Mai

Schon wieder muss ich den Wandkalender umblättern. Es ist Mai; das neue Blatt zeigt blühende Kirschbäume. Es fühlt sich nicht an wie Mai. Seit Wochen kletterte das Thermometer nicht über 10°C; kein Abend, an dem mir nicht die Fingergelenke vor Kälte schmerzen und ich nicht in Decken gewickelt im Büro sitze. Die Heizung meiner kleinen Räume kommt gegen die in den Wänden festsitzende Kälte des Hauses nicht an, in dem alle Wohnungen außer meiner seit Monaten leerstehen. Vor der Heizkostenrechnung graut mir jetzt schon. Aber es ist nicht nur die meteorologische Kälte, die mich dieser Tage erschauern lässt. Der Ton im Netz ist von einer Verrohung, sozialdarwinistischen Brutalität, Missgunst, Neid und Häme geprägt, die ich kaum noch ertragen kann; und zunehmend schwappt auch all das ins Analoge. In der Langeooger Lokalpolitik mehren sich die Unappetitlichkeiten, und es braucht sehr viel Gottvertrauen, um noch daran zu glauben, dass sich daran mit den nächsten Kommunalwahlen etwas bessert. Indes fallen mir außer „Exorzismus“ auch nicht mehr viele Lösungsansätze zu diesem Desaster ein, und der Rest der Welt ist auch nicht unbedingt ein Trost: Das Internet erwähnte ich ja bereits.
Dazu all die kleinen und großen persönlichen Dramen und Schicksalsschläge. Eine liebe Freundin weint um ihren Hund und ich mit ihr. Etliche sensible Seelen in meinem Kreis resignieren und ziehen sich komplett zurück: Depressionen, Ängste, Schlafstörungen, wohin man blickt und horcht. Mir Freund gewordene Geistliche sehen sich in den immer berohlicher brodelnden Sumpf von Missbrauch und Missbrauchsvertuschung hineingezogen: Generalverdacht, Sippenhaft, pauschale Verurteilung eines ganzen Berufsstandes; der Kirche rennen mehr Leute davon als sich Austrittsformulare drucken lassen. Mir selbst schwimmen die finanziellen Felle davon; die Preise für Lebenshaltung steigen ins Absurde, für meine Kunst findet sich keine Bühne, und kaum haben ein paar trotz Pandemie verkaufte Bilder oder Bücher das gröbste Loch gestopft, wird die nächste Rechnung fällig.
Natürlich bin ich noch immer vergleichsweise weich gebettet und darf zumindest an einem wunderschönen und weitgehend virenfreien Ort vor mich hinleiden, aber für etliche meiner Mitmenschen geht es dieser Tage wohl nur noch ums Durchhalten und Überleben statt um irgendwelche Maienwonnen.
Nichtsdestotrotz hat sich irgendjemand erbarmt und im Dorf die Laternenpfähle mit Kreppblumen geschmückt; vor einem geschlossenen Restaurant stehen ein paar Leute unter einem improvisierten Maibaum in einer improvisierten Normalität und lachen. Einen großen Maibaum gibt es in diesem Jahr nicht.
Was bleibt einem auch sonst. Und doch sind diese bunten Farbtupfer, ist dieses Lachen kaum mehr als ein Tropfen Wasser im Ozean. Die Pandemie ist noch längst nicht vorbei und alle anderen Seuchen und Pestilenzgestänke, die diese Zeit so mit sich — und auch auf die Insel bringt—, sind es auch nicht.

