Momentaufnahme, Ruhepol

Der Himmel gibt sich heute alle Mühe, um einen nicht vergessen zu lassen, warum es auf Langeoog schön ist. Vor dem Korallenrot und Gold des Sonnenuntergangs präsentieren sich winzige Wölkenflöckchen, schwungvolle Federwolken und Wolkenfelder, die aussehen wie ein Strang ordentlich gekämmter Wolle. Darunter glänzt silbrig die unendliche Weite des Meeres.
Dass sich in den Duft nach Seewasser noch der Diesel der Baufahrzeuge mischt, die zurzeit eine Strandaufspülung bewerkstelligen — geschenkt; ebenso wie das Hämmern und Rumpeln des Sand-Wasser-Gemischs, das durch die ausgelegten Rohre schießt. Die Maßnahme ist nötig, und sie hilft uns allen. Sie verspricht mehr Sicherheit für die nächste Sturmflutsaison und ein noch höheres Maß an Geborgenheit auf der bis dahin hoffentlich etwas einsameren Insel.

Noch immer hat der Saisonbetrieb nicht nachgelassen, obwohl an den Bäumen bereits die ersten Kastanien reifen und auch der Sanddorn bald in voller Pracht steht. An manchen Morgen riecht auch die Luft schon herbstlich, aber die Tage sind immer noch gefühlter Hochsommer. Es ist so heiß, dass man nicht bei geschlossenem Fenster arbeiten oder gar schlafen kann. Lässt man aber die Fenster offen, so dringt unablässig Lärm herein, der an Konzentration und Nerven zerrt. Ich kann nicht behaupten, dass ich diese Zeit genieße. Viele Bekannte machen derzeit auf Langeoog Urlaub, und gerne sähe ich den einen oder die andere davon, aber die Saison raubt mir jede Kraft zum Socializing. „Kommt im Herbst wieder, im Winter oder im Frühjahr“, sage ich dann, und die meisten verstehen das sogar. 
Nicht einmal die Freundin sehe ich zurzeit in nennenswerter Menge, denn zum einen sind unsere Arbeitszeiten reichlich (und reichlich verschieden), und zum anderen möchte man nicht noch unbedingt ein 37°C warmes Lebewesen neben sich im Bett haben, wenn man in der winzigen Wohnung ohnehin schon das Schicksal des heiligen Laurentius teilt, den man bekanntlich lebendig grillte.

Jetzt am Strand aber ist sie bei mir, und sie ist mir die Insel der Ruhe, die Langeoog zurzeit nicht sein kann. Ich bin dankbar für ihre Anwesenheit und sehne den stillen Tagen entgegen, in der mehr Zeit für ein Miteinander bleibt und die ständige Reizüberflutung durch die Vielzahl an Menschen endlich zum Stillstand gelangt.
An manchen Tagen der Hauptsaison fällt es mir schwer, nicht in einen Zustand von Anhedonie zu verfallen; und ja, es gab sogar schon Momente, in denen ich an meinem geliebten Meer stand und fürchtete, dass das mit mir und Langeoog doch irgendwann enden könnte — und zwar auf eine Weise, wie sie Erich Kästner in seinem Gedicht „Sachliche Romanze“ unübertrefflich beschreibt:



„Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut. (…)“

Aber dann stellte ich mir vor, wie es wäre, wieder kilometerweit vom Meer entfernt zu leben, und jeder Zweifel an der Haltbarkeit meiner Liebe zur Insel war unverzüglich ausgeräumt. Ich habe hier das Beste aller bisherigen Leben, und es ist zweifelsohne eine große Quelle des Unglücks, nur auf das zu schauen, was man nicht hat, anstatt sich seines aktuellen Beschenktseins bewusst zu werden. Die Hauptsaison ist für jemanden mit meinem Naturell schwer auszuhalten; das ist sie jedes Jahr — aber ich erfahre auch immer wieder, dass sich das Aushalten lohnt.

