Momentaufnahme, Kreuzfahrt III

Am nächsten Morgen, dem Tag der Rückreise nach Kiel, ist es diesig am Horizont. Regen peitscht an das Bullauge. Nichtsdestotroz schiebt sich die Sonne ungerührt als blassorangefarbener Ball über den Horizont; in zwei Hälften zerteilt durch ein violettes Wolkenband. Die Küste ist kaum zu erahnen.

Kurz gehe ich auf das Außendeck, aber als mich eine Böe fast von den Füßen holt, breche ich das Vorhaben ab und reihe mich überpünktlich vor dem Frühstücksrestaurant in die Wartenden ein. Als sich um 7 Uhr die Schiebetüren öffnen, wird gerannt, als ob es nie wieder Essen gäbe. Ein Mann rempelt die Frau vor mir grob an, sie meutert verständlicherweise; er dreht sich nicht einmal um. Ein anderer Mann schneidet mir dreist den Weg ab, als ich auf einen schönen Tisch zusteuere, und wirft seine Jacke in einer Weise über den Stuhl, wie ein Neanderthaler vermutlich das erlegte Mammut vor die Höhle warf: Animalische Wildheit und Triumph im Blick. Ich lasse dem Mitgeschöpf seine Beute und ziehe einen Tisch weiter; denn tatsächlich gibt es in dem riesigen Restaurant auch noch mehr freie Fensterplätze.

Das Servicepersonal ist, die nötige ruhige Autorität verkörpernd, freundlich und von beeindruckender Effizienz wie immer. Am Buffet, denke ich, offenbart der Mensch seine ganze Hässlichkeit. Aber darüber hat ja bereits Reinhard Mey einmal gesungen.

Ich esse bewusst nur magenfreundliche Dinge, denn nach der wirklich besten und professionellsten Massage meines Lebens am Vortag möchte ich den 24-Stunden-Pass für den schiffseigenen SPA noch einmal nutzen. Die große, brünette Physiotherapeutin von gestern tut auch an diesem Morgen Dienst. Sie spricht, wie wohl fast alle Menschen in Skandinavien, hervorragendes Englisch und vermutlich auch Deutsch, aber ich bin froh, selbst einmal wieder Englisch reden zu können und so belassen wir es dabei.
Schlimm genug, denke ich, dass viele meiner Landsleute das erstens gar nicht können und es zweitens (was schlimmer ist) auch noch dem Gegenüber zuschreiben, wenn der oder diejenige das grottige Englisch des deutschen Touristen nicht versteht. Notabene: „Wonn Koffi änt wonn Kakao!“ kommt nicht besser an, wenn man es in der Wiederholung brüllt. Und ein „please“ oder „thank you“ sollte man noch vor „coffee“ im Repertoire haben. Eigentlich.

Jedenfalls verbringe ich, nach einem kurzen Gespräch mit der netten Dame und ihrer ebenso unaufdringlich-freundlichen Kollegin, den Rest des Morgens im Jacuzzi dümpelnd. Vor mir tranieren zwei norwegische Hünen im Fitnessbereich. Ein Steward in dunkelblauer Uniform tritt hinzu und redet leise mit ihnen. Als sie ihm im Gespräch ihre Gesichter zuwenden, schätze ich die beiden auch schon auf Ende Dreißig, vielleicht sogar mein Alter. Möglicherweise gehören sie ebenfalls zur Belegschaft; in einem Bereich, für den man körperliche Fitness braucht, ich tippe auf Security. Für mich indes war das Erklimmen der Leiter zum Whirlpool schon genug des Frühsports, wiewohl ich die Männer natürlich ein bisschen um ihre Figur beneide. Aber: De nihilo nihil, wie schon Lucretius wusste.

Im Anschluss gehe ich in die Sauna; auch diese mit Blick aufs Meer. Sogar ein anderer Mann ist um diese Uhrzeit schon da, die Saunen sind hier geschlechtergetrennt. Aber er sauniert vorbildlich, im Gegensatz zu dem Ferkel, das hier am Vortag — ohne jedes Handtuch und in Badehose — ins Holz schwitzte und in mir leichten Ekel hervorrief: Es war ein Deutscher. Mit dem Thema „Peinliche Landsleute im Ausland“ ließen sich wohl wirklich Bücher füllen.

Die Abreise naht. Schweren Herzens verlasse ich das riesige Schiff, es bleibt noch ein wenig Zeit für den letzten Rundgang durch Kiel. In St. Nikolaus ertönt die Orgel, als ich dort um Segen für die Weiterreise bitte. Der Kantor probt wohltönend seinen Antwortpsalm.