Meine Balkonblumen, bisher eine sichere Bank für farbenfrohe Lichtblicke noch im schietigsten Frühjahrswetter, sterben einsam vor sich hin. Es ist viel zu kalt, um draußen zu sein und oft vergesse ich sie deswegen einfach. Ab und zu sehe nehme ich Notiz von den bräunlichen Blättern, den hängenden Köpfchen. Dann denke ich, dass ich jetzt endlich was machen muss und mache es doch nicht. So ist es doch oft auch mit Freunden oder Verwandten, denke ich. Man hat sie ja schon lieb irgendwo und denkt, dass man sich morgen aber wirklich mal meldet, ein Lebenszeichen sendet, eine Frage nach dem Befinden, irgendwas. Und dann ist morgen schon wieder ein Jahr vorbei, in dem man es doch nicht gemacht hat, und dann stirbt der Verwandte oder der Freund hat sich schon längst innerlich verabschiedet. Vielleicht kommt noch irgendwas Höfliches zurück oder auch gar nichts, und die Welt dreht sich weiter.
Mir tun meine Blumen Leid. Aber ich kann ihnen auch keine Wärme bringen. Am Liebsten ist mir die Welt zurzeit mit zugezogenen Vorhängen.

Ich habe mir neue gekauft; sie sind nachtblau mit einem stilisierten Sternenhimmel darauf; sie vergrößern meine kleine Welt auf gewisse Weise, selbst wenn ich den Rest der Welt da draußen lasse. „Es gibt Vieles, das der Welt zurzeit die Farbe nimmt“, predigte unser Weihbischof dieser Tage, und tröstete im Anschluss mit der Heilsbotschaft und mit den Möglichkeiten, die wir als Christen dennoch haben, um Farbe zu bringen und Farbe zu sein. Ich bin wirklich froh, in dieser Zeit noch glauben zu können.

Tatsächlich stellte ich dieser Tage fest, dass in meinem Leben im letzten Jahr mehr Farbe eingezogen ist, als ich für möglich gehalten hatte; und nichts davon war geplant. Nach jahrelangem Zeichnen in Graustufen male ich jetzt mit bunten Kreiden, die ihre Leuchtkraft im Halbdunkel besonders eindrucksvoll entfalten. Und nach vielen Jahren, in denen mir zarte Streifen das Maximum an erträglichen Mustern waren, bedeckt nun ein farbenfroher ausgemusterter Sarong in Grün, Rot und Gold meinen Tisch und ich finde ihn wirklich schön. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ist es der Kontrast zur Farblosigkeit des Pandemie-Alltags; zur fehlenden Möglichkeit, Neues zu entdecken? Ist es die Sehnsucht nach einem echten Frühling, in dem die gleißende Sonne nicht nur wie ein Dekoartikel am preußischblauen Himmel hängt, sondern wirklich wärmt? Ist es das Verlangen nach dem Anblick aller Facetten kraftvollen Lebens statt der traurigen Realität halbwelker Blüten mit erfrorenen Rändern? Am Strandübergang wehen die Federreste eines ausgerissenen Möwenflügels im Wind, und kaum ein Symbol beschreibt die Lethargie dieser Tage wohl treffender: Flügellahm, am Boden, grau und leblos.

An der Kirche hat die Felsenbirne ihre zarte Pracht entfaltet, aber der Strandhafer ist noch gelb, das Grün blieb irgendwo auf halbem Wege stecken. „Ungefähr einen Monat hinkt die Natur hinterher im Vergleich mit meinen Fotos vom Vorjahr“, doziere ich der Freundin bei einem Spaziergang, auf dem wir mit kalten Nasen das Stagnieren des Frühlings betrachten. Vermutlich ist sie es auch, die mehr Farbe in mein Leben brachte, denke ich, während ich ihr puppenhaftes Profil mit dem winzigen Näschen und den rosigen, weichen Wangen betrachte. Als uns der Weihbischof von der farblosen Zeit erzählt, sitzt sie in einem leuchtend grünen Pulli neben mir. Im goldenen Kelch spiegelt sich das warme Licht der Altarkerzen, daneben liegt der violette Bischofspileolus. Der Herr ist mein Licht und mein Heil.

