Eile und Ewigkeit

Vor dem Wäschekeller liegt ein mumifizierter Frosch. Als ich fortging, muss er noch gelebt haben, und offenbar haben wenige Tage gereicht, um den Kadaver komplett auszutrocknen. Auch sonst hat sich einiges verändert seit meiner Abreise. Die Hagebutten der Kartoffelrosen sind inzwischen überreif und von blutroter Farbe; die Kreuzspinnen in den Netzen dazwischen sind fett, der Strandkorbbestand dagegen sichtbar ausgedünnt.
Ruhiger geworden ist es auf der Insel, ich bin gottfroh darüber. Der Herbst ist eine schöne Zeit auf Langeoog, auch wenn er zugleich das Ende von so vielem markiert: Einige Kreaturen fallen bald in Winterstarre; darunter die Spinnen. Andere Tiere sterben, Pflanzen verwelken. Ungeerntete Früchte liegen wurmzersetzt im Gras. Das Jahr läutet seinen Abschied ein. Die Läden werben für Weihnachten.

Auch die Stare sind wieder da und sammeln sich in gewaltigen Schwärmen über den Dünenkuppen, auf den Wiesen und dem gusseisernen Kreuz der Inselkirche. Wunderschön sind sie mit ihrem schillernden, gesprenkeltem Gefieder, und ich werde sie sicher vermissen im Winter, der vor uns liegt.
Noch tragen wir T-Shirts und Sonnenschutz, denn in seinen letzten Tagen brachte der Spätsommer noch ordentlich Hitze. Dennoch ist mir, als luge der erste Schnee bereits über die Deichkrone. Alles geht so schnell dieser Tage: Sogar das Innehalten. Und so verging auch mein Urlaub wie im Fluge; selbst die alten Mauern der Abtei und die jahrhundertealten Gesänge der Mönche konnten die Zeit in ihrem Rasen nicht aufhalten. Der Winter wird arbeitsreich.

Dass es sinnlos ist, schönen Momenten ein „Verweile doch!“ hinterherzurufen, weiß ich schon relativ lange; umso wichtiger ist es aber, sich dennoch viele dieser schönen Momente zu schaffen. Schließlich mögen sie zunächst kurzlebig sein; im Herzen indes lässt sich lange davon zehren.

Und so genoss ich doch jeden sonnigen Tag unter den mächtigen Bäumen, auf dem weichen Moos, auf dem sich ein Gitter aus Sonnenflecken mit dem Wind bewegte, oder auf dem staubigen Weg entlang der Maisfelder mit ihren versprengten, dunkelgrünen Waldinseln und den Ketten kugeliger Obstbaumalleen am Horizont.
An den Feldrändern kämpften letzte Mohn- und Kamillenblüten gegen die Spätsommerhitze, umschwirrt von Schmetterlingen.
Auf einem Findling sitzend, beobachtete ich das zu Boden kreiseln der Ahornfrüchte im Schatten der neoromanischen Abteikirche. Vom Autolärm der Straße abgesehen, war es absolut still bis auf das Rauschen des Windes in den Blättern und das gelegentliche Schleifen eines Habitsaums, wenn einer der Mönche über die Steinstufen eilte.
Abends saß ich im Zimmer und malte. Der Nachtwind bauschte die Vorhänge im kleinen Dachgaubenfenster, ohne viel Kühlung zu bringen. Um 5 Uhr morgens setzte das Vollgeläut der Abteikirche ein. Leise Schritte im Kreuzgang, Gewandschleifen, Stille, vor den Buntglasfenstern erste Vögel. Und dann der gregorianische Choral. Die Abtei Gerleve hat eine wunderbare Schola, und auch an der Orgel sitzt offenbar ein begnadeter Mensch, den oder die ich leider nie zu Gesicht bekam. Die Sonne schickte ihre Strahlen in den Chorraum; so scharf gezeichnet, als hätten sie sich in feste Materie verwandelt.

Bald war mein Dachzimmer wieder leer und der Koffer gepackt. Die Tischnachbarin, eine angenehme Person mit offenem, freundlichen Gesicht, wachen Augen hinter einer runden Brille und ebenso wachem Geist, brachte mich zum Bahnhof. „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, irgendwo.“ „Wäre schön, ja.“ „Tschüss“. Ein dreckiges Bahngleis, ein wackelnder Bus, vorbeiziehende Orte, ein- und aussteigende Menschen. Ankommen, Abschied, weitermachen. — Ist so nicht das ganze Leben?

Doch dann, ausgerechnet in einer großen Stadt, bekam ich wieder einen kleinen Eindruck von Ewigkeit und Bestand. Von Dingen, die bleiben.
„Die Liebe hört niemals auf“ steht in der Bremer Propsteikirche an einer Wand, davor ein dickes Buch mit Erinnerungen an Verstorbene. Eine ältere Dame zieht ein gerahmtes Schwarzweißfoto mit einem Trauerflor aus ihrer Tasche. Sie stellt es vor das Zitat aus dem Korintherbrief und macht ein Foto davon. Es zeigt einen älteren Herrn, der sie anlächelt. Die Freundin und ich wenden uns augenblicklich ab um die Frau in diesem intimen Moment nicht zu stören; ich kämpfe mit den Tränen. Auch in den Augen der Freundin glitzert es. Selten sah ich etwas, das so rührend und so traurig zugleich gewesen ist. Ich zog mich diskret zurück, hätte die Frau aber am Liebsten umarmt. „Die Liebe hört niemals auf“: Das sahen wir nun mit eigenen Augen.
„Unsere Ehe wurde im Himmel geschlossen“, sagte mein Opa Anton einmal, als ich ihn bewundernd darauf ansprach, wie glücklich er und seine Frau immer noch wirkten nach all den Jahrzehnten und trotz etlicher Schicksalsschläge: Der Krieg, ein schwerer Arbeitsunfall, der Tod des einzigen Kindes. Inzwischen wird die Ehe beider im Himmel fortgesetzt, und ich glaube ebenfalls daran, dass es so sein wird — wenn es so sein soll. Ich drücke die kleine, weiche Hand meiner Freundin ein wenig fester. Vor uns lächelt der Namenspatron meines Opas gütig von seinem Sockel.

Band 7 ist da!

Moin,

wenn die Corona-Krise, vegane Hipster-Kondome, der Morallimbo von Donald Trump, die heilige katholische Kirche, Langeooger Insel-Klüngel und die atemberaubende Schönheit des Wattenmeeres zusammen in einem Prosa-Band vorkommen, ahnen geneigte Leserinnen und Leser schon, worum es geht: Richtig, ein neuer Band „Momentaufnahmen“ ist erschienen. Die Geschichten aus diesem Jahr wurden zwangsläufig vom Thema „Virus“ geprägt, es gibt aber auch — wie gewohnt — leichte Plaudereien, idyllische Sprachmalerei und mitunter bissiges Sezieren des Insel-Alltags.
Außer auf Langeoog entstanden auch wieder einige Geschichten unterwegs: Vor allem in der erhabenen Stille uralter Klöster, aber auch auf Ausflügen in urbanes Umfeld.

NEU: Die Episoden sind nicht nur das 2020er-„Best of“ meines Blogs, sondern das Buch umfasst auch acht (8!) bisher unveröffentlichte Texte.

