Waldkapelle

Das Laute dringt in die stille Welt
Gefällte Bäume ruhen über Toten
Kapelle, gebaut von blutenden Händen

Hinter der schweren Eichentür hält
Maria das Kind im Arm, im Korb
Nur leergebrannte, kalte Kerzen

„Bitte für uns“ sagt das Fensterglas
Wer darum bat, ist auch schon tot
Der Putz weint eisige Tränen.

MDO, Januar 2019

 

 

Momentaufnahme, Herzensgeiz

„Leider sprechen hier viele Wirte kein Deutsch und sind frech. Ich gebe sonst gern, aber jetzt nicht mehr.“ — Das steht im Fürbittbuch unserer Kirche; ich musste dreimal zurückblättern und nachlesen, aber es ist das Fürbittbuch, ganz sicher. Und diese beiden Sätze finden sich zwischen Dankesgebeten und herzzerreißenden Appellen wie „Liber guter Got, bitte mach die Omi gesunt“ in krakeliger Kinderschrift, einem „Herr, bitte pass mir auf meinen lieben Günther auf, ich vermisse ihn so sehr“ in der Schrift einer Dame, der man das zu Schulzeiten erlernte Sütterlin noch ansieht, oder „Heilige Maria, bitte gib mir Kraft für die Chemo.“

Nun also diese eigenartige, nicht einmal an Gott, Maria oder einen Heiligen adressierte Beschwerde. Ich drehe und wende die Motivation des Schreibenden in meinem Hirn, aber ich kann damit einfach nichts anfangen. Wusste dieser Mensch nicht, was ein Fürbittbuch ist? Was will dieser Mensch von Gott? Absolution für seinen Geiz? Für seine Ungeduld mit Menschen, deren Muttersprache kein Deutsch ist? Oder einfach nur Nörgeln?

Unweigerlich denke ich an meine Leidensjahre in der Gastronomie hier auf Langeoog zurück. Ich kenne diese Sorte Gast. Mit der Frage (eher: anmaßenden Unterstellung) „Sie wollen doch Trinkgeld“ wurde ein Sermon an Sonderwünschen eingeleitet, gerne in breitestem Dialekt und in verschwurbelster Grammatik, garniert mit im Rohr krepierenden Zoten, Witzchen und Anspielungen, sodass man als Muttersprachler schon kaum hinterherkam. Parierte man dann nicht binnen Nanosekunden mit zuckersüßenstem Lächeln und „Jawohl, sehr, sehr gerne“, weil man den Sermon im Hirn erst aufdröseln und überdies die einleitende Demütigung mit der unterstellten Trinkgeldgeilheit verdauen musste, schoss einem sofort ein speichelsprühendes „SIE KÖNNEN WOHL KEIN DEUTSCH?????!!!!!“ entgegen.
Mit einem ostpreußischen Namen auf dem ans Revers gehefteten Schild konnte man dann manchmal so tun, als verstünde man wirklich nicht und den Gast an KollegInnen verweisen, die das Pech hatten, Müllermeierschmitz zu heißen.

Wo sollte man bei solchen Leuten auch anfangen? Ihnen erklären, dass das Trinkgeld eh in einen großen Topf kommt, den man am Ende einer brutal langen Schicht mit der Küche und allen Angestellten teilt, wo’s dann vielleicht für ein Eishörnchen für jeden reicht, sofern es nicht gleich die Geschäftsführung einsackt? Es besteht kein Rechtsanspruch auf Trinkgeld, und versteuern muss man das Eishörnchen übrigens auch noch. Soviel dazu.
Und kann man solchen Leuten erklären, dass sie einen wie Prostituierte behandeln, wenn sie meinen, alles mit einem machen zu können, nur weil sie einem „16,90? Ach, machen Sie mal 17“ oder abgezählte 20 Cent neben der Kaffeetasse in Aussicht stellen?

In der Gastronomie arbeiten Menschen. Keine Esel, die die Peitsche auf ihrem Arsch nicht mehr spüren, nur, weil man ihnen eine Möhre vors Maul hängt. 
Niemand muss Trinkgeld geben. Aber nur, weil man die „Macht“ dazu hat, dies zu tun oder zu lassen, muss man sich nicht aufspielen, als hätte man die Servicekraft zusammen mit dem billigen Schnitzel gekauft und ihre Würde dazu.