Vielleicht, denke ich, ist Liebe Farbe. Und vielleicht habe ich nun mehr Mut zur Farbe, weil auch diese Partnerschaft mehr Mut als cleanes Understatement erforderte. Und doch bin ich froh, es gewagt zu haben. Zweifelsohne war ich auch ohne sie glücklich und gut eingerichtet in meiner Welt, aber nun kenne ich auch noch eine andere Art von Glück. Und eine andere Art von Einrichtung. Und beides hat mich, deo gratias, nicht überrannt, sondern sich mit einer Sanftheit eingenistet, dass ich all diese Neuerungen mir zu eigen machen konnte. Es lag kein Überrennen darin, kein Überstülpen.
Und nun ist es wohl wichtig, sich auch von der neuen Zeit nicht überrennen zu lassen. Standhalten muss man gegen den Ungeist der Zeit; sich keine Rohheiten überstülpen lassen, keine Häme, und dem tumben Populismus den Weg versperren — Mit dem, was man eben so hat, kann und schafft. Für eine bessere Zeit. Für einen neuen Mai.

Momentaufnahme, Übergang

„Damit, dass Strom und Bäche vom Eise befreit sind, ist wohl zu rechnen“ schreibt mir ein Freund aus seinem Osterurlaub; die Postkarte — er schickt immer Postkarten statt E-Mails — zeigt einen alten, ledernen Reisekoffer, aus dem Frühlingsblumen quellen.
Und recht hat er, denn tatsächlich scheint der Winter seit Wochen schon Lichtjahre entfernt zu sein. Es ist das wärmste und sonnigste Osterfest, an das ich mich auf der Insel erinnere, und ich denke nur ungern an das letzte eisige Frühjahr zurück.

Nach emotional wie beruflich anstrengenden Tagen mache ich mich auf zu einem Abendspaziergang ans Meer. Am Strandübergang fotografieren zahlreiche Menschen mit Smartphones den Sonnenuntergang, und ich muss lächelnd an einen brillanten amerikanischen Comic denken, der eine fluchende Sonne zeigt, die sich darüber aufregt, nie mehr unbehelligt ein Nickerchen machen zu dürfen. Zweifelsohne: Hätte ich irgendeinen Apparat dabei, würde ich ebenfalls ein Foto machen.
So aber halte ich den Anblick nur für einen Moment im Herzen fest: Die silbernen, über die Mondlandschaft des Strandes mäandernden Priele, die im Schlick glänzenden Muscheln, Möwen im Gegenlicht, blaue Umrisse großer Frachtschiffe auf Reede, darüber der tiefrote Sonnenball.

Um diese Zeit verändert sich die Insel, insbesondere der Strand, täglich. Mit routiniertem Bienenfleiß werden neue Strandkörbe herangekarrt, Plankenwege verlegt, Spielgeräte installiert. Mit den frisch verlegten Wegen sieht es nun schon aus wie im Sommer, und im Augenwinkel meiner Erinnerung erscheint mir ein Bild vom letzten August. Der Sand war warm unter den Füßen, neben mir ging der Mann, dessen schöne Figur mir im Gedächtnis blieb, mit seinen perfekt sitzenden Polohemden und Chinohosen, die Sandalen in der Hand. Schlanke Finger, Musikerhände. Es war gut, dass er da war, denn sein Besuch machte das vergangene Frühjahr schon etwas weniger kalt. Er ist auch immer noch da, und also besteht kein Grund für Wehmut. Vielleicht sehe ich ihn sogar wieder, irgendwann. „Komm mal zu mir“, sagt er, aber ich weiß nicht, ob er das wirklich meint; seine Stadt suchte ich dennoch auf der Landkarte.