Band 7 HIER kaufen: https://www.bod.de/buchshop/momentaufnahmen-7-mayk-d-opiolla-9783751993838

Klappentext:

Das siebte Jahr auf Langeoog. Mit dem Erwachen des Frühlings bricht die Corona-Krise auch über die Insel herein. Zum ersten Mal erfolgt der große Vogelzug fast unbeobachtet; zum ersten Mal ist es sogar an Ostern so still, dass man die Blütenblätter von den Bäumen fallen hört. Die Touristen sind fort, das Dorf rottet sich zusammen. In der Isolation entsteht neue Nähe, aber es gärt auch Gift im Langeooger Mikrokosmos. Die Zukunft erscheint zerbrechlich, Existenzsorge nagt. Und doch prägt die Prosastücke dieses Bandes keine Verzweiflung, sondern ein lebenshungriger Blick auf die Welt, die Geborgenheit im Glauben sowie das Wunder unverhoffter Liebe. Gezeichnet in eindrucksvollen Sprachbildern führt der Ich-Erzähler über eine Insel im Ausnahmezustand, aber auch an Orte tiefen Friedens. Jenseits von Langeoog bilden u.a. ein uraltes Zisterzienserstift in Niederösterreich, die tiefen Wälder der Südeifel oder die Hansestadt Bremen die Kulisse. 42 neue Geschichten, mit einem Themenspektrum von Liebe bis Weltpolitik.
Die aktuelle Themenauswahl sowie ein farbenprächtiger Erzählstil, schonunglos ehrlich, mit unbestechlichem Blick und garniert mit bissigem Wortwitz, haben der „Momentaufnahmen“-Reihe von Mayk D. Opiolla mittlerweile eine feste Fangemeinde beschert: Auch weit über die Inselgrenzen hinaus. Alle Bände sind unabhängig voneinander lesbar.

Band 7 kann über den Buchshop von BoD sofort bestellt werden. Über den stationären Buchhandel, amazon und Co wird es in wenigen Tagen erhältlich sein.

Hinweis: Beim Direktbezug über BoD bleibt etwas mehr Geld beim Autor, also mir, hängen, da kein Händlerrabatt mehr abgezogen wird. Wer meine Schreiberei auch finanziell unterstützen will, bestellt also bitte da; den lokalen Handel unterstütze ich aber ebenfalls jederzeit gerne! Also keine Hemmungen, falls Euch der Weg in den Buchladen nebenan lieber ist 🙂

Momentaufnahme, Herbstanfang

In das Flussrauschen mischt sich der langezogene Schrei eines Waldkauzes auf der Jagd. Hu-huhuhuhu. Hu-huhuhuhu, wieder und wieder. Durch das weiße Sprossenfenster meiner Klosterzelle schimmert der Abendstern. Bis auf die Eule und das Wasser der Kyll ist kein Laut zu vernehmen, nicht einmal Wind geht. Es ist genau die Art von Stille, nach der ich mich in all dem Trubel der letzten Monate gesehnt habe. Ich höre dem Waldkauz ebenso andächtig zu, wie ich etwas früher am Abend einigen Mönchen unter dem Kirchenfenster beim Singen lauschte. Ein warmes Glücksgefühl durchströmt mich; es ist ein perfekter Moment: Jetzt, hier, an diesem Fenster.
Auch die meteorologische Wärme hat nicht nachgelassen; tagsüber ist es unverändert heiß und auch nachts braucht man gerade einmal einen dünnen Pullover.
Und dennoch kam, quasi über Nacht, der Herbst.

Mit einiger Überraschung stellte ich bei der heutigen Wanderung fest, dass sich die Spitzen der wenigen Laubbäume im Wald bunt verfärbt hatten. Auch das Brombeerlaub entlang der Wege nimmt bereits Herbstfarben an. Nur die unzähligen wilden Orchideen erzählen noch vom Sommer.

Auf Langeoog soll es ebenfalls herbstlich geworden sein, schreibt mir die Freundin, und ich frage mich, wo das Jahr geblieben ist. Dieses Jahr, das wohl für niemanden einfach irgendein Jahr gewesen ist. Das Jahr, das alles veränderte; das Nähe nahm und neue Nähe brachte. Das das Verständnis von Höflichkeitsformen und Distanz teils völlig auf den Kopf stellte und uns neue Prioritäten bei unseren Sozialkontakten setzen ließ.
Lediglich die Nähe zu Gott war noch ohne größeren Aufwand zu bewerkstelligen — freilich auch das nur so lange, wie man im stillen Kämmerlein betete und nicht in die Kirche gehen oder gar die Eucharistie empfangen wollte. Aber auch dafür wurden ja letztlich Lösungen gefunden; und zumindest auf Langeoog waren die Leute mit genug Disziplin bei der Sache, um größere Ausbrüche von Corona-Infektionen zu verhindern.
Obwohl das Jahr noch 2,5 Monate übrig hat, beginne ich schnell mit dem ersten sichtbaren Herbsttag zu bilanzieren. Eine Unsitte vielleicht, denn auch in 2,5 Monaten kann so ein Jahr noch überraschen. Indes bin ich aber froh, diese Bilanz mit einem gesunden Abstand zu Insel, in der Abgeschiedenheit eines 800jährigen Klosters ziehen zu können; wo ich alles, was schön war, Gott zum Dank hinhalten kann — und alles, was nicht schön war, auch. Gott hält das aus.

Die Turmglocke schlägt 22 Uhr: Für Mönche und die anderen Klosterbewohner längst Zeit zum Schlafen. Die Eule schweigt; vermutlich ist sie satt.
Es ist traurig, dass morgen schon der vorletzte Tag anbricht, denke ich. Ich wäre gern noch geblieben: Hätte den Wald in seinem Herbstkleid angeschaut und die schön gewachsenen Obstbäume mit ihren kunstvoll gewundenen Stämmen und knotigen Zweigen. Aber so geht es mir ja in jedem Urlaub — obwohl ich sicher weiß, dass auch der Inselherbst wunderschön sein kann. Noch aber liegt die Insel in weiter Ferne. Noch bin ich hier.

Momentaufnahme, Empfang

Ein einsamer Krähenlaut dringt durch die hereinbrechende Nacht. Ich sehe den Vogel, als ich den Kopf zum Himmel hebe. Er fliegt in Richtung Waldrand, wo sich die Wipfel der Fichten schwarz im Dämmerlicht abzeichnen.
Vom Rande des Klostergartens her rauscht der Bach. Grillen zirpen.
Im Haus ist Ruhe eingekehrt; die letzte Messe ist verklungen und die Menschen bereiten sich auf den Schlaf vor. Ich aber möchte mich noch vom heiligen Bernhard verabschieden und suche ein letztes Mal die Kirche auf. Heute leuchten nicht einmal mehr Kerzen, als ich das dunkle Gotteshaus durch die Krypta betrete. Aber ich finde den Weg zum Bernardi-Altar auch so — dem weißen Gewand der Heiligenfigur sei Dank.
Der heilige Bernhard auf dem Altarrelief ist nicht besonders detailreich gearbeitet; mit seinen runden, rosig gepinselten Pausbäckchen und den kleinen, zum Gebet erhobenen Händchen hat die Darstellung etwas Puppenhaftes, wenn nicht gar Niedliches an sich. Man hat den Heiligen auf diesem Relief wohl instinktiv lieb — obwohl mir durchaus bewusst ist, dass ich dort auch einen der glühendsten Verfechter der Kreuzzüge vor mir habe. Kein Licht ohne Schatten; das gilt auch für Heilige. Und natürlich lebte er zu einer Zeit mit einem „leicht“ anderen Verständnis von Völkerrecht als wir es heutzutage pflegen. Im Hier und Jetzt verhilft mir die Fürsprache des Heiligen Bernhard aber zu neuem innerem Frieden.
Denn der Geruch nach uralten Steinen und Kerzen sowie das liebe, rundliche Antlitz der Heiligenfigur beruhigen mich mit wunderbarer Zuverlässigkeit. Hier gebe ich den Tag mit all seinen Erlebnissen und Emotionen zurück in Gottes Hand.

Bereits am Morgen war es noch einmal sehr heiß geworden. Über der Landschaft lag die süßliche Schwere eines intensiven Geruchs nach Fallobst, durchmischt von frischem Grasschnitt. Über Vielerlei nachdenkend, wanderte ich Richtung Wald. Mit jedem Meter wich der penetrante Obstgeruch den Aromen von Harz und Nadelholz, von kühlem Erdreich und dem klaren Wasser der Kyll, die beharrlich wie eine treue Freundin längs des Wanderweges rauschte.
Irgendwann hatte ich einen ordentlichen Anstieg bewältigt; das Tal breitete sich unter mir mit abgeernteten Feldern, gemähten Wiesen und immer wieder kleinen versprengten Inseln von Obstbäumen, deren Äste sich unter den schweren Früchten bogen. Ab und zu ein Haus; am Feldrand ein Ansitz. Dazwischen die Gleise des Eifelexpress.