Leider erreicht man solche Leute in der Regel auch nicht damit, dass man sie darüber aufklärt, was für Zumutungen Menschen in dieser Branche für um die 1000 Euro netto — seitens Gästen, Vorgesetzten, KollegInnen — über sich ergehen lassen müssen: Von sexueller Belästigung und Übergriffigkeiten, maßlosen Forderungen und Cholerik, Gewaltandrohungen, Mobbing und Diskriminierung über die unmenschlichen Arbeitszeiten in der Hochsaison, wenn es Krankheits- und sonstige Ausfälle zu kompensieren gilt bis hin zu den alltäglichen Ekelhaftigkeiten wie vollgeschissenen Zimmern oder unter die Frühstückstische geklebten Popeln. 
Man möge mir die drastische Schilderung verzeihen: Aber so war es.

Indes, wieviel Mitgefühl es dafür seitens der Gäste gibt, illustriert wohl am Besten das Erlebnis, in dem ein wohlsituierter Herr seinen Enkel bei der Hand nahm, ungeniert auf mich zeigte und laut sagte: „Siehst du, deswegen ist es wichtig, dass du in der Schule was lernst. Dann musst du nicht so einen Job machen.“ Wer ihm dann von früh bis spät seine Sonderwünsche erfüllt, wenn keiner mehr „so einen Job macht“, fragte ich aber lieber nicht.
 Vermutlich erzählt jener Herr, wenn er das nächste Mal sein Wahl-Kreuzchen bei irgendeinem wirtschaftsliberalen Haifischbecken macht, aber zugleich, dass, wer Arbeit will, gefälligst nehmen soll was da ist bzw. wozu das Arbeitsamt ihn zwingt und nicht herumjaulen, nur weil er irgendwann mal was anderes gelernt hat.

Aber kommen wir zurück zum Fürbittbuchschreiber.
„Sind frech“ ist in sehr vielen Fällen hier ein quid pro quo, und natürlich streitet niemand ab, dass es auch im Servicebereich ausgemachte Arschlöcher m/w gibt. (Ansonsten würden sich in den Betrieben ja auch nicht die Fälle von Mobbing, Denunziation etc. häufen.) Wird zugleich aber das mangelhafte Deutsch kritisiert, so wage ich anzudeuten, dass man sich in einer Fremdsprache oft zunächst rustikaler ausdrückt als beabsichtigt, denn um irgendwelche Zwischentöne und diplomatischen Andeutungen in einen Satz flechten zu können, muss man die Sprache schon sehr gut beherrschen. Auch kulturelle Ansprüche an Bescheidenheit spielen eine Rolle.
Ich erinnere einen Fall, wo ich mich als Student im vierten oder fünften Semester Chinesisch entsetzlich blamierte. Ich wurde im privaten Umfeld von einer älteren chinesischen Dame gefragt, ob ich die Sprache spräche. ich antwortete „hai keyi“, was „geht so“ heißt, in Deutschland meint man damit meist: „Naja, eher so nicht so toll.“ Für Chinesen war es entsetzliche Angeberei. Das ging mir auf, als ein chinesischstämmiger Kommilitone, in Deutschland geboren, aber des Chinesischen weitaus fließender mächtig als ich, auf dieselbe Frage mit „bu hao“ antwortete, was schlicht „nicht gut“ bedeutet.
So also kann man sich in Fremdsprachen auch bester Absicht vollkommen zum Obst machen — überflüssig zu erwähnen, dass ich auch nach Abschluss der Auslandssemester in der VR China und Befähigung zur Lektüre der Renmin Ribao sowie der gesammelten Werke des Großen Vorsitzenden noch kontinuierlich mit „bu hao“ auf die Frage nach dem Stand meiner Chinesischkenntnisse antwortete: Man lernt.
(14 Jahre nach Abschluss des Studiums, ohne je als Ostasienwissenschaftler tätig gewesen zu sein, bin ich überdies bei „bu hui“ („kann ich nicht“) angelangt — Dies in aller Unbescheidenheit!)
Geduld und ein wohlwollendes Zuhören wären also gerade bei Nicht-Muttersprachlern angezeigt.

Nun will ich das Richten dem Herrgott überlassen, aber mich hat dieser Eintrag im Fürbittbuch doch sehr verstört. Ist unsere Gesellschaft denn nur noch von Neid, Missgunst, Unzufriedenheit, Fordern, Gier und sonstigen Geschwüren des Ichichich zerfressen?
Ist sie nicht; dafür muss man nur die vielen dankbaren und herzensguten Einträge im Fürbittbuch lesen oder sich unter seinen Freunden und in der Familie umsehen.Dennoch macht mir die zunehmende soziale Kälte zu schaffen. Ich nenne das Herzensgeiz. 
Von meinen Eltern wurde ich zur Großzügigkeit erzogen: Wir geben gern, auch wenn wir selbst nicht viel haben. Und auch, wenn das oft ausgenutzt wird. Wir geben: Materiell und Immateriell. Zeit, Fürsorge, Vertrauen. 
Ich liebe verschwenderisch, gebe und vergebe mehr, als mir gut tut. Aber manchmal glaube ich, damit nicht in diese Zeit zu passen, nicht in diese Welt.