Eines der schönsten Geschenke dieses Jahres klettert soeben über die Rohre im Sand, um zu den Strandkörben zu gelangen, und ich bin froh, dass ich nichts weiter tun muss, als ihr zu folgen. Dass ich nichts haben, nichts sein und nichts beweisen muss, und sie trotzdem bei mir sein will; dass ich für ihre Liebe nichts tun muss, außer zu existieren. Ich war in dieser Lage nicht oft, aber das ist wohl das vielbesungene Wunder der Liebe. Liebe, so denke ich, gibt einem wohl immer exakt das, was man gerade braucht: Liebe bringt Stille in den Lärm, liefert Zerstreuung, wo man angespannt ist, und die gemeinsamen Träume vom Winter bringen sogar etwas Kühlung in diese heißen Tage. Die Liebe ist mein Schutzschild in Zeiten des ständigen Ausgeliefertseins; die Rettungsinsel im Menschenmeer. Auch der heilige Bernhard von Clairvaux, dessen Gedenktag heute gefeiert wurde, hat zum Thema „Liebe als Ruhepol“ etwas sehr Schönes gesagt: 
“Wir finden innere Ruhe bei denen, die wir lieben und schaffen Orte der Ruhe in uns für jene, die uns lieben.“

Die Freundin wird mir fehlen, wenn ich mich für meinen Herbsturlaub alleine in die vollkommene Stille verabschiede, aber es ist ein gutes Gefühl, dass sie mit einer vergleichbaren Unaufdringlichkeit, Anmut und Tiefe auf mich warten wird, wie der Wald, in den ich mich flüchte.

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Momentaufnahme, Lärm

Endlich ist es still. Der Regen hat die Menschen vom Strand vertrieben und auch von den Straßen. Das Pflaster hat sich dunkel gefärbt. In den Blütenkelchen und Blättern entlang des Weges sammeln sich Tropfen; glasklar und schimmernd. Der sandige Boden hat das Wasser längst aufgesogen. Das braune, verdorrte Gras ist nicht mehr zu retten. Aber schon morgen, das weiß ich, werden sich zarte, grüne Halme dazwischen zeigen. Der Regen wirkt dieses Wunder, immer wieder.
„Ist es nicht wunderbar?“, fragt eine befreundete Langeoogerin, „die Luft riecht nach Pflanzen, nach Erde.“ Es riecht nach Leben. Und zugleich herrscht diese balsamische, befriedende Stille.

Auf der Sandfläche hinter dem Priel, wo sonst die Gäste toben, hat sich eine Kolonie Lachmöwen versammelt, die sich putzen oder schlafen; die schwarzen Köpfchen ins Gefieder gesteckt. Ansonsten ist der Strand leer und die Strandkörbe sind verwaist. Große Silbermöwen kreisen über dem Wasser, ab und zu trägt der Wind ihre Rufe ans Ufer. Am Horizont liegen riesige Frachter auf Reede, eine unserer Fähren kehrt zurück aus der Werft. Auch auf ihr ist es jetzt still und leer.

Zurzeit ist ein junger Jesuit aus Schweden zu Gast. Zum Fest dreier skandinavischer Märtyrer singt er mit uns ein schwedisches Kirchenlied. „Nu sjunker bullret“ heißt es, „Jetzt legt sich der Lärm“. „Eigentlich passt das ja gar nicht hierher“, sagt er lachend, „hier ist es doch so schön friedlich.“
„Schön wär’s“, sage ich zu dem hochgewachsenen blonden Mann. „In der Natur finden Sie hier Stille, ja. Aber ansonsten ist man auch auf Langeoog froh, wenn sich all der Lärm und Aufruhr am Abend legt. Ich finde, es passt daher sehr gut zur Abendmesse.“ Der Geistliche scheint erstaunt; offenbar ist er froh, dem hektischen Stockholm für eine Weile entkommen zu sein. Aber man kann es nicht beschönigen: Es gibt auch auf einer Insel Getöse genug. Und damit meine ich nicht einmal die übliche Saisonmischung aus Fahrradklingeln, Kindergeschrei, Ehekrächen und Pubertierenden mit dröhnenden Musikboxen.