Die Erinnerung an den Sommer tut wohl. Und doch wird auch diesen Sommer die Insel wieder anders sein; es ist ja jetzt schon alles anders: Das neue Hotel, dessen Dachaufbau je nach Perspektive wie ein Zinksarg aussieht, die offenen Baustellen, die mit Steinen zugeschütteten Vorgärten, die pflegeleicht sein sollen, aber aussehen wie Gräber. 
Sogar der schöne Windflüchter, der die Straße zum Strand seit vielen Jahren wie ein Torbogen überspannte, lag die Tage kleingehäckselt neben seinem Stumpf. Er war wohl morsch geworden und stand die letzten Monate schon mit einem Seil ans Haus gebunden, aber schade ist es um ihn doch.
Und so wendet sich, wiewohl ohne Veränderung kein Fortschritt möglich ist, nicht immer alles zum Guten. Auch unter den Menschen auf der Insel liegt zurzeit vieles brach und einige Abgründe offen, in die man lieber nie geblickt hätte.
Wahlen stehen an. Ich betrachte die Muscheln am Strand, wie sie dort liegen, wo sie eben liegen, und denke, dass das im Dorf auch bald wieder wünschenswert wäre: Alle nehmen ihren Platz ein, so gut es eben geht. Einige liegen in Grüppchen, andere einzeln; keiner urteilt. Niemand bringt sich bewusst in Position, niemand drückt einen anderen mutwillig in den Schlick. Einige sind oben, andere unten, und mit der nächsten Welle kann sich das schon wieder ändern. Und zumindest darin, denke ich, ist es mit der Lokalpolitik ja nicht unähnlich: Man muss den Tiden ihren Lauf lassen und sehen, was sie bringen.

 

Momentaufnahme, Fülle

„Leben in Fülle“. Es ist ein Leichtes, sich vorzustellen, was die Bibel damit meint, wenn man dieser Tage über Land fährt. Vor dem Busfenster, auf der Straße Richtung Norden, wogen goldene Ähren. Der Mais schießt in die Höhe, auf den Obstplantagen bekommen die Äpfel schon rote Bäckchen. Auf den Verkehrsinseln leuchtet der Rainfarn in goldener Pracht. Die Natur ist hier weiter als auf Langeoog, denn dort hat diese von mir geliebte Pflanze, die unter anderem an den Strandaufgängen wächst, noch grün verschlossene Knospen.
Blühstreifen, welche die Äcker und Weiden säumen, sind blauweiß geblümt wie zartes, friesisches Teegeschirr: Kornblumen und Kamille, Disteln und Schaumkraut geben sich ein „Landlust“-Covertaugliches Stelldichein. In einem funkelnden Wassergraben füttert eine Teichralle ihr Kleines, Holsteiner Fleckvieh käut, träge und wohlgenährt, auf saftiggrünen Wiesen wieder. An den Straßenrändern zeichnet sich eine Allee junger Birken strahlend weiß gegen den königsblauen Himmel ab. 
All diese Pracht ist über das zarte Erwachen des Frühlings weit hinaus; sie trägt bereits das Verprechen auf die Ernte des Herbstes in sich, ohne jedoch schon erkennbares Verfallen, die Vorboten des Winters, zu zeigen. Der Sommer ist auf seinem Zenit.
Kurz vor der Stadt Norden steige ich aus. Das Schloss Lütetsburg ist mein Ziel mit seinem beeindruckenden Park, an den ich mich nur vage aus sehr jungen Jahren — damals in Begleitung meiner Eltern — erinnere. 
Mit ihren alten Gewächshäusern, die heute ein Café und einen Laden beherbergen, erinnert mich die Anlage an die Königlich-Preußische Gartenakademie in Berlin, unweit des Botanischen Gartens, wo ich liebend gern den mir ansonsten unerträglichen (obwohl hochgepriesenen) Berliner Sommer verbrachte.
Im Inneren des Glashauses, in dem sich das Café befindet, ranken Weinstöcke aus den 50er Jahren und zaubern entzückende Schattenspiele auf das schlichte, aber gepflegte Interieur. Sogar das Klo befindet sich in einem bezaubernden Backsteinhäuschen, an dem üppige Rosen wuchern. 
Es ist später Vormittag; das Café hat gerade erst aufgemacht. Außer mir ist nur ein älteres Ehepaar sowie ein Damenkränzchen anwesend, das bereits bestgelaunt dem Sanddornprosecco zuspricht. 
Die Kuchen und Torten in der Vitrine sehen ebenfalls aus, als entstammten sie geradezu einer „Landlust“-Ausgabe, aber es ist eindeutig noch zu früh dafür. Also bestelle ich Tee und eine Gemüsequiche, die hier nicht profan mit einem „Beilagensalat“, sondern mit einem „kleinen Salatgesteck“ angepriesen wird. Alles ist stilvoll und edel, ohne protzig zu sein: Cleanes Understatement. Und wo wäre das Wording „Gesteck“ passender als in einer Schlossgärtnerei? Eben. Der Ex-Werbefuzzi in mir nickt. Und fast wäre mir auch schon nach Prosecco.