Durch die Norwegenfähre wieselt unterdessen die Putzkolonne. In wenigen Stunden wird sie erneut auslaufen.

Ich komme wieder.

Momentaufnahme, Kreuzfahrt II

Pünktlich zum Sonnenaufgang erwache ich. Die Nacht war erstaunlich ruhig, obwohl ich befürchtete, aufgrund bezechter Mitpassagiere keine Ruhe zu finden. Tatsächlich ist aber der Konsum von Alkohol in den Kabinen streng verboten und nachts patroullieren Sicherheitsleute durch die Gänge, die vermutlich auch für Ruhe sorgen. Mit meiner Kabine habe ich aber auch erstaunliches Glück, denn zumindest die direkten Nachbarkabinen scheinen unbewohnt und sie liegt wunderbar mittschiffs, von wo man als See-Anfänger die Schiffsbewegungen noch am Wenigsten spürt.

„Wetter soll ja nicht so toll sein“, unkte eine Bekannte vor meiner Anfahrt. „Regen und Kälte sind mir egal, erwiderte ich. Aber klar sollte es sein, mit guter Sicht. Wäre schon schade, wenn alles im Nebel läge.“

Es hätte nicht schöner werden können. Schon am frühen Morgen hat die Sonne trotz eisigen Winds schon wärmende Kraft. Einige Arbeitschiffe sind unterwegs; auch der Zoll auf einem schnellen Schlauchboot.

Ich gehe das Promenadendeck entlang bis zum Bug; das Schiff schlägt einen eleganten Wellenteppich in die tiefblauen Wasser, während die Sonne allmählich über die Wipfel verschneiter Mischwälder kriecht.

Wir sind in Norwegen angekommen, und ich verstehe Augenblicklich, warum Norwegen vielen als Sehnsuchtsland gilt. Alles sieht genauso aus, wie ich es mir immer erträumt habe. Bunte Häuschen und kapellenähnliche Leuchttürme auf kleinen Felsinselchen, umkreist von Seevögeln. Noch im Morgendunst liegende, bewaldete Bergketten, zwischen denen Fjorde glitzern. Und über all dem liegt Schnee, der die falunroten und gelben und blauen und cremefarbenen Fassaden umso pittresker leuchten lässt. Auch die Zweige der mächtigen Kiefern und Fichten biegen sich unter dem Weiß, darunter das satte Grün unberührter Wildnis. Mich würde nicht wundern, hier Wale zu sehen. Oder einen Elch.

Ich kann den Blick nicht losreißen. Mit jedem Mal, dass ich mich vom Fenster wegdrehe, scheine ich eine noch schönere Szenerie zu verpassen, obwohl ich schon die jeweils vorherige kaum für steigerungsfähig hielt. Es ist nicht einmal sieben Uhr, und ich bin vollkommen euphorisiert.

Beim Frühstück (in gleicher Opulenz wie das Abendessen) habe ich dieses Mal angenehme Renter als Nachbarn. Sie stammen dem Akzent nach vermutlich auch aus Norddeutschland, wenn nicht gar Ostfriesland. Die meiste Zeit aber sind sie still und berauschen sich, ebenso wie ich, an der Landschaft, die am Panoramafenster vorbeigleitet.

Den Rest des Morgens verbringe ich in vollkommen schönheitstrunkener Ergriffenheit in der Sonne auf dem Helikopterdeck, bis Olso in Sichtweite kommt.

Die Einfahrt in den Oslofjord ist unvergesslich. Auch hier ist ein Inselchen schöner als das andere, ein Leuchttürmchen malerischer, dazwischen wieder bunte Häuschen und Wald, Wald, Wald. Und Wald.

Als das markante Opernhaus in Sichtweite kommt, fordert eine Lautsprecherdurchsage das Fertigmachen zum Landgang.

Drei Stunden Stadtrundfahrt mit Halt an drei Sehenswürdigkeiten später kann ich nicht sagen, ob mir Oslo gefällt. Ich fühle mich wie Ware, die durch eine vielteilige Produktionsanlage geschoben und dort rauf und runter gefahren, nach links und nach rechts und mehrfach im Kreis gedreht wurde, um am Ende in jeder Hinsicht fertig vom Band zu rutschen. Mit Sicherheit sind die Museen, die wir besuchten, interessant und die Altstadt bezaubernd; auch Architekturfreunde kommen sehr auf ihre Kosten. Aber es ergibt wenig Sinn, zu Dutzenden auf einmal hinein gestopft und im Schweinsgalopp durchgejagt zu werden: In 20 Minuten zurück am Bus, und bitte alle pünktlich.