Es knirscht gewaltig im lokalpolitischen Gebälk dieser Tage. War schon das Wahlkampfgetöse mitunter unappetitlich genug, so geht es nun munter weiter mit Nazikram und Lynchgejohle, und man fragt sich zuweilen einfach nur noch, ob das Langeooger Trinkwasser vielleicht doch nicht mehr so gut ist, wie alle behaupten. Andererseits: Warum sollten in den Mikrokosmos „Insel“ nicht alle Widerwärtigkeiten Einzug halten, die zurzeit auch den Rest Deutschlands und Europas beuteln? Und dennoch streife auch ich recht ratlos durch die duftenden, regenfeuchten Dünen und frage mich, warum der Mensch seine Hässlichkeiten eigentlich in alle Ecken dieser wundervollen Welt tragen muss.
Zugleich frage ich mich, wann eigentlich der Punkt gekommen ist, wo es für einen Schriftsteller von der Kür zur Pflicht wird, politisch zu sein.
Es ist schwer dieser Tage, und ich beneide niemanden zurzeit um ein öffentliches Amt. Was kann man da schon noch richtig machen? Die Leute sind nicht mehr zum Zuhören bereit, alles ist überemotionalisiert, es sind hysterische Zeiten. Von selbsternannten „Leistungsträgern“ wird über nutzlose Geisteswissenschaftler geschimpft, aber wohin wir gelangen, wenn niemand mehr gegenwärtige Phänomene in einen historischen oder kulturellen Kontext einordnen kann oder mangels Allgemeinbildung einfach keinerlei Gefühl mehr für Sagbares und Unsagbares hat — das sieht man an jeder Ecke und in jeder Kommentarspalte. 
Auch das moralische Abwägen scheint aus der Mode; die Notwendigkeit, zuweilen auch unangenehme Entscheidungen zu Gunsten des Friedens und zum Erhalt des Wohlstands aller treffen zu müssen. Man kann nicht alles einfach alles und jeden nach Rechts oder Links sortieren, nach Gut oder Böse. Und alle Extreme schaden.

Man weiß doch zum Beispiel gar nicht mehr, wo man überhaupt noch ansetzen soll, um den Menschen klarzumachen, wieviel ein funktionierender Rechtsstaat Wert ist. Und das, obwohl sich etliche Landsleute noch gut an das Unrechtsregime der DDR erinnern können — wo es „Zeugen“ im Dutzend billiger gab und eine Unschuldsvermutung nichts galt. Desgleichen in anderen totalitären Regimes. Als ich in China lebte, hörte ich früh morgens manchmal die Erschießungen im angrenzenden Volksgerichtshof. Minutenkurze Prozesse, unbequeme Leute, angeschwärzt von irgendwem.
Und selbst wenn es letztlich Schuldige traf: Jeder, absolut jeder hat das Recht auf einen fairen Prozess. Auch Nazis. Auch Kinderschänder. Auch kriminell gewordene Geflüchtete. Und absolut niemand hat das Recht, andere dazu aufzuwiegeln, Verdächtige an die nächste Straßenlaterne zu hängen oder auch nur deren Fensterscheiben einzuwerfen, egal, welches Verbrechens man diese Leute beschuldigt.
Ich bin überzeugter Demokrat. Ich lebe gerne in Deutschland, denn tatsächlich haben wir es hier mit vielen Dingen einfach verdammt gut, und wer das nicht weiß, hat sich offenbar noch nie mit anderen politischen Systemen beschäftigt. Ich bin gerne Europäer, Christ und Katholik. Ich mag unsere Kultur, die christlichen Werte und unsere gesellschaftlichen Errungenschaften. Ich mag unser Freiheitsideal und die europäische Idee. Ich mag Vernunft. Und ich mag Gerechtigkeit. — Gerechtigkeit auf Basis universell geltender Gesetze, nicht aufgrund irgendeines subjektiven Empfindens, nicht aufgrund einer gefühlten Mehrheitsmeinung, nicht aufgrund des Gebrülls irgendeines Mobs, nicht aufgrund irgendeiner hochemotionalisierten Debatte. 
Das letzte, endgültige Gericht liegt sowieso nicht in unserer Hand.