Nach dem Brunch rüste ich mich für den Gang durch den Park, dessen gewaltige Ausmaße mir erst bewusst werden, als ich im zweiten historischen Gewächshaus — dem Lädchen — einen ausführlichen Parkguide kaufe. Mir dämmert jetzt schon, dass ich nicht alles schaffen werde, bis ich den Bus zum letzten Schiff zurück nehmen muss. Also picke ich mir die interessantesten Stationen heraus: Die Kapelle, die 300 Jahre alte Eiche, die Nadelgehölze, den größten See. 
Aber es fällt schwer, sich an den Plan zu halten. 
Hinter jeder Ecke eröffnen sich faszinierende Perspektiven, spektakuläre Sichtachsen, ausgeklügelte und doch so zufällig wirkende Blickwinkel. Zwischen den sonnendurchwirkten Zweigen immer wieder: Das Schloss.
Eine Hochzeitsgesellschaft hat sich unterhalb des „Tempels der Freundschaft“ versammelt, der eine Außenstelle des Standesamts Hage beherbergt. Die nächste Gesellschaft wartet bereits auf ihren Einzug. Eine hochgewachsene Dame in einem eleganten, bodenlangen grünen Kleid, mit weich aufgesteckten, edelholzbraunen Haaren und sensationeller Figur, verschmilzt förmlich mit dem Sattgrün der Bäume und stiehlt der Braut zweifelsohne die Show. Ich sehe sie nur vom Weiten, aber es ist einer der seltenen Fälle, in denen sogar ich eine Frau anbetungswürdig finde. Und jedes Mal, wenn jetzt jemand „Holla, die Waldfee sagt“, denke ich, werde ich wohl genau diese bezaubernde „Waldfee“ vor Augen haben.
Unter einer Baumgruppe posiert ein drittes Brautpaar gerade für eine Fotografin. Alle, die daran vorbeimarschieren, rufen „Herzlichen Glückwunsch“: Es sind viele. Die Braut ist zu stark geschminkt und sieht gestresst aus. Aber sie bedankt sich und versucht zu lächeln. Die Fotografin hat ihr und dem Bräutigam Holzbuchstaben in die Hand gedrückt: L, O, V, E. Die Braut soll sich das O über den Kopf halten. Es sieht albern aus und sie tut mir Leid. So eine Erinnerung wöllte ich nicht im Album. Aber der Baum, unter dem sie stehen, ist schön. Und der Bräutigam auch.