Jedenfalls sind die drei Stunden Stadtrundfahrt in Nullkommanix vorbei, ohne das wirklich Gelegenheit zum Ankommen und Verarbeiten der Eindrücke gewesen wäre. Aber für einen ersten Überblick muss es reichen.

Es geht zurück aufs Schiff. Die vielen Norweger an Bord sind in Oslo geblieben, und zuletzt verstand ich auch, warum diese Kreuzfahrt auch dort so beliebt ist, obwohl Kiel nicht als gerade als klassisches Touristenziel gilt: Fast alle verließen das Schiff mit riesigen „Tax free“-Tüten voller Alkohol. Helgoland kann hier mitreden.

Die katholische Domkirche St. Olav habe ich leider nicht gesehen. Ich fragte die Reiseführerin danach, aber sie fragte nur, warum mir das wichtig sei. Ich führte solidarisches Interesse an der Diaspora-Situation der norwegischen Katholiken als Grund an und dachte, nach einem kurzen Moment der Verwunderung, dass das eigentlich eine sehr gute Frage ist. Eine, die man sich als Christ immer mal wieder stellen sollte: Warum ist der Glaube, warum ist GOTT mir wichtig?

Beim Auslaufen und der Rückreise durch den Oslofjord — der Himmel über uns ist immer noch strahlend blau und die Sonne spiegelt sich in den Eisschollen — fallen mir Tausend Antworten auf ihre Frage ein. Und dann noch eine und noch eine. Man muss einfach nur hinsehen.

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Momentaufnahme, Kreuzfahrt I

Als ich mein Dessert beende, weiß ich nichts über die drei Damen neben mir am Banketttisch. Aber alles über die Beziehungen und Figurprobleme nicht anwesender Freundinnen der drei, inklusive allen Details zu deren Schwangerschaftsübelkeit. Letzteres Thema wird mir als unfreiwilligem Ohrenzeugen — die schlechten Wortspiele drängen hier förmlich nach oben — geradezu bröckchenweise vorgekaut und ich bin in Versuchung, als nächstes Thema „Durchfall“ anzuregen. Just in case, dass diese Tischplatzierung, wie ich fürchte, über die Dauer der Kreuzfahrt dieselbe bleibt. Denn damit hätten wir alle unappetitlichen Dinge wenigstens schon am ersten Tag, nunja: abgefrühstückt.
Vor dem Fenster färbt sich der Himmel aprikosenfarben. Es ist früher Abend.

Die See ist still und liegt ruhig vor den riesigen Panoramafenstern. In dem opulent ausgestatteten Festsaal spielt eine Pianistin Flügel: Eine elegante Frau, blond und ungefähr mein Alter. Ab und zu sieht sie in die Runde und lächelt, aber natürlich ist es ein einstudiertes Lächeln, die meisten Stücke spielt sie auswendig.

Das Buffet ist nahezu obszön zu nennen in seiner Fülle, man ist quasi vom Angucken schon satt. Ich mag gar nicht darüber nachdenken, welche gigantischen Mengen an Lebensmitteln hier täglich entsorgt werden; gar nicht zu reden von der logistischen Leistung, all diese Nahrungsmittel, inklusive gewaltiger Süß- und Abwassertanks, überhaupt erst irgendwo im Gedärm dieses gigantischen, schwimmenden Stahlbehälters einzulagern.

Ich habe am Vortag nur wenig geschlafen und deshalb vor Müdigkeit kaum Appetit. Infolgedessen schaffe ich es nicht einmal, einen Bruchteil der Sachen zu probieren. Plötzlich verstehe ich auch, warum es immer heißt, Kreuzfahrten machten fett. Denn obwohl wenn man hier teils etliche Meter von A nach B zu laufen hat und es ein großes Außendeck sowie Sportangebote gibt, so sind es in erster Linie doch zwei Dinge, die Menschen hier tun: Gucken und Essen.

Im Grunde sind Kreuzfahrten alles, was ich hasse. Es ist voll, laut, bunt und größtenteils kitschig. Wenn man sich nicht gerade eine Suite leisten kann, ist es noch eng dazu; Menschen mit Adipositas schaffen es in einer der billigeren Kabinenkategorien vermutlich nicht einmal in die Dusche.

Außerdem locken sie Grüppchen an, die bei mir instinktiv Fluchtreflexe auslösen: Jungesellinnenabschiede (es dauert keine 30 Minuten, bis ich am ersten Tag eine Mittdreißigerin mit blinkendem Geweih, umringt von kichernden Freundinnen, zu sehen bekomme) und Artverwandtes.