Ich zückte mein Mobiltelefon, um ein Foto zu machen und erschrak über den Eingang von 47 Nachrichten. Im Ort, zu dem das Kloster gehört, ist keinerlei Empfang; maximal für eine altmodische SMS reicht es. Was einerseits gut ist; denn schließlich sollen dort ja alle Antennen auf GOTT gerichtet sein. Andererseits ist es für jemanden, der sich doch einer gewissen Internetsucht schämen muss, eine große Umstellung. Dort auf der Anhöhe schien es jedenfalls etwas Netz zu geben und natürlich trieb mich die Neugier zur Sichtung der Nachrichten und zum Versand eigener Depeschen. Letztlich waren von 47 Mails aber 46 problemlos delegierbar, und ich dachte über meine bisherige Priorisierung von Angelegenheiten nach. Und auch darüber, welchen Sinn eine ständige Erreichbarkeit denn wirklich hatte. Ich verzichtete darauf, auch noch nachzuschauen, was derweil in der Welt passiert war, steckte das Gerät in die Tasche und ging weiter. Als ich das nächste Waldstück erreichte, brach der Empfang ohnehin wieder zusammen. Inzwischen hatte sich die Sonne durch Wolken und Wipfel gezwängt, es wurde zunehmend wärmer und stickiger. Die Fichten erreichten in diesem Areal eine nahezu furchteinflößende Höhe; ebenso wie die Steilheit der Abgründe. Ich wusste: Wenn ich dort stürzte, wäre ich tot. Und wenn einer dieser Baumriesen auf mich stürzte, auch. Menschen begegnete ich auf der 5 Kilometer langen Strecke keinen — mit Ausnahme zweier Forstarbeiter. Ihre Anwesenheit beruhigte mich, denn sie sorgten mit dem gezielten Holzschlag vermutlich nicht nur für die Wirtschaft in der Region, sondern auch für die Sicherheit wandernder, waldfremder Touristen. Nach dem Passieren der Waldbaustelle wurde es vollkommen einsam um mich. Vor mir der Weg. Rechts Wald und Steilhang, Links Wald und Steilhang. Die Kyll und die Gleise lagen irgendwo ganz weit unten; zur halben Stunde hörte ich den Zug rattern.
Ab und zu wühlte ein Tier im Unterholz; es trippelte, knackte und schnaufte. Bäume in Schräglage ächtzen und stöhnten. Ich sah auf mein Telefon: Keinerlei Netz.
Obwohl der Waldweg eine Art Sonnentunnel bildete, war die gewaltige Ansammlung von Bäumen um mich schon nach wenigen Metern erschreckend finster. Ich war froh, jetzt nicht nach den Stichworten „Wölfe“ und „Waldeifel“ googlen zu können. Was hätte es auch genützt?
Ich sang ein Marienlied; zumindest die zwei Sätze, die ich daraus auswendig konnte, um die merkwürdigen Tierlaute zu übertönen. Der ganze Wald schien mir plötzlich wie ein einziges, riesiges Lebewesen; ein autarker und atmender Organismus, in dessen gewaltigem, schwarzgrünen Bauch ich lediglich geduldet wurde. Er lehrte mich neuen Respekt.
Angekommen an meinem Ziel — einem benachbartem Örtchen, lief ich zum Bahnhof und nahm den nächsten Eifelexpress zurück. In der Bahn saßen Menschen, die sich in einer für mich fremden Sprache unterhielten. Sie klang wie eine Mischung aus Französisch und Niederländisch; ich vermutete Luxemburgisch. Es war seltsam, aus dem Bauch des Waldes in diese nahezu städtische Erfahrung internationalen Flairs katapultiert zu werden. Aber irgendwo genoss ich es auch.

Momentaufnahme, Anreise

Der Eifelexpress ist ungefähr so „express“ wie der rasende Roland auf Rügen rast, also: Gar nicht. Mit enervierender Langsamkeit schiebt sich der Zug seit meinem Zustieg in Euskirchen durch trostlose Industriegebiete und irgendwas mit Landschaft. Ich bin zu diesem Zeitpunkt schon 5 Stunden unterwegs und habe das gesamte Repertoire an Bahnversagen durch, zu dem dieser Konzern fähig ist — zu meiner Laune schweige ich dementsprechend lieber. Das Dauergeschnatter Mitreisender und die Beschallung mit diversen Serien, YouTube-Videos und Telefonaten, die sich weitere Passagiere via Smartphone (und ohne Kopfhörer) zu Gemüte führen, zerrt zusätzlich an den Nerven. Ich versuche, die Reizüberflutung mit stillen Entspannungsübungen zu bekämpfen, und tatsächlich lassen mich diese Übungen, in Tateinheit mit rein physischer Übermüdung, sogar irgendwann einschlafen.

Als ich aufwache, hat sich die Gegend verändert. Mitreisende sind kaum noch da, und vor dem Fenster türmen sich dicht und dunkel bewaldete Berge. Ich schrecke hoch; in heller Panik, mein Ziel verpasst zu haben. Aber ich habe Glück: Laut Uhr und DB-App sind es noch 20 Minuten bis St.Thomas. An den Bahnhöfen, deren Namen teils länger sind als die Orte, wird längst nur noch bei Bedarf gehalten. Vor meiner Wunschdestination kommt irgendetwas mit Doppelnamen; danach kommt der Zug quietschend am Zielort zum Stehen. Die graue Regenwand der letzten Tage hat sich verflüchtigt. Pünktlich mit meiner Ankunft bricht Sonnenlicht durch die Baumkronen und lässt das Wasser der Kyll glitzern. Kirche und Klostergebäude warten gleich hinter dem Bahnhof wie alte Freunde.
Ich war nie hier, aber ich habe sie augenblicklich lieb. Und die Gegend ist mittlerweile atemberaubend: Wald, Wald, Wald — Das einzige, was mir auf Langeoog schmerzlich fehlt, und von dem ich deshalb im Urlaub gar nicht genug bekommen kann.

Der Mensch, der mich begrüßt, hat klare blaue Augen über seiner Maske und wirkt ruhig und freundlich. Er erklärt alles schnörkellos, dann bin ich im Zimmer. Durch das weiße Sprossenfenster mit den zartgelben Vorhängen sehe ich direkt in den Klostergarten; irgendjemand macht sich dort mit Leiter und Astschere an Obstbäumen zu schaffen. Der Rasen ist leuchtend grün, von nahezu englischer Schönheit, und wird von einer alten Steinmauer gesäumt. Dahinter ragen riesige Fichten in den mittlerweile leuchtend blauen Himmel, ich höre den Fluss rauschen und ansonsten: Nichts.
Ich bin fürs Erste überwältigt. Danke, Gott, denke ich. Und Dank an den lieben Priester, der mir dieses Exerzitenhaus empfahl. Es fühlt sich gut an.

Ich weiß, dass nun der Moment zum Loslassen und Entschleunigen gekommen ist. Also packe ich das Smartphone in den Schrank und schalte den mobilen Datenempfang aus: Es gibt sowieso kaum Netz. Für eine SMS an die Liebste und meinen Vater halte ich das Gerät aus dem Fenster für wenigstens einen Balken E: „Bin da. Superschön hier. Bis dann.“
Das Telefon herunterzufahren habe ich bald darauf geschafft. Mich selbst in den Ruhezustand zu versetzen ist schwieriger. Zwar bin ich körperlich nach wie vor todmüde, aber mein Hirn, mein Geist tun das, woran der Eifelexpress krachend scheiterte: Sie rasen.

Stille, sage ich mir. Ankommen. Ruhe. Aber ich wusele dennoch erst einmal hier und da, entpacke und arrangiere, erkunde das Haus, dusche, ziehe mich um — und stelle fest, wieviel Zeit man plötzlich hat, so ohne Smartphone. Noch immer sind es 1,5 Stunden bis zum ersten Treffen mit der Gruppe und dem offiziellen Start des Exerzitienprogramms.