Es ist traurig, dass wir in Zeiten leben, in denen man für einen Satz wie „Ich mag Deutschland“ als rechtspopulistisch einsortiert wird und für die Selbstverständlichkeit, Menschen nicht ertrinken lassen zu wollen, als linksextrem. Es ist schier zum Verzweifeln, wenn eine Welt, die uns täglich mit Millionen von Farbnuancen erfreut, nur noch schwarzweiß betrachtet wird. Und mich ängstigt, dass in einer Welt, die geradezu platzt vor lauter Lärm und Geschwätz, kaum noch jemand wirklich miteinander redet. Auch deshalb, denke ich, während ich mich in einem der noch sonnenwarmen Strandkörbe niederlasse, liebe ich die Stille.

Momentaufnahme, Worte

„Es sind so viele Worte in mir, dass ich nicht mehr sprechen kann“, schreibt ein Freund, der an einer chronifizierten Depression leidet und zurzeit leider erneut eine Episode durchmacht. Ich weiß genau, was er meint. 
Auch mir scheint es zunehmend, als bestünde die Welt nur noch aus Schweigen oder Geschwätz.
Dabei meine ich natürlich keine heilsame, andächtige Form der Stille; nicht die Ruhe, zu der man sich zuweilen zwingen muss, um überhaupt noch etwas hören zu können. Es ist vielmehr ein destruktives Schweigen gemeint, ein feiges Schweigen oder ein Weghören.
Und das Geschwätz? Auch Prosa ist lediglich zu Papier gebrachtes Geschwätz, mögen kritische Geister hier anmerken, und das nicht zu Unrecht. Aber wenigstens behelligt man niemanden damit, der es nicht will: Bücher und Zeitungen lassen sich zuschlagen, wenn sie nerven, oder, wenn sie auch sonst nutzlos scheinen, wenigstens noch zum Zuschlagen benutzen, um damit wiederum Mücken und anderes Getier zum Schweigen zu bringen.

Wer in der Natur Ruhe sucht, kennt das: Man steht am Dünenrand, die Aufmerksamkeit auf den wundervollen Gesang eines kleinen Vogels gerichtet, der, auf einem Busch thronend, ein Konzert gibt. Oder man zoomt in ehrfürchtigem Staunen soeben einen Schmetterling heran, der seine kleinen Kunstwerke von Flügeln auf einer Blüte ausbreitet. Und dann poltert eine Gruppe heran und quillt lärmend über den schmalen Pfad, auf dem man sich gerade noch eins mit der Schöpfung in balsamischem Frieden wähnte. Der Vogel ist weg, der Schmetterling und die Ruhe ebenso. Dafür leeres Geplapper, oft von so einer eindrucksvollen Sinnlosigkeit, dass die Vermutung naheliegt, dass dieses Erzeugen von Tönen („Gespräch“ möchte ich gar nicht nennen, was ich da zu hören bekomme) einzig dem Zweck dient, Stille zu vernichten, Anwesenheit zu demonstrieren sowie dem Einnehmen und Beherrschen des Raumes.

Manchmal wundern sich Menschen, dass ich nicht gern rede, dass mir Smalltalk zuwider ist. Aber wie sollte man nicht süchtig nach Stille werden, nach der Reduktion von Konversation auf ihre Essenz, wenn man pausenlos mit Worten zugeschüttet wird, zusätzlich zu all dem Lärm der — und damit zurück zu den Worten des Freundes — ohnehin schon im Inneren herrscht? Auch meiner Seele und meinem Herzen würde ich zuweilen gerne harsch das Geschwätz verbieten, da bin ich durchaus nicht nur gegenüber anderen rabiat.
Entspannungsübungen, Achtsamkeit, Meditation von A-Z, Yoga, Jacobsen, Autogenes Training, Beten: All das hat man durch. Aber manchmal hilft nichts von alledem mehr gegen Lärm und Reizüberflutung und man kapituliert im Wartezimmer des Doktors, um mit einer Schachtel pharmazeutischer Instant-Ruhe in der Hand heimzukehren.