Ich erreiche die „Nordische Kapelle“. Das winzige Gotteshaus wurde 1802 nach skandinavischem Vorbild errichtet, inklusive künstlicher Felsen, Nadelbäume und kunstvoll arrangierten Wurzelwerkes. Ein Schild am Eingang mahnt zur Stille.
Ich bin überrascht, hier das Gotteslob sowie Kniebänke vorzufinden, aber tatsächlich ist und war die Eigentümerfamilie des Schlosses katholisch: In Ostfriesland eine Seltenheit. Aber auch für die Öffentlichkeit kann die Kapelle für Trauungen oder Trauerfeiern genutzt werden. Freilich eher von Menschen mit wenig Anhang, denn mehr als ein Dutzend Menschen passt kaum hinein. 
Ich schlage ein Kreuz und knie mich auf die hellgrauen, weich gepolsterten Bänke. Außer mir ist niemand da, und so genieße ich kostbare Momente der Andacht vor einem schlichten, aber Wärme und Zuhause ausstrahlenden Altar unter einer leicht schiefen, weißgrauen Kuppel. Etwas schief hängen auch die Kerzen in ihren Halterungen; auf der Altarstufe steht ein Strauß frischer Blumen.
Ich mag die Kapelle: Sie vertrömt die Geborgenheit eines abgeliebten Kuscheltieres, auch wenn dieses Bild vielleicht ungehörig klingt. Aber ich spüre, dass man hier gut zur Ruhe kommen kann. Und nach Hause. 
Wie sehr dieser Eindruck passt, wird mir erst später klar werden. 

Die Abfahrzeit des Busses rückt näher. Quasi im Sprint eile ich durch die wichtigsten Areale des Parks, immer wieder ausgebremst von meinem fotografischen Auge, das unbedingt noch diesen und jenen Winkel mitnehmen möchte. Und in einem Bereich mit besonders vielen Nadelbäumen, riesigen Lärchen und Zypressen, kann ich einfach nicht anders als verweilen. Wie lange ich keinen Waldboden mehr unter den Füßen hatte! Fast hatte ich vergessen, wie federnd-weich man auf einem dicken Polster aus Lärchennadeln und -zapfen läuft! Ich wippe ein wenig darauf herum und lasse gleichzeitig den Blick die Stämme emporgleiten, hinauf zu den hellgrünen Kronen. Zwischen den braunen Ästen im lichtundurchdringlichen Teil der Bäume glänzen Spinnweben.
Sofort zücke ich das Smartphone, um zu recherchieren, ob ich nicht einen Bus später nehmen kann. Leider geht es nicht. Und nun rennt die Zeit wirklich. 
Ein letztes Abbremsen im Westteil des Parks: Ein großes Schild weist auf einen „Begräbniswald“, der in diesem Areal liegt, und listet Verhaltensregeln dafür auf. Um das Schild herum tanzen Schmetterlinge. Ich schaue zu den Bäumen: Das sind Gräber? Augenblicklich bin ich so fasziniert wie begeistert, denn bis zum Abschnitt „Begräbniswald“ war ich zuvor auch im Parkführer nicht gedrungen. Und diese Entdeckung hätte ich wirklich nicht erwartet. Schnell reiße ich einen Flyer aus dem angehängten Plexiglaskasten: Darüber möchte ich mehr wissen!

Vor den Busfenstern entfaltet sich erneut die Fülle des Lebens in allen leuchtenden Farben. Urlauber auf dem Weg zu den Fähranlegern Bensersiel und Harlesiel plappern fröhlich in den Sitzreihen ringsum, planen Strandbesuche und Essen. Ich ziehe den Flyer aus der Tasche. Will ich mich jetzt wirklich mit dem Tod beschäftigen? Werden mich meine Freunde nicht für akut depressiv halten, wenn ich davon erzähle? Aber ich bin es nicht, und wann sollte man sich denn sonst mit dem Tod beschäftigen, wenn nicht auf dem Zenit seines Lebens? Die Hälfte ist rum, sage ich mir. Und niemand weiß, was noch bleibt.
Freilich: Mich mit meinem eigenen Ableben zu beschäftigen, macht mir nichts aus. Zumal ich mir, da Nachkommen- und Ehepartnerlos, zwangsläufig selbst Gedanken ums Wo und Wie machen muss, wenn ich kein DIN-genormtes Sozialbegräbnis haben möchte. Ich bin nicht immer in der Lage, mir über das Wie des Sterbens Gedanken zu machen oder gar über das, was nach dem Tode kommt oder auch nicht, auch wenn ich mir da als Christ vielleicht sicherer sein sollte. Aber über die Beerdigung? Bittesehr.