Zeit für den Garten. Als ich hinaustrete, duftet die Luft nach Lavendel und Rosen, nach reifem Obst und frisch geschnittenem Gras. Und tatsächlich finde ich auch all das vor. Über einer flechtenverzierten Steinbank hängen orange leuchtende Zieräpfel; dahinter ein schön gewachsener Baum mit rotbackigem Boskop, daneben Birnen. Als ich die großen, reifen Birnen bewundere, deren Zweige über die uralte Steineinfriedung des Gartens hängen, huscht eine kleine Eidechse in ein Mauerloch, vor dem sie sich gerade gesonnt hatte. Ich kann mir einen Laut der Begeisterung nicht verkneifen. Eine Eidechse hatte ich zuletzt als Kind irgendwo gesehen; vielleicht im Sauerland, ich weiß es nicht mehr. Hinter dem Garten sind kleine Teiche, die ein plätschernder Zulauf speist. Eine Kapelle lobt die Gottesmutter: Ave, maris stella — Ein bisschen Meer ist wohl überall. Ein hölzernes Tor führt auf einen Waldlehrpfad, den ich mir sehr groß auf die To-do-Liste setze. Mein erster Blick hinein durchstreift eine geheimnisvolle Schlucht mit hölzernen Brücken und einem Bach, ringsum erhebt sich majestätisch der Wald; sonnendurchflutetes Weideland schmiegt sich an seinen Rand.
Auch in der Kirche fühle ich mich sofort wohl: Ein Seitenaltar ist dem heiligen Berhard von Clairvaux gewidmet und ich denke voller Liebe an „meine“ Zisterzienser, für die ich hier gewiss beten werde. Der heilige Bernhard steht hier auch nicht zufällig, denn tatsächlich siedelten in St.Thomas vor vielen Jahrhunderten Zisterzienserinnen. Auch eine Art Besserungsanstalt für straffällig gewordene Priester war einst an diesem Ort, Demeritenhaus genannt — über diesen Teil der Geschichte (und die damit verwobenen Biografien) denke ich aber vorerst lieber nicht nach.
An der Wand links vom heiligen Bernhard stehen — aus Holz gefertigt — gleich zwei Männer mit Kind im Arm: Der heilige Josef und der heilige Antonius, jeweils mit dem Jesusknaben. Mir gefällt diese Darstellung väterlicher und brüderlicher Zuneigung, und so komprimiert habe ich sie auch noch nirgends sonst vorgefunden. Maria mit dem Kinde lieb gibt es aber ebenfalls zur Genüge.

Nach der obligatorischen Kennenlernrunde endet die erste Gruppenzusammenkunft mit dem Satz: „Ab jetzt gilt durchgehendes Schweigen“. Das Schlusslied, mit dem wir ins Schweigen entlassen werden, könnte nicht besser zur Umgebung passen: „Der Mond ist aufgegangen …“

Mittlerweile ist er das auch wirklich; der Mond leuchtet mit sanftem Schein über dem Klostergarten und zieht seine Silberspur über die gepflegten Rasenflächen. „Der Wald steht schwarz und schweiget …“

Momentaufnahme, Zukunftserinnerung

Nach einigen verhangenen Tagen wurde es endlich wieder schön auf der Insel. Federwolken breiten sich über dem leuchtend blauen Himmel aus wie Engelsflügel. Über dem Kirchturm senkt sich am frühen Abend die Sonne, und es wird nicht mehr lange dauern, bis der Horizont in flammenden Farben erstrahlt.

Es gibt wieder einen Priester auf Langeoog. Der Jesuitenpater ist ein gern gesehener Gast und nicht zum ersten Mal bei uns. Ich schätze seine Predigten, die ebenso intellektuell wie lebensnah sind; mit Sicherheit theologisch fundiert, aber nicht mit der staubigen Erhabenheit reinen Bücherwissens, sondern stets durchzogen von warmen Adern menschlicher Bodenständigkeit. Vor allem mag ich seine Stimme, die tief und rauchig klingt, mit der pointierten Ausdrucksweise eines Berufsredners. Zugegeben: Dieser Pater könnte das Telefonbuch vorlesen und es wäre ein akustisches Fest — umso schöner, dass man ihm aber auch aus anderen Gründen noch gerne zuhört.

Ich bin erleichtert, dass das kirchliche Leben auf Langeoog ausgerechnet mit diesem sympathischen Jesuiten wiederbelebt wird, denn schließlich habe ich auch eine überfällige Beichte nachzuholen. Nach zwei peinlichen Tagen des Sünden-Vorsortierens darf ich endlich den gesammelten Gewissensunrat in seinem Beisein vor Gott kippen. Einmal mehr bewundere ich das Pokerface erfahrener Geistlicher bei der Beichte — es gibt kein Mundwinkelverziehen, keine angehobene Braue. Der Mann hört zu, und erfüllt schließlich seinen Auftrag des Vergebens. Auf Bußwerk verzichtet er, und mir wird klar, dass das, was sich in meinem Herzen nach großer Schuld anfühlte, für einen Priester vermutlich eher noch kleinkalibrig ist. Eventuell waren ihm auch meine Tränen der Scham am Ende Reue genug. Ich weiß es nicht, aber ich bin auch recht froh, dass mir noch genügend Geheimnisse der Sakramente verborgen bleiben. Was ich dagegen weiß, ist: Sie wirken. Und in der Art und Weise, auf die ich diese Wirkung fühle, aber nicht erklären kann, liegt vielleicht auch ihre Heiligkeit.

Die Messen selbst finden noch mit reichlich Abstand, Anmeldung und ohne Gesang statt. Die Kommunion wird auf kleinen Tellerchen gereicht: Jede einzeln. Das bereitstehende Tischchen mit den vielen Tellern erinnert an ein Hotel-Buffet; das weiße Altartuch darauf mindert den Hotel-Eindruck nicht wirklich. 
Aber es ist der Leib Christi, und nach so langer Zeit ohne Eucharistie ist mir fast jede Darreichungsform Recht, solange sie noch halbwegs würdevoll ist. Ich gebe zu: Es hat mir gefehlt. Auch wenn sich die Bistümer und Ordensgemeinschaften unglaublich viel Mühe gaben, die Corona-Durststrecke kreativ zu überbrücken — nichts war wirklich ein Ersatz. Und ich möchte nie wieder so lange ohne priesterlichen Beistand sein.

Vom Balkon aus sehe ich zu, wie sich der Himmel in Pfirsichtönen verfärbt. Die Insel hat sich deutlich gefüllt, aber allmählich kehrt abendliche Ruhe ein. Für Ende Mai ist es noch immer zu kalt, aber der Blütenduft und der Nachtgesang der Vögel lässt mich trotzdem den nahenden Sommer fühlen. Eine gewisse schöne Nostalgie ergreift mich. Ich wühle in meiner Playlist nach Jugendschätzen und grabe das alte Dire-Straits-Album aus. Und obwohl meine Jugend nicht besonders schön war, setzt es auf wundersame Weise sofort gute Gefühle frei. Ich wippe mit den Kopfhörern im Rattansessel und träume mich weit weg:
„I’m going to San Bernardino, ring-a-ding-ding …“

Achja, denke ich, da wäre ich jetzt auch gerne. Die amerikanische Stadt dieses Namens kenne ich zwar nicht, und das zugehörige Lied beschreibt auch nichts Schönes, sondern einen skrupellosen Geschäftsmann, aber an einem Ort, wo man den heiligen Bernhard als Ordensgründer verehrt: Da wäre ich jetzt tatsächlich gern.
Ich sehne mich nach „meinen“ Zisterziensern. Nach dem Frieden im Wald hinter dem Kloster, dem Chorgesang, dem Duft uralter Steine, dem Rascheln langer Chormäntel und dem Anblick von schwarzweiß gewandeten Mönchen, die über den Hof zum Gebet eilen.