Es ist ein Paradox, dass die Menschheit sich in einer so lauten und geschwätzigen Welt dennoch oftmals gar nichts zu sagen hat; dass die Worte, sonst im Überfluss vorhanden, gerade dort fehlen, wo sie am meisten vonnöten wären.
Zumal die Stimmen, die man gern hören würde — zusammengefasst: Die der Vernunft — meist nicht die Lautesten sind.
Auf der anderen Seite dann all das Gebrüll. All dieser laute Hass, diese Kakophonie der Dummheit. Dazu all die Hysterie und enervierende Opfermentalität, das brachial-aktivistische Verlieren im Klein-Klein, quer durch alle politischen Lager. Während Menschen, denen wirklich Unrecht geschieht, schweigen. Weil ihnen die Worte fehlen, weil sie übertönt werden, weil niemand zuhört, weil sie zum Schweigen gebracht werden.

Dieser Tage sah ich eine Fotografie der Bibliothek des Trinity College in Dublin: Ein Traum, ich möchte dort unbedingt einmal hin. Zugleich macht es mich unendlich traurig, all das gesammelte Wissen der Menschen dort zu sehen, wenn sie ja doch nichts daraus lernen. Und wenn ich in meiner theologischen Literatur Berichte über die Große Kartause finde, erfüllt mich das mitunter mit einem gewissen Neid. Denn obwohl ich vom Worteerzeugen lebe und Bücher seit frühester Kindheit mein Lebenselixier sind, möchte auch ich zuweilen einfach nur noch in das ganz große Schweigen verfallen, alle Leitungen kappen und irgendwo in der Eremitage den Rest meiner Tage verbringen; still, aber unbeugsam wie ein Schilfrohr, allein empfänglich für das Singen des Windes, die Choräle, die Zwiesprache mit Gott.
Der Abt hört dort einmal am Tag Radio, so las ich, um die Mönche so knapp wie möglich über Vorgänge in der Welt zu informieren, und ansonsten ist Ruhe. Herrlich.

Immerhin: Ein Klosteraufenthalt auf Zeit naht. Bei nicht allzu verschwiegenen Mönchen, aber ich habe am Anfang meines Katholikendaseins ja auch noch viele Fragen, also kommt mir das durchaus entgegen. Sprechen, um zu lernen, ist immer gut.
Morgen, so fällt mir beim Blick auf den Kalender auf — er zeigt bereits eine Herbstlaubumrankte Haustür in England — bin ich ein halbes Jahr katholisch. Manchmal kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Manchmal, als sei es gestern gewesen. Ich kann nicht behaupten, dass 2018 bis hierher ein besonders gutes Jahr war, weder privat noch weltpolitisch. Aber zur Kirche gehe ich hier gern. Sie ist schließlich der einzige Ort, an dem man in Gemeinschaft schweigen kann, ohne dafür komisch angesehen zu werden.
Dem Militärpfarrer, der mich firmte, pfeifen längst wieder in irgendeinem „sicheren Herkunftsland“ Gewehrkugeln um den Pileolus. Afghanistan, Mali, was weiß ich.
Im Moment leistet ein Jesuit als Kurpriester bei uns Dienst, und es hat etwas nahezu Rührendes, wie unbeirrt er in friedlosen Zeiten wie diesen von Frieden und Versöhnung predigt, wo einem vor der Kirchentür doch ununterbrochen Unbarmherzigkeit und Unversöhnlichkeit entgegenschlagen und auch die Kirche selbst zurzeit von Kriegen im Inneren zerfleddert wird. Der Pater weiß natürlich um all das und als langjähriger Missionar hat er vermutlich mehr Elend gesehen, als wir uns im relativ wohlstandssatten Deutschland vorstellen können, aber er hält daran fest — offenkundig — dass ein Friede im Inneren möglich ist, und damit auch eine friedlichere Welt. Zum Friedensgruß steigt er die Altarstufen hinab und geht durch die Bänke, bis er auch dem und der Letzten in der Messe „Der Friede sei mit Dir“ gesagt und die Hand gegeben hat und ich weiß nicht, ob sein — trotz des ergrauten Hauptes — alterslos-jungenhaftes Gesicht dabei tapfer oder traurig aussieht.