Indes fällt es mir schwer, andere davon sprechen zu hören. Insbesondere Nahestehende. Ich weiß, dass es wichtig wäre, beispielsweise die Eltern zu fragen, was sie sich für einen Abschied von der Welt wünschen, aber ich habe das noch nie fertiggebracht. Man will ja nichts heraufbeschwören. Und ja, ich verdränge auch den Gedanken daran. Nach dem Motto: Wenn ich ausblende, das Eltern sterben, tun sie es auch nicht. Aber so wird das nicht sein. In sehr vielen Todesanzeigen sind die Leute schon jetzt jünger als meine Eltern, und es zerreißt mir bei jedem und jeder das Herz.
Die Tage sprach mich mein Vater auf mein potentielles Erbe an, aber so schön ich das Haus auch finde: Wenn das Eigentum daran an seinen Tod geknüpft ist, will ich es nicht haben. Und nicht einmal daran denken. 
„Ich werde es nicht verkaufen“ — dieses Versprechen zumindest konnte ich geben: Das Haus wird länger leben als wir alle, so Gott will.
Kein Gentrifizierungsbagger wird das Haus im Berliner Nordosten zugunsten irgendeines neumodischen Einheitsklotzes zerreißen, keine Abrissbirne die doppelglasigen Fenster zertrümmern, aus denen auf einem Foto von 1928 mein Urgroßvater schaut. Letzterer liegt keine 600 Meter vom Haus entfernt beerdigt: Und so schließt er sich wieder, der vielbesungene „Circle of Life“.

Nun also, der Friedwald in Lütetsburg mit seiner heimeligen, katholischen Kapelle. Wenn Langeoog die Insel fürs Leben ist, denke ich, warum sollte sie zwangsläufig auch die Insel fürs Sterben sein? Natürlich möchten die meisten Menschen dort beerdigt werden, wo sie — zumindest in summa — glücklich waren, wo ihr Zuhause war. Ich hege keinen Zweifel daran, dass dieser Platz Langeoog ist. Aber will ich auf den Dünenfriedhof, wo sommers Heerscharen lärmender Touristen zu Lale Andersen pilgern, wo Menschen picknicken und mit Fahrrädern herumsausen, jede Friedhofsordnung missachtend? Will ich eines dieser mitleiderregenden Gräber werden, um die sich sichtbar niemand mehr kümmert? Und eine Seebestattung? Schön, aber viel zu teuer. Der Wald, denke ich, ist eine gute Idee. Man kann sich sogar den Baum aussuchen, unter dem man bestattet wird, mit Namensplakette oder ohne. Und niemand sieht, ob man noch Angehörige hat oder nicht, ob man den Leuten egal ist oder nicht, weil diese Gräber per se nicht geschmückt werden. Im Friedwald gibt es keine Beliebtheitswettbewerbe mehr. Nicht, dass die einem nach dem Tode nicht ohnehin egal wären — aber man kann ja nie wissen.
Die dem Flyer beigelegte Postkarte mit der Bitte um „mehr Informationen“ fülle ich aus. Nach dem Baumaussuchen könnte man doch auch im Schlossparkcafé etwas Leckeres genießen oder auf dem benachbarten Golfplatz eine Partie spielen, wirbt die Postkarte. Fast muss ich darüber lachen. Aber muss der Tod auch immer todernst sein? Die Karte ist auch nicht schwarz, stelle ich überdies fest: Es ist ein sattes Tannengrün. 
Als ich danach den Kopf hebe, um erneut aus dem Busfenster zu sehen, fühle ich mich selten lebendig.