Das Geschrei der Krähen in den Ästen ist ohrenbetäubend. Die alten Baumkronen sind schwer beladen mit ihren Nestern, an denen, Zweiglein im Schnabel, unermüdlich geflickt wird. Der Widerhall ihres Gekrächzes kleidet das Gewölbe zur Vorburg aus und dringt bis ins Innere der dicken, weißgetünchten Burgmauern.
Hinter diesen beinahe 1000 Jahre alten Mauern stehe ich an einem winzigen Fenster und schiebe die Spitzengardine beiseite; vom Alter patiniert wie die Burg als solche. Die Kammer, in der ich für einige Tage lebe, ist mit den gleichen Möbeln ausgestattet wie sie mein Jugendzimmer aufwies. Das erweckt eine gewisse Nostalgie: Zugleich ist er eigenartig, dieser Stillstand von Jahrzehnten, Jahrhunderten, gar einem Jahrtausend auf so wenig Raum.
Vor dem Fenster fließt ruhig das Wasser im Burggraben. Das Schnattern von Enten mischt sich in das Gezänk der Krähen.
Aber zanken sie überhaupt? Wer weiß, worüber die sich unterhalten, denke ich. Den ganzen Tag geht das so: Kräh, kräh, kräh. Selbst in der Nacht höre ich es vereinzelt noch. Dennoch, das muss ich eingestehen, stresst mich die Dauerberieselung mit dem Geschwätz der Rabenvögel nicht halb so viel wie der Lärm der Welt, vor dem ich hierhin floh.
Die Krähen, denke ich, bewerfen sich in ihrer Kommunikation immerhin nicht mit Dreck. Ihr Geschrei, was auch immer dessen Inhalt sei, beinhaltet eines jedenfalls mit Sicherheit nicht: Neid, Missgunst, Spott, Häme, Verachtung. Da eine Krähe bereits sprichwörtlich der anderen kein Auge aushackt, wird in keinen Laut vorsätzlich Gift gestreut sein; kein Krächzen wird, und sei es auch zuweilen aggressiv, bewusst als verletzende Spitze eingesetzt, es ist, wenn überhaupt, dann ein direkter Angriff ― aber niemals feige, hinterhältig und berechnend. Kein langsam wirkendes Toxin ist darin, kein Kuss eines Verräters, kein kalt lächelnder, schleichender Liebesentzug.
Es wird, so vermute ich, durchaus Besitzanspruch geklärt. Revier verteidigt. Territorium abgesteckt. Das ja. Aber auf eine erholsam durchschaubare, profane, im besten Sinne „bestialische“ Art. Von der Bestie Mensch würde man sich das auch öfter wünschen, resigniere ich, aber da tarnt sich die Aggression doch zu oft hinter falschem Lachen, hinter einem dünnen Mantel an Zivilisation, der weder wirklich zu wärmen noch zu bedecken vermag. Unter beschwichtigenden Beruhigungen folgt das strategisch geplante Wühlen in Wunden, deren Lage und Tiefe zuvor mit vermeintlich freundschaftlichem Gestus ausgekundschaftet wurde. Man sagt sich: Es ist nicht so schlimm. Es tut bald nicht mehr weh. Es hat auch etwas Gutes.
Doch der nagende Schmerz all der kleinen Demütigungen, die einzeln betrachtet nichtig und in summa vernichtend sind, lässt sich nicht für immer ausblenden. Man wird so müde irgendwann. Zu müde zum Weinen. Zu müde für Wut. Es bleibt nichts bis auf ein in seiner Monotonie narkotisierendes Grundrauschen von Traurigkeit: Einschläfernd, ohne Schlaf zu bringen, lähmend. Ein stilles, sinn- und schmutzloses Verbluten.
Homo homine lupus.
Aber selbst das absichtsloseste Menschengeplauder, fern jeder bösartigen Intention, das Sprechen um des Sprechens willen, weil niemand mehr Stille aushält ― auch daran kann man erkranken, denn irgendwann ist es einfach zu viel, zu schnell, zu laut, zu überall.
Man sehnt sich nach Stille, Inhalt, nach Wahrheit, nach Substanz. Und muss sich doch erst durch den Lärm der eigenen Seele, durch die eigenen Fassaden, durch Schutzwälle, vernarbtes Gewebe, Trümmerreste von Träumen, Sickergruben der Desillusionierung und eine gewaltige Leere wühlen, um auch nur ansatzweise zu finden, was man ersehnt.