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Momentaufnahme, Knall

Um 17 Uhr herrscht bereits Krieg. Als ich aus dem Haus trete, liegt der Geruch von Schwarzpulver in der Luft. Seit zwei Tagen wird geknallt, in den Dünen liegen die leeren Plastikhülsen der Böller. „Wer Böller kauft, hat kleine Pimmel“ schreibt eine befreundete Berliner Drag-Queen. Das kann ich so nicht verifizieren, da ich keinerlei Ambitionen hätte, bei Leuten, die bereits zwei Tage vor Neujahr an Pyrotechnik dilettieren, überhaupt nachzuschauen, aber die pädagogische Intention der Drag-Queen weiß ich zu würdigen. Schließlich erreicht man heutzutage fast nur noch mit dergestalten Ansagen seine Zielgruppe.

Mir indes zerrt es an den Nerven. Mein Hund hat Todesangst. Dennoch müssen wir es wagen, eine spätere Runde ist ausgeschlossen: Es würde ja nur immer schlimmer. Kaum sind wir ums Eck, geht der nächste Böller los; schemenhaft sieht man grölende Menschen in Gärten herumfuchteln. Der Hund bellt und springt, er ist kaum zu bändigen. 
Die Möwen auf dem Dachfirst, sonst furchtlose Kreaturen, stieben aufgeregt auseinander; noch minutenlang hört man verstörtes Krächzen und Flügelschlagen. 
Wenig später trifft es einen Schwarm Gänse, der auf einem der Äcker ruhte. Panische Rufe, das Geräusch hunderter in Hast ausgebreiteter Schwingen.
 Am Himmel Lichtfontänen.

Früher fand ich das mal schön. Ich finde es immer noch schön, wenn es in Städten von Profis, in festem Zeitrahmen, irgendwo über einem Hafen oder auf einer Brache abgebrannt wird. Aber im Naturschutzgebiet?

Ich sehe der roten Feuerblume, die sich da am Nachthimmel entfaltet, ärgerlich hinterher, während ich das wimmernde Tier streichele. 
Spitzfindige behaupten an dieser Stelle gern, dass das Naturschutzgebiet ja erst am Dorfrand anfinge und das Ballern im Dorf erlaubt sei — nur, frage ich mich: Cui bono? Welches Tier schreckt denn nicht dennoch in der Ruhezone I, die man nicht einmal betreten darf, auf, wenn keine 150 Meter entfernt davon die Hölle losbricht? 


Es ist bereits stockdunkel. Gardinen scheinen in Ferienwohnungen nicht mehr en vogue zu sein, vermutlich ist das Waschen zu aufwändig. Man kann überall durch die Fenster sehen. Menschen sitzen um Tische. Teenies über elektronischen Geräten. Eine Frau sieht sich strickend eine Naturdokumentation auf einem riesigen Fernseher an. Ein Pärchen liegt ungeniert im Bett, direkt vor dem großen Panoramafenster zur Terrasse. Eine Familie hat sich in einem Raum versammelt. Der Patriarch erklärt gestikulierend irgendetwas. Frau und Nachkommen lauschen gesenkten Hauptes. Mit Topfhandschuhen wird eine Auflaufform aus dem Ofen gezogen. 
Auf der Straße ist es still, vom Böllerlärm und gelegentlichem Auflachen irgendwo einmal abgesehen. Man hört keine Kinder, keine Gespräche, keine Schritte.
Die Leute sind drinnen und bereiten sich auf die Nacht vor. Das Naturschutzgebiet um sie herum liegt in einsamer Schönheit, die Dünenkette reckt sich schwarz in den Nachthimmel, über den blaue Wolkenflecken ziehen. Der Abendstern prangt in voller Schönheit.


Ich gehe durchs Dorf. Die Restaurants sind überfüllt, die Regale der Spirituosenhandlung leergeräumt. Um den Glühweinstand herum hat bereits die Luft mehrere Promille. Ich zerre den Hund von Erbrochenem weg. Es ist jetzt 17:30. 