Es war ein so schöner Mai in Stiepel, und ein so heilsamer Januar in Heiligenkreuz. Ich weiß nicht, wann ich diese wundervollen Orte wiedersehen kann, aber es tut gut zu wissen, dass es sie überhaupt gibt. Vielmehr: Dass sie teils seit Jahrhunderten bestehen und schon viel mehr überdauert haben als einen Virus.

Doch heute möchte ich an keinen Virus mehr denken. Ich genieße das stille Hereinbrechen der Nacht bei Musik aus vergangenen Tagen und mit all den schönen Erinnerungen, während ich auf die Liebste warte.
Vielleicht können wir hier und jetzt ja auch schöne Erinnerungen für die Zukunft schaffen, denke ich. Stunden und Tage, auf die wir dann irgendwann mit wohltuender Nostalgie und Dankbarkeit zurückblicken — dann, wenn all der Wahnsinn vorbei ist und die Welt ganz neu auf uns wartet.

Momentaufnahme, Stillstand

Das Wetter ist nahezu statisch. Seit drei Wochen gibt es kaum eine Änderung. Die Sonne scheint aus einem wolkenlosen, beinahe absurd blauen Himmel. Der Wind ist unspektakulär; an den letzten Regen kann ich mich kaum erinnern. All das bietet eine wundervolle Kulisse für Fotos erwartungsfroher Strandkörbe, niedlicher Jungtiere und roséfarbener Blütenpracht. Die späte Sonne zaubert mit warmgoldenem Glanz den Menschen Jahre aus dem Gesicht, erste Surfer gleiten pittoresk durch silberschimmernde See.
Mir macht der ausbleibende Regen indes ein wenig Sorgen: Lässt nicht schon das erste zartgrüne Kastanienlaub wieder Anzeichen von Schlaffheit erkennen, kaum, dass sich die Blätter entfaltet haben? Färbt sich der Deich mit seinem märchenhaften Gänseblümchenteppich nicht schon langsam braun? Und die Tiere, finden sie genug Süßwasser?
Der Stillstand beim Wetter kann nicht ewig andauern: Die Folgen wären fatal.

Ähnliches gilt für den Corona-bedingten Stillstand des Tourismus auf den Inseln und an den Küstenorten. Erste ernstzunehmende Hilferufe werden laut; auch eigentlich wohlhabende Menschen müssen inzwischen anfangen zu rechnen. In Personalgesprächen werden Existenzen verhandelt; die Behörden ersticken unter Hilfsanträgen. Unnötige Käufe werden vermieden; Fixkosten summiert, Geldreserven geprüft. Dahinter die bange Frage: Wie lange noch? 
Ein Freund, der ansonsten ein leuchtendes Beispiel für Optimismus und kreative Schaffenskraft ist und daher gleich mehrere wirtschaftliche Standbeine unterhält, traut sich als erster aus dem nahen Umfeld, mit einem klaren Wort an die Öffentlichkeit zu gehen: „Wir können nicht mehr“, posted er.
— Es bricht mir das Herz. Schließlich war es genau dieser Freund, der mich über viele Sommer hinweg mit enormer Großzügigkeit bei Kost und Logis bedachte, ebenso wie mit freigiebiger Unterstützung meines eigenen Kunstschaffens. Und nun kann ich nicht viel mehr für ihn tun, als ein paar Dinge im Onlineshop seines Lädchens zu kaufen, so wie ich auch bei anderen Freunden hier und da etwas kaufe, um wenigstens einen Hauch von Not zu mildern, wiewohl auch mein Finanzpolster mehr denn je geradezu fadenscheinig dünn ist. Aber wenn wir als Kleinunternehmer und Künstler nicht genau jetzt zusammen halten — wann dann?

Und immerhin, so denke ich mit einer Art leisen Beschämtseins, geht es bei uns ja nur um die wirtschaftliche Existenz. In Nachbarländern geht es um viel mehr. Dort müssen Ärztinnen und Ärzte entscheiden, wer das letzte Beatmungsgerät bekommt; deutlicher ausgedrückt: Wen sie sterben lassen müssen. Zoos denken über Notschlachtungen nach. Was für ein Gefühl muss es für einen Tierpfleger sein, seinem Elefanten, den er vielleicht seit 30 Jahren pflegt, dem er vielleicht einst eine große Milchflasche ins graue Mäulchen schob, bevor der Elefant zu einem stattlichen Bullen heranwuchs — was für ein Gefühl muss es für einen Pfleger sein, ein letztes Mal in die langbewimperten, weisen Augen dieses Tieres zu sehen, bevor der Tierarzt mit dem Giftpfeil kommt? Um mir die Situation der Entscheidung über ein Menschenleben näher auszumalen, fehlt mir die Kraft. Ich ertrage es nicht. Und weiß doch um die Menschen, die es vielleicht genau in dieser Minute ertragen müssen: Die Schuld. Die Ohnmacht. Die Trauer der Angehörigen. Die Wut. Die Hoffnung der Menschen, deren Angehöriger weiterleben darf.

Es muss weitergehen. Auch in meinem Bekanntenkreis gibt es nun die ersten Infizierten; in Schweden betrauert ein Freund seinen Schwiegervater. Aus dem ersten Infektionsfall in Deutschland — an die Berichterstattung erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen — sind mittlerweile 140.000 Fälle geworden. Wenn dieser Text als Buch erscheint, sind wir mit den Zahlen Gottweißwo. Aber hoffentlich noch am Leben.

Die Insel habe ich nun seit zwei Monaten nicht verlassen. Mir macht das nichts aus, denn noch immer sind wir — bin ich — auf Langeoog überaus privilegiert. Die Natur bietet genügend Auslauf, um sogar einen Mindestabstand von einem Kilometer einzuhalten, wo nötig. Die Läden sind zur Genüge bestückt. Ich beziehe noch mein reguläres Gehalt, wenn auch auf mittlerweile dünnem Eis. ich habe eine Wohnung, in der ich mich wohlfühle und einen Menschen bei mir, der mir in all dem Surrealen täglich ein Gefühl von Wirklichkeit zurückgibt; der mich von innen und außen wärmt und mir nahe ist. 
Auch die Kirche ist nach wie vor geöffnet und streckt mir die weit aufgesperrten Türflügel entgegen wie die Arme eines Freundes: porta patet, cor magis.
Diesen Leitspruch der Zisterzienser hat unsere Pfarrbeauftragte auf einem Schild in die Kirche gestellt — Die Tür steht offen, das Herz noch mehr.

Die Erinnerung an diesen Orden wiederum lässt mein Herz aufgehen wie die Blüten der Kirschbäume in den Gärten rund um St.Nikolaus. So weit weg scheint mir die Erinnerung an den tiefen Frieden im Januar, als ich mein Heil zwischen altehrwürdigen Klostermauern fand; nichtsahnend, in was sich die Welt nur wenig später verwandelt haben würde. Inzwischen ist natürlich auch dort der Ausnahmezustand eingetreten, dem man bestmöglichst und mit tiefem Gottvertrauen entgegenwirkt — aber in meiner Erinnerung ist der Anblick schwarzweißer Gewänder, der Widerhall eilender Schritte und flatternder Chormäntel, der Klang der Stiftsglocken und der Geruch nach Kerzen und uralten Steinen noch immer verknüpft mit einem Gefühl von Klarheit, Geborgenheit, Zuversicht und einer ungeahnt reinen Form von Liebe. Und über all dem liegt diese heilende, nährende Form von Stille, die von dem furchteinflößenden, beunruhigenden und gespenstischen Stillstand des Jetzt nicht weiter entfernt sein könnte.