Auf der Insel ist die Saison angebrochen, die Karwoche steht kurz bevor. Am Anleger wimmelte es bereits vor Menschen bei meinem Aufbruch. Hier hingegen, in meinem Refugium, wo ich die Terra incognita der Seele im absoluten Nichts des ostfriesischen Niemandslandes zu ergründen suche, liegt die Quote Corvus vs. Homo sapiens bei gefühlten 200:1.
Die abendlichen Lichter in den kleinen, geduckten Friesenhäuschen lassen auf Einwohner schließen, indes: man sieht sie nicht. Auch die Wirtin der Gaststube, in die ich einkehre, huscht wie ein freundliches kleines Gespenst nahezu unsichtbar durch den Raum, zart und blass.
Der einzige andere Gast des Wirtshauses, in dem ich Tee trinke und eine analoge, beruhigend heimelig raschelnde Zeitung lese, entpuppt sich als neu hinzugezogene Pastorin.
Es gibt weit und breit keine katholische Kirche in dieser Ortschaft und auch nicht in den angrenzenden Dörfern, also gehe ich am Palmsonntag zu den Lutheranern und höre mir an, was diese Theologin über Gott zu sagen hat.
Das Haus Gottes steht auf einer Warft und ist so alt wie die Burg; es ist benannt nach einem katholischen Heiligen, aber bereits seit der Reformation evangelisch. Aus dem schiefen, gemauerten Glockenturm schwingt eine gewaltige Bronzeglocke, die bereits seit Jahrhunderten Christen zum Gebet ruft, in Zeiten von Pest, Hunger, Krieg wie auch in Zeiten des Überflusses und prosperierenden Handels.
Die 200 Jahre alte Buche vor der Kirche hat ebenfalls beide Weltkriege überlebt und ist einer der schönsten Bäume, die ich je sah. Zwischen ihrem flechtenüberwachsenen Wurzelwerk verwittern Kreuze und Grabsteine längst profanierter Grabstätten. Schneeglöckchen schmiegen sich zwischen die gewaltigen Lebensadern dieses ehrfurchteinflößenden Gewächses. Wie klein man dagegen ist, wie kurzlebig! Meine ausgespannten Arme könnten kaum ein Fünftel des Stammes umfassen; meine gesamte Lebensspanne ist für die Buche wohl kaum ein Wimpernschlag: ich bin nur eines der Tausenden und Abertausenden Mitgeschöpfe, die im Laufe ihres Lebens unter der perfekt geformten Krone dieses Baumes herumkrochen.
Eine Straße am Rande des Ortes heißt „Galgenhügel“: Über deren Geschichte möchte ich lieber nicht genauer nachdenken. Was ich jedoch spüre ist, dass die Beschäftigung mit der Vergänglichkeit, das Zurechtrücken der eigenen Unwichtigkeit für den Lauf der Welt, dabei hilft, wieder ins Leben zu finden und auch den Lebenswillen zurückzuerlangen.
Was uns eine persönliche Katastrophe erscheint, ist für die Natur: Nichts.
Staub bin ich, Staub werde ich, ebenso wie der Mensch, der mir das Herz brach, und: wie leider alle, die ich geliebt habe, liebe, lieben werde.
Also lohnt sich der Blick aufs Jetzt gar nicht, wenn wir ohnehin fast alle nur eine Randnotiz der Geschichte sind? Doch, denke ich. Das irdische Leben, das Jetzt zu würdigen, bin ich meinem Schöpfer schuldig, nicht nur obwohl, sondern weil ich an das Ewige Leben im Jenseits glaube.
In einem kleinen Wald begegne ich der Ruhe.
Auf einem gefällten Baum sitzt eine Krähe reglos. In ihrem schönen, schwarzen Gewand sieht sie mich an und ich frage mich, ob da nicht doch ein Anflug von List in ihren dunklen Augen blitzt.
Doch den Vogel interessieren meine Fragen nicht. Er wendet den Kopf ab, breitet die Schwingen aus und fliegt mit einer raschen, fließenden Bewegung davon. Ich sehe dem Vogel nach, wie er jetzt hoch oben auf einem Baum thront, näher am Himmel, als ich auf diesem Waldweg sein kann.
Der Flügelschlag verhallt; kurz wähne ich mich in absoluter Stille. Dann füllt das leise Fließen von Wasser die Synkope, das Rascheln von Kleintieren im Unterholz, das ferne Rauschen der Straße. Zuletzt nehme ich auch den omnipräsenten Radau der anderen Krähen wieder wahr.
Es ist noch zu früh für eine Rückkehr in die Welt. An den Wald grenzen Äcker, auf denen sich hungrige Möwen sammeln. Ich werfe ihnen meinen Kummer hin, während ich durch die ausgetretenen Pfade schnüre, als läse ich eine frische Fährte.