Es ist meine erste Seereise mit Übernachtung an Bord; eine Mini-Kreuzfahrt mit jeweils 20 Stunden auf See zwischen den Landgängen.

Als ich mich nach dem Check-in in Kiel durch den schier endlosen Wurmfortsatz der Gangway, die quietschbunte Lobby und die engen Gänge zu meiner Kabine quäle, werde ich zunächst leicht klaustrophobisch und mir kommen Zweifel an diesem Vorhaben. Hinter mir gehen laut schnatternde Menschen, die mir so dicht auf die Pelle rücken, dass ich ihren Atem riechen kann.

Aber dann betrete ich die Kabine, es wird still, und vor einem riesigen Bullauge breitet sich der Blick auf das Stadtpanorama von Kiel und das glitzernde Hafenbecken. Die große Schwedenfähre am Kai gegenüber strahlt mit dem Wolkenweiß um die Wette. Ich hatte mit einem winzigen Fensterchen gerechnet; aber nun sitze ich vor diesem mindestens 1,20m im Durchmesser fassenden Riesenbullauge und starre und starre und starre, während sich mein Schiff Kurs Olso durch die Förde schiebt.

Alles sehe ich wieder, was ich schon vor Jahren augenblicklich liebte: Das Schiffahrtsmuseum, den Marinehafen (die Gorch Fock an der Tirpitzmole schmerzlich vermissend), das Marine-Ehrenmal in Laboe mit dem Museums-U-Boot davor.

Doch nun sehe ich es aus einer im Wortsinne überragenden Perspektive; das Majestätische des Schiffs übertönt das Majestätische der Landschaft und Bauwerke dabei aber keinesfalls, im Gegenteil: Das 9. Deck der Norwegenfähre scheint mir plötzlich der einzig würdige Aussichtspunkt zu sein, um diese Dinge mit der gebührenden Ehre zu betrachten. Der Blick von hier oben adelt alles, was ihn kreuzt.

Irgendwann verlasse ich aufgrund von Hunger schließlich doch die Kabine; ich finde eine halbwegs ruhige Sushi-Bar, in der ich einen feinen Genmaicha trinke und unfassbar frischen Fisch esse: Zu Preisen, die auch nicht schlimmer sind als auf Langeoog. Und allmählich beginnt mir auch das Treiben an Bord zu gefallen.

Das sichtbare Personal sind fast ausschließlich Norweger; die unaufdringliche, stille Höflichkeit und die kaum zu beschreibende, aber sehr angenehm klingende Sprache der Menschen gefällt mir sehr. Auch unter den Passagieren sind mehr Norweger, als ich erwartet hätte.

Viele davon sehen exakt so skandinavisch aus wie in meiner Vorstellung: Man sieht schöne Jochbeine, viel blonde und rote Haare und volle Bärte an hochgewachsenen Männern; die Frauen haben diese kleinen, nach oben zeigenden Nasen und sind ebenfalls groß, ohne stämmig zu wirken. Und als ebenso unaufdringlich wie ihre Höflichkeit empfinde ich ihre Eleganz: Cleanes Understatement herrscht vor; die Kleidung wirkt wertig, aber nicht protzig. Die Frisuren sind natürlich, aber nie nachlässig. Der Nicht-Norweger indes kauft sich im Bordshop grobe Strickpullis, hässliche Trolle und grelle Fleecejacken mit der Landesflagge.

Ich wiederum sitze und staune und ertappe mich dabei, wie ich mich schneller ins Getriebe einfüge als erahnt. Denn schließlich mache auch ich hier unmittelbar diese zwei Dinge: Gucken und Essen.

Auf dem Höhepunkt des Sonnenuntergangs passieren wir die Große Beltbrücke. Die filigrane und dennoch gewaltige Hängekonstruktion schmiegt sich in pastelliges Licht, die Scheinwerfer der Autos und LKW darauf glitzern wie Schmucksteine. Im Hintergrund zeichnen sich dunkel die Konturen der Küste und einiger kleiner Inseln ab. Dann wird es schwarz über der See bis auf eine sattgelbe, schmale Mondsichel und das Leuchten des Schiffes, in dessen Bauch ich an einem sich leicht neigenden Schreibtisch sitze, sanftes Vibrieren unter den Füßen, das Brummen von Klimaanlage und Motoren um mich. Tatsächlich hatte ich erwartet, bei einem Gefährt dieser Größe keinerlei Schiffsbewegungen wahrzunehmen. Aber man spürt es dennoch: Sie schwimmt, und unter ihr tobt die Urgewalt der mächtigen See.