Ich vermisse meine Eltern und meine Freunde. Es macht einen Unterscheid, ob man sich Monate nicht sieht, weil man gerade keine Zeit oder kein Geld hat, aber es theoretisch könnte — oder ob es schlicht unmöglich ist.
Ein noch recht neuer Freund, den ich aber sehr liebgewonnen habe, hängt seit einigen Wochen quarantänebedingt in Niedersachsen fest. Normalerweise wohnt er wesentlich weiter weg. Nun aber könnte ich sogar für einen Tagesausflug bei ihm sein, wenn nicht der Virus zwischen uns stünde, eine angeordnete Kontaktbeschränkung und eine nichtfahrende Bahn und ein nichtfahrender Bus. Alles vernünftige Maßnahmen, zweifelsohne, aber trotzdem fühlt es sich absurd an. Denn nun ist da diese Sehnsucht. Nach Normalität im Allgemeinen, dem Freund im Besonderen, und ich wünschte, ich könnte mit ihm in Teetassen rühren und über die wolligen Schafe am Deich lachen, mir sein Gesicht in Erinnerung rufen und seine Stimme. Natürlich kann man telefonieren, was wir auch tun; man kann über die sozialen Medien Kontakt halten, auch das geschieht. Dennoch ist da die diffuse Angst, dass die Erinnerung an gemeinsam verbrachte Tage, das freundschaftliche Gefühl gar, nach und nach verschwimmt wie ein Aquarell und sein liebes Gesicht mit dem schlemischen Grinsen bald nur noch eine Ahnung im längst entpackten Reiseköfferchen ist. Womöglich, denke ich, ist alles, was irgendwann von ihm bleibt, diese Zeile aus einem alten Roxette-Song: „All I knew / your eyes so velvet blue.“

Auf der Insel gibt es derweil zaghafte Schritte voran. Einige Läden öffnen für ein paar Stunden, erste Restaurants bieten wieder Essen zum Mitnehmen und Abholen an. Man kann Blumen kaufen und Eishörnchen. Die Plankenwege werden am Strand ausgelegt, als wäre das Schiff mit der ersten Fuhre Tagestouristen schon unterwegs zum Hafen. Fröhlichbunte Strandkörbe werden von Inselbewohnenden probegesessen. „Das ist wie Urlaub“, sagt meine Freundin, als wir auf meinem Balkon in der Sonne Kaffee trinken und sie ihr hübsches Gesicht den wärmenden Strahlen entgegenstreckt. Das Vogelkonzert aus dem Nachbarsgarten dröhnt geradezu in die Stille des Morgens. Ja, denke ich: Es tut gut, für einen Moment zu vergessen, dass das hier keineswegs Urlaub ist.
Und so planen wir eine Zukunft, die mehr als ungewiss ist; abends sehe ich mir im Internet eine Modestrecke und schönes Interieur an. Ich weiß nicht, ob ich mich dafür schämen muss, aber ich spüre, dass mir diese Oasen der oberflächlichen Unbekümmertheit gerade jetzt guttun. An Urlaub denken, an schöne Kleidung und neue Ideen für die Wohnung. Daran, dass ich all das vielleicht bald nicht mehr bezahlen kann, denke ich diesmal nicht.

Momentaufnahme, Rückkehr

Mit dem Erwachen wähne ich mich noch hinter dicken, weißgetünchten Klostermauern. In der Geborgenheit einer Zelle, deren hohes Kreuzgewölbe das Bett überspannt wie ein Wiegenhimmel, während die riesigen Doppelfenster den Blick auf den echten Himmel öffnen. Dahinter rauschen Bach und Bäume. Doch heute wird mich kein früher Glockenschlag zum Gebet rufen, wird kein vertrautes Rascheln langer, weißer Chormäntel mehr durch die Stille eines beeindruckenden Kreuzganges hallen und ich werde nicht mehr den Duft uralter Steine riechen, die ein atemberaubend schöner Brunnen mit kristallklarem Wasser besprengt.
Der Rest des Traums verfliegt: Ich bin auf Langeoog.
Der Tag empfängt mich recht mitleidslos. Kalter Regen schlägt an die Scheiben und sprüht in Fontänen aus den Ablaufrinnen, das Backsteinpflaster ist nass und dunkel wie altes Blut. Meine Balkonblumen, durch die Milde des bisherigen Winters noch immer blühend, biegen sich mit den Böen in die Waagerechte. Ich sehe hinaus; noch nicht ganz da und doch zuhause. 
Auch unsere Kirche ruft zum Gebet, obwohl sie kein Geläut besitzt: Die Sonntagsmesse steht an. Mechanisch suche ich mein Regenzeug zusammen, den Fahrradschlüssel, das Kollektengeld. St.Nikolaus erwartet mich mit der stoischen Ruhe eines alten Freundes, der schon so einigen Kummer mit mir gewohnt ist.
Heute haben wir sogar zwei Zelebranten, sodass der Kontrast zum klösterlichen Konventamt mit einem halben Dutzend Priestern nicht ganz so hart ist, aber natürlich bin ich spürbar zurück in der Diaspora, denn es wird keine Kommunionbank mehr herbeigetragen und niemand hält einem ein silbernes Tellerchen unters Kinn, falls man mit dem HERRN krümelt. Dass ich dafür wieder Messdiener sein, in der Sakristei herumkramen und Fürbitten vortragen darf, tröstet indes über den Abschiedsschmerz. Denn so sehr ich das festliche, strenge Zeremoniell des Ordens auch liebe — in St.Nikolaus habe ich meinen Platz und bin dankbar für jeden Dienst, den ich mit Gottes Hilfe dort verrichten darf.

Nach dem Verräumen der Altargegenstände trete ich vor die Kirchentür. Die Wolken haben sich verzogen: Nun vergoldet die Sonne die Welt. Die See hat sich zurückgezogen, in der Ferne sehe ich ihr schönes Blau glänzen. Das Meer ist Heimat, es wird nie anders sein.
Und doch mäandert mein Herz noch irgendwo zwischen Flughafen und Bahnhöfen, zwischen uralten Mauern, pittoresken Dörfchen, frostüberzuckerten Bäumen, Barockkirchen und bewaldeten Berghängen. Noch kann der Blick auf die geliebte Insel die Erinnerung nicht übermalen. Noch fühle ich die elegante Kühle der hohen Gewölbe, die beschützende und zugleich befreiende Klarheit von weißen, fast schmucklosen Wänden und die haltgebende Verlässlichkeit, mit der der wunderschöne Chorgesang der Mönche die Kapelle erfüllt. Und dann ist da noch all die Pracht hinter den imposanten Toren, die kostbare Handschriftensammlung, die Bücherregale, die gewaltig dimensionierten Gemälde, das Kerzenlicht und all das Gold. Auch der Mensch, der all die Tage bei mir war, ist nicht fort; ich sehe ihn das Auto mit beruhigender Routine durch Serpentinen steuern, gefährliche Abgründe neben uns und über uns ein strahlender Himmel, der die meiste Zeit nicht gnädiger hätte sein können.
Vom ersten Winken durchs Bahnhofsfenster bis zum Reisesegen am Flugsteig war mir dieser Mensch ein zuverlässiger Quell der Beständigkeit und Freude, mit seinem ansteckend breiten Lächeln und der unprätentiösen Herzlichkeit, dem norddeutschen Humor und den graublauen Augen in der Farbe dunkler, sturmgepeitschter See. Ich kann nicht behaupten, ihn nicht zu vermissen.

Ich hatte Angst vor dem Flug, aber die teure Reise im Schlafwagen hatte ich mir nur für den Hinweg leisten können. Seit 13 Jahren der Fliegerei entwöhnt, fühlte ich mich wie ein Fossil angesichts all der technischen Neuerungen, der schieren Größe des Flugplatzes und der industriellen Abfertigung der Reisenden. Ich wollte noch am Boden zurück ins Kloster, zum Freund, zum Wald. Aber die Triebwerke röhrten bereits. „Halt dich am Rosenkranz fest“, hatte er noch gesagt. Und das machte ich auch.
Die Alpen durchbrachen die Wolkendecke wie Inseln. Schön sah das aus; ebenso wie die kleinen Eisblumen am Fenster, die in der Sonne glitzerten. Ein Hauch von Trost schlich sich ins Herz, denn tatsächlich fehlten mir auch das Meer und die Weite. Dann riss der Himmel auf und die Schäfchenwolken unter mir trieben wie Eisschollen vorüber. Grüne Äcker kamen in Sicht und Dörfer, in denen ich sofort nach dem Kirchturm spähte. Aber ich fand keinen, und so musste ich mich wohl der Wahrheit stellen: Die Welt, in der sich der Alltag nach keinem Geläut mehr richtete, hatte mich wieder.