Ich habe ein Problem mit Geiz. Irgendwann hatte ich einen krankhaft geizigen Freund, der in Restaurants die Papierservietten in Lagen teilte, davon eine benutzte und die anderen einsteckte, damit er noch hat für später und alles hamsterte, was irgendwo umsonst zu kriegen war. Der einem zuhause das Klopapier rationieren wollte, ebenso wie das Essen: Man sei ja sowieso zu fett. Als ich in einem Urlaub bei brütender Hitze dann vor Hunger in Ohnmacht fiel, war ihm das peinlich, aber nicht wegen seines Geizes, sondern „wegen der Leute“, von denen aber immerhin gleich welche angeschossen kamen, mir kaltes Zuckerwasser einflößten und meine Hand tätschelten, während er nur genervt danebenhockte und mir später Aufmerksamkeitssucht unterstellte. Dass dieser Mensch nicht nur materiell (trotz hohen Einkommens), sondern auch emotional geizig war, muss ich wohl nicht eigens erwähnen.
Nach der Trennung von dieser Person litt ich eine Weile an Verschwendungssucht; man muss kein Psychologe sein, um zu wissen, warum. Das hat sich — deo gratias — gelegt, aber ein Erbsenzähler werde ich nie, zumindest nicht, was Geld angeht.
„A gentleman does not even know his bank balance“ sagt Jude Law als Lord Alfred Douglas in der wundervollen Verfilmung von „Oscar Wilde“ mit Stephen Fry, und mir geht es meistens genauso. Dutzende verstaubende Haushaltsbücher, bei denen ich nicht über eine Seite hinauskam, singen davon ein einsames Lied.

Die Natur vor meinem Fenster kennt auch keinen Geiz. In verschwenderischer Sommerfülle wogen Dünengras und Felder, eine Freundin erzählt von der üppigen Obsternte in ihrem Garten. 
Die Welt bietet jeden Tag so viele Anlässe, um sein Herz zu öffnen. So viele gute Dinge bekommen wir geschenkt: Schönheit, Freundschaft, Gesundheit, Leben. 
Es nimmt uns nichts, auch etwas zu geben.

Momentaufnahme, Winter

Es ist warm, beinahe frühlingshaft. Und doch ist November.
Kriechkiefern klammern sich an sandige Dünenränder. Entlaubte Brombeerranken strecken sich mit ihren Dornen wie dürre, warzige Finger über den Radweg. Die Sonne wärmt noch immer und taucht die Landschaft am späten Nachmittag in Rot und Gold. Das Gras zu meinen Füßen, über das auch leise schnatternde Graugänse watscheln, hat nichts von seinem sommerlichen Sattgrün eingebüßt: noch nicht.
Es ist ein schöner Tag, und so zieht es mich in die Natur, weil man so ein Wetter nicht umkommen lassen kann, egal ob man in Ausflugslaune ist oder nicht.
Schließlich kann es nun täglich umschlagen, und aus der milden, blaubehimmelten Pracht werden viele Monate kalter, karger Dunkelheit.
Über der Melkhörndüne, Langeoogs höchster Erhebung, ballt sich eine Wolke in reinstem Weiß. Unten, in Richtung Süden, breitet sich die See hinter den Salzwiesen wie ein silberfarbener Spiegel, darüber die Umrisse der Windräder auf dem Festland. Im Norden tost das noch immer sturmbewegte Meer: Von der Melkhörndüne aus sieht man das Wasser zu allen Seiten.

