, ahne ich, hat sich ja auch etwas an mir geändert, an meiner Ausstrahlung. Vielleicht habe ich mich ja auch seit Langem wieder einmal getraut, jemanden wirklich anzusehen.
Auch das heutige Seelsorgegespräch zeigt mir: Hier passiert etwas, es bewegt sich. In der Stille wächst die Empfänglichkeit: Für das eigene Herz, die Seele, den Ruf Gottes.

Beim letzten Abendgottesdienst bin ich es, der heult. Selbstverständlich möchte ich das ähnlich würdevoll erledigen wie die Dame heute Morgen, aber ich habe kein Taschentuch dabei. Also muss ich mich während der Andacht rausschleichen, um in der Sakristei in ein Tuch zu tröten: vermutlich nicht ungehört.

Aber ich bin nicht traurig. Im Gegenteil. Während der Exerzitientage fühlte ich etwas heilsam in mir aufweichen, was nicht gleichzusetzen mit einem schwach werden oder gar verletzlicher werden ist. Eher: Weich genug, damit Belastendes entweichen kann. Weich genug, damit sich Herz und Seele wieder in Form bringen lassen und Risse darin zugestrichen werden können. Und weich genug, um wieder zu lieben: Trotz aller Verletzungen.
„Sieh, das Lamm Gottes!“ — Dem Menschen, der das vor etwa zwei Jahren zu mir sagte und der mich letztlich nach Hause brachte, gilt dafür meine Achtung und Dankbarkeit. Doch ich kann seine Hand nun loslassen, denn ich weiß: Es gibt einen anderen, der sie hält.

„Keep giving all the love you can.“ (Tammy Wynette)