Momentaufnahme, Durchreise

Die Dämmerung hat sich sehr unspektakulär angeschlichen. Irgendwann, ich erwachte lange vor dem Weckerklingeln, hatte sich der Nachthimmel über Bremen zu einem trüben Graurot aufgehellt. Wenig später konnte ich den Turm von St. Johann schon deutlich erkennen. Für die Frühmesse blieb aber keine Zeit; die Weiterreise stand an. Ich verabschiedete mich von den Birgittenschwestern in ihrem schönen, mittelalterlich anmutenden Habit, leerte mein gesammeltes Kleingeld in die Hände der Obdachlosen vor der Kirche und wuchtete mein Gepäck in ein Bahnhofsschließfach. Und dann stand ich da mit sehr viel Zeit und sehr wenig Verpflichtungen: Der Zug nach Hamburg ging erst in vier Stunden. Was blieb? Die Rückkehr in ein früheres Leben.

Und in diesem sitze ich nun im Café des Überseemuseums. Es ist ruhig, aber vermutlich verachten mich die Leute hier trotzdem, weil ich seit Stunden einen Tisch blockiere und mit meinem MacBook am W-LAN schmarotze; ein Klischeebild der digitalen Bohême, die sich für etwas Besseres hält, für so frei und so unabhängig, und dabei doch nur akademisches Prekariat ist, Lückenfüllmaterial im Getriebe eines nimmersatten Marktes.

Die Erinnerung an Berliner Jahre sitzt neben mir wie ein ominöser Schatten. Ich weiß noch, wie neidisch ich in meinem verhassten Marketing-Bürojob war, wenn mir die freien Dienstleister, mit denen ich damals kooperierte, von irgendwelchen Cafés aus schrieben. Aber als ich dann selbst als freier Dienstleister meinem täglich Brot hinterherjagte, anstatt als Angestellter im Büro zu sitzen, war der vermeintliche Glamour dieses Daseins schnell Geschichte. Ständige Unsicherheit im Nacken; dazu die Diskrepanz zwischen dem, was andere Leute dachten, wieviel man verdiente, und dem, was man wirklich erwirtschaftete im Verhältnis zum Aufwand: Dem Klinkenputzen, dem Anmahnen von überfälligen Rechnungen, dem Abarbeiten von Aufträgen unterschiedlichster Coleur: Hier die Website für einen Lastwagenteilezulieferer. Dort der Flyer für den Gourmet-Caterer. Und zwischen den Terminen reichte es eben oft nur zum Abarbeiten der Dinge irgendwo im Café, weil ich am Arsch der Welt wohnte, oder, wie der Berliner sagt, JWD, „Janz weit draußen“.

Jedenfalls bin ich froh, diesem Dasein entronnen zu sein, und spüre, dass ich mich nicht einmal mehr im Urlaub daran gewöhnen möchte.

Das Museumscafé füllt sich. Elegante Hanseatinnen im Businesslook kommen herein, es ist Mittagszeit. Auch ich bestelle etwas zu Essen, ansonsten wäre die Okkupation des großen Tisches für mich allein allmählich wirklich dreist. Bremen ist eine große Stadt, dennoch treffe ich nun zum zweiten Mal an diesem Tage zufällig eine Sopranistin, die auch auf Langeoog öfters sang; seit einer schmeichelhaften Rezension meinerseits hat sie sich offenbar mein Gesicht gemerkt und grüßt freundlich: Auch das zum zweiten Mal.

Und so ist wohl sogar Bremen im Zentrum nur ein Dorf, wo man nicht Vieles unbemerkt tun kann. Aber ich mag Bremen; an mehr Größe könnte und wöllte ich mich nicht mehr gewöhnen. Und an weniger Eleganz auch nicht.

Den Beweis dafür bekomme ich wenig später in Hamburg. Als ich aus dem Zug steige, ist die Sonne soeben als goldener Ball versunken. Schön sah es aus, wie sich die filigrane Eisenbahnbrücke und die Silhouette des Bahnhofs davor abzeichneten. Aber jetzt ist es dunkel, und ich bemerke die Autos: Die roten Lichter ergießen sich wie ein Strom glühender Lava in die Stadt, ich habe lange nicht mehr so viele auf einmal gesehen. In den Bürotürmen sieht man Menschen hinter den Fenstern durch sterile Gänge wieseln, in sterilen Büros sitzen; vereinzelte Topfpflanzen in den Fenstern ein trauriger Rest von Leben. Ich danke Gott, dass dies nicht mehr mein Leben ist. Die Großstadt und ich werden wohl keine Freunde mehr, wiewohl Hamburg, so muss ich zugeben, unter den Molochs dieser Welt vermutlich noch einer der schönsten ist.

Der Anblick all dieser blinkenden Lichter, des Wuselns und Wieselns, gepaart mit einer Geräuschkulisse aus absolut Allem, stresst mich jedenfalls dergestalt, dass es mich umgehend zu einem Ort zieht, an dem ich Stille um mich weiß, dazu hohe Decken und Schönes zum Ansehen. Die Rede ist ausnahmsweise nicht von einer Kirche, sondern von der Hamburger Kunsthalle.
Vor dem imposanten Bau fühle ich mich furchtbar klein; angesichts des atemberaubenden Inhalts auch noch furchtbar untalentiert. Aber das ist mir egal, denn zeitgleich ergreift mich hier sogar ein seltener Anflug von Stolz darüber, der Spezies Mensch anzugehören. Denn wer so baut und so malt, kann nicht von grundauf schlecht sein. Ich schwelge in einer fabelhaften Sonderausstellung impressionistischer Werke, durchstreife viele Räume mit Eigenartigem, Befremdlichen und Faszinierendem, erkenne, dass ich von Kunst im Grunde überhaupt keine Ahnung habe, aber sie mir immer noch einfach gerne ansehe. Ich verlasse das Museum glücklich.

Aus einem nahen Café sehe ich aufgeklappte Apple-Rechner leuchten. Ich bestelle, Provinzler der ich nunmal bin, das, was am Wenigsten exotisch klingt und reihe mich erneut in die digitalen Café-Nomaden ein, bis die Abfahrt des Nachtzuges in die Nähe rückt.
Wieder denke ich über das Unbeständige dieser Art zu arbeiten nach, diese Ruhelosigkeit, die auch ich früher als ultimative Freiheit verstand, aber heute nicht mehr ertragen würde. Wenn das Abenteuer Alltag wird, verliert es schnell seinen Reiz. Das gilt wohl für Affären ebenso wie fürs MacBook-Vagabundentum.

Und nun möchte nicht länger auf Durchreise sein. Ich bin dankbar für alles, was ich an diesem Tage erlebte, aber nun möchte ich ankommen; nun möchte ich wissen, was mich hinter der nächsten Straßenecke erwartet.

Ich möchte ein liebes Gesicht sehen, das mich am Bahnhof abholt, Jahrhunderte alte Gesänge hören und noch ältere Gebete sprechen; umgeben von uralten, sicheren Mauern, einem guten, durchbeteten Raum und der stillen, dunklen Anmut des Waldes. In 12 Stunden werde ich da sein.

Momentaufnahme, Skellig

Der Hochsommer hält die Insel in glühenden Zangen. Zwei große Bundesländer haben gleichzeitig Schulferien, die Insel biegt sich vor Touristen.
Die Regale der Lebensmittelgeschäfte sind leer, die Restaurants voll. Vor der Bäckerei, den Eiscafés und Fischbuden bilden sich meterlange Schlangen. Wer auf der Insel lebt und kein Privatier ist, ackert bis zum Umfallen. Es ist laut, es ist wuselig, fast nirgends im Dorf oder an den dorfnahen Strandabschnitten finden Augen und Ohr noch Ruhe. Statt einsamem Vogelruf und Brandungsrauschen: Trotzgebrüll, Ehekrach, wildes Fahrradklingeln und dröhnende Lautsprecher.
Nachts findet man der Wärme wegen kaum Schlaf, und morgens geht es sehr früh mit den Aktivitäten der menschlichen Mitbewohner rund. Ich kann nicht behaupten, dass dies meine Lieblingszeit auf Langeoog wäre.