Die Insel quillt über. Wenn man die Tage durchs Dorf ging und auf den Boden sah, um nach dem Hund zu schauen, oder weil einem im Regen die Kapuze ins Gesicht rutschte, so sah man nichts als Beinebeinebeine. Am Strand ein ähnliches Bild. 
Es ist zu voll: Silvester ist Hauptsaison.

Riesige Familienverbände. Weinselige Kegelschwestern und -brüder. Gruppen von Pärchen mit erschreckend genderstereotypem Gebaren: Die Männer geben an und sind laut, die Frauen kreischen. Ein paar Kinder, aber nicht so viele wie in der Hauptsaison. Viele Hunde.


Das Meer sabotiert den Trubel. Es ist von einem so leblosen Aluminumgrau, als wolle es sich unsichtbar machen, und auch die Brandung ist nur als „langweilig“ zu bezeichnen: Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen!


Um 18:00 Uhr ist Messe. Es ist überraschend voll, warm und friedlich. Ging man noch mit Ängsten und Sorgen hinein, so kam man friedlich und voller Zuversicht hinaus. „Von guten Mächten“ wurde gesungen und man kann nur einmal mehr in ehrfürchtiger Demut vor Dietrich Bonnhoeffer sein Haupt neigen, der diesen wärmenden, mutmachenden und hoffnungsvollen Text im Gefängnis vor seiner Hinrichtung schrieb. 

Aber auch während der Messe pfeift und knallt es um die Kirche herum; nicht einmal die Orgel vermag die Knallerei zu übertönen, auch nicht die Gemeinde.

Ich denke an die letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Krieges, denen das Flakfeuer noch in den Ohren klingt, die Detonation der Bomben. Meine Oma mochte kein Silvester. 
Ich beeile mich, heimzukommen zum Hund.

Normalität soll man demonstrieren, wenn die Tiere Angst haben, also beschäftige ich mich mit Hausarbeiten, koche, mache Wäsche. Aber bei jedem Böller dreht er vollkommen durch; nur wenn ich mich neben ihn setze, ihn halte und streichele, ist Ruhe. Inzwischen — es ist immer noch weit VOR Mitternacht — kommen die Schüsse fast pausenlos. Irgendwann gebe ich auf und lege mich neben das Hundebett, eine Hand auf dem Tier. Sobald ich aufhöre, ihn zu streicheln, springt er wieder auf, läuft zum Fenster, bellt und bellt und bellt, bis er heiser ist und würgt. 
Um 23 Uhr sind wir mit den Nerven Parterre, um Mitternacht kauern wir zusammen auf dem Fußboden; ich berge das weinende Fellbündel in den Armen.

Gegen 1 Uhr lässt das Knallen nach. Der Hund fällt sofort in Erschöpfungsschlaf. Meine Neujahrsbotschaft an den Lieblingsmenschen und die Eltern fällt einzeilig aus; auch ich kann die Augen nicht aufhalten: Es ist ja schon die zweite schlaflose Nacht, denn sobald Böller verkauft werden, wird auch geböllert.



Am Morgen werde ich gegen 7 wach, der Hund döst. Ich wecke ihn auf zur Runde. Die ersten 100 Meter pisst und pisst er, 12 Stunden eingehalten hat er, und ich bin stolz auf ihn, wie gut er das geschafft hat, auch wenn er mir sehr Leid tut. 
Die Straßen sind leer. Aus der Dämmerung schält sich das erste Licht, die Venus strahlt noch immer. Irgendwo grölen letzte Schnapsleichen.

In der Straße mit den hübschen, gepflegten Häuschen der Wehrmachtsoffiziere liegt alles voll Müll: Plastik, Pulverreste, Papier. 
In den Tourismusprospekten sieht man diese Straßen im Sonnenschein, Fasane staksen darüber, von den Zierkirschen rieseln Blütenblätter.
Langeoog, das Naturparadies. 

Um 10 zieren winzige Schäfchenwolken einen babyblauen Neujahrshimmel, wie reingewaschen vom Dreck des alten Jahres. 
Die erste Kehrmaschine rollt Richtung Strand. 



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