Der Wind weht heute nur frisch; es ist gut auszuhalten hier oben. Die Böen spielen mit meinem Schal, streichen über die Haut, verwirbeln die Haare. Die Natur kennt keine Berührungsängste, und ich wünschte, es wäre mit den Menschen ein wenig anders.
Manchmal, denke ich, hadere ich ja doch damit, maximal noch intellektuell von Interesse zu sein. 
Man lernt damit zu leben, in erotischer Hinsicht tot für den Markt zu sein, aber zuweilen hätte man ja auch als mittelalter Mann noch gerne, dass einen zumindest mal einer in die Arme nimmt. Dass man für irgendjemanden mal Prio A auf dem Stapel ist. Es ist schwer, diese Form von Bedürftigkeit zuzugeben, man schämt sich. Aber so sei es, denke ich. Wenn Gott das will, hat es seinen Sinn, und es ist nicht zu hinterfragen: SEIN Wille geschehe.
Wie hätte ich, als ich mich noch als Agnostiker bezeichnete, getobt über einen solchen Satz! Eine Ausrede für Denkfaule — Denn ist es nicht allzu leicht, sich alles und jedes im Leben mit Gottes Willen zu erklären? Ist das nicht ähnlich unbefriedigend wie damals, als man als Kind auf Fragen nach dem „Warum?“ oft nur ein „Darum!“ als Antwort erhielt? 
Aber es liegt auch viel Beruhigendes darin. Denn auf manche Themen im Leben, so lernt man, gibt es einfach keine Antworten. Vieles im Leben ist und bleibt unerklärlich. Und die Liebe gehört zweifelsohne dazu. Ich werde keine Antwort dafür finden, warum es davon in manchen Leben überreichlich gibt und in anderen Leben zumindest konventionelle Formen von Liebe überhaupt nicht oder nur in hömoopathischen Dosen stattfinden. Also, schlussfolgere ich, kann ich es auch gleich so sehen: Gott will es so. Und dann muss mir SEINE Liebe reichen.

Ein paar Regentropfen fallen plötzlich wie aus dem Nichts aus dem Himmel, in Ostfriesland ist das oft so. Sie versickern im sandigen Untergrund, kaum, dass sie fielen, ein paar glänzen noch Sekundenbruchteile in Zweigen wie eilig drapierter Weihnachtsschmuck: Auch dieses Fest ist jetzt nicht mehr weit.
Ich denke, dass Liebesglück meist ist wie diese kurzen Regengüsse: Da ist dann plötzlich dieses Gefühl von Geborgenheit, ein beiderseitiges Vertrauen, das man seit Ewig vermisste, diese Zärtlichkeit zwischen den Zeilen, ein hauchfeines Klingen von Zuneigung, ein Schimmer Hoffnung auf Ewigkeit oder zumindest viele Jahre. 
Für einen Moment wäscht dieses Glück einem dann den Dreck ab, löst die Krusten alter Verletzungen, enthüllt neue, rosige Haut, heilt, füllt, polstert. Und dann ist man eine Weile immun gegen all die kleinen Betrübnisse des Alltags, weil man ja seine Arme hat oder zumindest die warme Umarmung seines Trostes, die Stärkung seiner Worte am Telefon oder im Brief. 
Aber immer ist es zu schnell vorbei, aufgebraucht, verlebt, zerlebt, und das Glück versickert. Der Lieblingsmensch geht, empfindet nur Freundschaft oder liebt einen anderen, und man leidet, weil er nicht mehr da ist — oder zumindest nicht in der Form, in der man ihn gerne hätte.
Erneut wird Brachland aus der Liebe, durchsetzt von brackigen Tümpeln, von denen man wünschte, sie wären aus Tränen, aber Weinen kann schon Jahre nicht mehr.
Die Dürre bringt dann die Furchen zurück — in das noch gerade lächelnde Gesicht, in den Acker. Die zarten Hälmchen der Setzlinge, in deren kümmerlicher Gestalt man schon die prachtvollen Pflanzen des nächsten Jahres erkannt hatte und von deren Früchten man träumte, sinken zurück in die Erde, untergepflügt mit der nächsten Fuhre idiotisch-naiver Hoffnung. Und erneut erblödet man sich zu meinen, dass daraus mal irgendetwas wachsen könnte, obwohl man längst weiß, dass dieses ausgedörrte Stück Land einen niemals ernähren wird.

Die Aussichtsdüne füllt sich, die Leute wollen sich den Sonnenuntergang anschauen. Ich mache mich an den Abstieg: Zuviel Romantik für einen desillusionierten alten Mann.

Über Dreebargen ziehen Weißwangengänse. Ich denke an ein Lied von Robert Wyatt, in dem es übersetzt heißt:

Wir fühlen die Wärme Eures Atems nicht
an den eisigen Rändern der Erde
Ihr hört nicht den Rythmus unserer Rufe
in dem wir um Frühling beten

Auf dem Rückweg halte ich an der Kirche, um für einen erträglichen Winter zu beten. Fast alle Opferkerzenplätze sind besetzt; ein verglimmender Kerzenrest, angezündet für irgendjemanden, tropft laut in die Stille. 
Es ist kalt geworden mit Einbruch der Dunkelheit. Aber ich denke, dass es gut ist, dass ich jetzt friere. Denn so wird mir die Wärme meiner Wohnung willkommen genug sein: Willkommen genug, um kurz das Sehnen nach einer Art von Wärme zu vergessen, die ich mir selbst zu spenden nicht in der Lage bin.