„Ich fühle mich wie ein Strandspielzeug, bei dem man die Luft rausgelassen hat“, klage ich am Morgen einem Freund, und tatsächlich schleppe ich mich reichlich geplättet durch den Tag: Uninspiriert und übermüdet.
Urlaub muss her. Also genehmige ich mir einen halben freien Tag, miete ein Pedelec und mache mich auf ans Ostende.

Schon kurz vor dem Deich zerrt heftiger Gegenwind an mir, was mich für das treue Summen des Hilfsmotors an meinem Rad überaus dankbar sein lässt. Auf diese Weise ist die Fahrt nicht anstrengend; dennoch ist der Wind unangenehm. Ich blende sein ohrenbetäubendes Rasen aus, indem ich mir die Ohren mit Musik verstöpsele. Loreena McKennitt soll mich begleiten, bis die Langeooger Zivilisation außer Sicht- und Hörweite ist. Die zeitlose Melancholie der Melodien und Texte lässt mich von kühlenden Regennächten, taufeuchter, grüner Weite und schattigen Wäldern träumen, von rauen Klippen, tosender See, von Loyalität, Mut und Gottvertrauen.

Many a year was I
Perched out upon the sea
The waves would wash my tears,
The wind my memory

Vor den Schloppseen mache ich Halt. Das Wasser gleißt tintenblau unter einem makellosen Himmel. Der große Schlopp liegt eingebettet in ein wogendes Blüten- und Schilfmeer wie in einem bunt bezogenen Federkissen. Gänse ziehen vorbei, auf dem Absperrdraht am Ufer reihen sich Schwalben wie eine schwarzglänzende Perlenkette.
Unweit davon ruht ein Turmfalke auf einem Pfosten. Einige Menschen sind mit großen Objektiven nah an ihn herangerobbt, aber es beeindruckt den eleganten Vogel nicht. Mit seinen schönen, dunklen Augen blickt er um sich, aufrecht und würdevoll. Gegenüber, in den Salzwiesen, kreisen Austernfischereltern warnend über ihrem Nachwuchs.

I’d hear the ocean breathe
Exhale upon the shore
I knew the tempest’s blood
Its wrath I would endure

Das Lied, das mich derweil in seinen Bann zieht, heißt „Skellig“ wie die Felseninsel vor Irland, die einst ein Kloster beherbergte. Heute wohnen dort nur noch Seevögel, die Mönche sind seit Jahrhunderten fort. Eine liebe Freundin war einst dort, sie zeigte mir Fotos des schwarzglänzenden Gesteins, der Ruinen des Klosterfriedhofs und Bilder der Papageientaucher, die aus dem Dunst über dem Boot auftauchten. Ihre Erzählungen dazu ließen mich die kalte Gischt auf der Haut spüren, den Schiffsdiesel riechen und die eigenartig unmelodischen Schreie der clownesken Alkenvögel hören. Ich spürte die Erschütterungen der Wellen und ihren dumpfen Aufschlag am Bootsrumpf; die Freundin drehte sich zu mir um und lachte, aber in Wirklichkeit saßen wir gar nicht zusammen im Boot vor Skellig, sondern nur auf ihrem Sofa.

And so the years went by
Within my rocky cell
With only a mouse or bird
My friend, I loved them well
Am Vogelwärterhaus wird es Zeit für eine Rast. Die schönen Kiefern hinter dem Haus beschatten die Aussichtsplattform; hinter der Vogelkiekerwand baden Nilgänse, Möwen und etliche Entenarten in einem Tümpel.
Der Ranger ist gerade dabei, sein Büro abzuschließen, ich sitze mit ihm noch eine Weile vorm Haus.
Vor uns liegen Salzwiese und Vogelkolonie, die allgegenwärtigen Schwalben nisten in der Dachkonstruktion über uns und fliegen zwitschernd ein- und aus. „Das erinnert mich an meine Kindheit“, erzählt der Ranger, „aber wer kennt das heute schon noch.“ Ich lächele und nicke.
Der Menschenlärm ist verstummt, auch der Wind hat nachgelassen. Und so plaudern der Ranger und ich noch ein wenig in die Stille des späten Nachmittags; uns gegenseitig darin bestätigend, welch Glück es ist, hier leben zu dürfen.
Vor dem Abschied verrät mir der Naturexperte noch eine Stelle, an der ich auf Sumpfohreulen treffen könnte. Ich bedanke mich und setze meinen Weg fort.
Über dem Rainfarn links und rechts des Weges tanzen winzige blaue Schmetterlinge, Spatzen klammern sich an üppig erblühte Stauden von Schafgarbe, die schweren Blütendolden taumeln im Wind.

Hinter der Meierei finde ich mehrere Möwenkadaver. Vielleicht vom Hund gerissen, vielleicht vom Habicht. Aber auch das ist Natur. Die Wiese leuchtet derweil in ihren schönsten Farben. Auch hier sind die Schwalben, sie begleiten mich in beeindruckender Geschwindigkeit auf meinem Weg. Ich muss an den heiligen Franziskus denken, wie er den Vögeln predigte, denn auch ich könnte das jetzt problemlos tun, weil die gefiederte Gemeinde ja förmlich an meinen Reifen hängt. Indes: Mir fehlt die Heiligkeit, also erfreue ich mich nur leise an meinen kleinen Weggefährten.

Als ich den Osterhook erreiche, herrscht brüllende Hitze. Ich fühle meine Unterarme verbrennen, aber noch ist der Schatten weit. Es herrscht Niedrigwasser, auf den verschlickten Wattflächen sammeln sich Lemikolen, am Strand liegt der Überrest eines angespülten Schleppnetzes. Dass der Mensch auch überall seine Spuren hinterlassen muss, denke ich traurig. Das Nylonnetz wird noch intakt sein, wenn ich längst verwest bin. Und ist es nicht seltsam? — So vieles erschaffen wir für die Ewigkeit. Und gleichzeitig machen wir so viel kaputt. Und das nicht nur in der Natur, sondern auch in uns. Und zwischen uns.
Die Zeitungen waren voll von Abscheulichkeiten in der letzten Zeit, Hass und Elend überall, und nicht einmal die Kirche ist frei davon. Verglichen mit anderen Ländern und früheren Zeiten geht es uns immer noch verdammt gut, das ja — aber manchmal hege ich Zweifel, ob das so bleibt. Wir sollten in nichts zu sicher sein.

In der Wetterhütte am Osterhook sitzen einige erschöpfte Menschen, ich stelle mich dankbar unter das schattenspendende Dach. Spiekeroog liegt nur ein schmales Seegatt von mir entfernt, ich kann die katholische Kirche der Nachbarinsel von hier aus sehen.

Zwischen St. Peter und mir, auf einer Sandbank im Gatt, scharen sich Möwen um ein angespültes Wrackteil. Auf einer weiteren Sandbank haben sich Segler trockenfallen lassen. Ich bleibe, bis die anderen Menschen gegangen sind. Dann bin ich allein. Nichts ist zu hören außer dem Wind, der durchs Schilfrohr streift, den Lauten der Vögel und der See. Durch meine Zehen quillt Sand, die unzähligen kleinen Muschelschalen schmerzen etwas unter den Sohlen, ebenso wie die sonnenverbrannte Haut. Aber es macht mir nichts aus. Denn hier ist sie: meine ersehnte Einsiedelei, meine Kirche, mein Kloster. My little Skellig. Der Heimweg hat Zeit.

O light the candle, John
The daylight’s almost gone
The birds have sung their last
The bells call all to mass
(Liedzeilen entnommen aus: Loreena McKennitt, „Skellig“. Album: „The Book of Secrets“, 1997. ©Quinlan Road)