Momentaufnahme, Frohsinn

Es ist ein wunderbarer Tag im Mai. Möwen gleiten lautlos an der Dünenkette vorbei, die im Licht des späten Nachmittags golden aufleuchtet. Kein Wölkchen zeigt sich am makellos blauen Himmel, von dem seit dem frühen Morgen die Sonne strahlt. Jede Ecke bietet an solchen Tagen ein Fotomotiv, das man ohne weitere Bearbeitung auf einen Langeoog-Prospekt drucken könnte, wo es dann dafür sorgte, dass noch mehr Gäste und Investoren auf die Insel kämen, um hier Müll, Geld, noch mehr Baustellen und verwaiste Straßenzüge im Winter zu hinterlassen.
Kein Licht ohne Schatten.

Ich versuche in einem der Strandkörbe zu lesen. Immerhin soviel soziales Denken gibt es auf Langeoog noch, dass die Körbe, sobald die Vermietungsbuden schließen, zum Allgemeingut mutieren: Man kann also ab dem späten Nachmittag darin sitzen, ohne dafür bezahlt zu haben. An der Ostsee werden sie nach dem Feierabend der Vermieter gnadenlos mit Gittern verriegelt. Hier versuchen das einige Privatleute mittlerweile ebenfalls und errichten alberne Barrikaden aus Fahrradschlössern und Wäscheleinen an den Strandkörben, die sie für mehrere Tage gemietet haben. Als säße es sich tagsüber schöner darin, wenn man anderen in Abwesenheit keinen Sitzplatz gönnt.

Nebenan schreit ein Kind in einer so dämonischen Tonart und Intensität, dass man an das angeblich angeborene Gute im Menschen kaum noch glauben mag.
Und tatsächlich ist es doch so, dass einen manche Tage und Wochen schier an der Menschheit verzweifeln lassen, und seien sie meteorologisch auch noch so vollkommen. Und nein, man selbst schließt sich nicht zwingend davon aus, denn wer ist bitteschön noch nicht gelegentlich an sich selbst verzweifelt?
Ich gehe zurück ins Dorf. Auf einer etwas abgelegenen Bank sitzt ein junger Mann unter prachtvoll erblühten Bäumen und weint, ein Telefon am Ohr. Sein Gesicht ist blass und starr vor Kummer. Er lauscht schweigend der Person am anderen Ende der Leitung, die ihm — man kann es nur ahnen — vermutlich soeben eine furchtbare Nachricht überbringt. 
Derweil schieben fröhliche Familien ihre Strandbollerwagen und Buggys vorbei, Hörnchen mit bunten, süßen Eiskugeln in den Händen.

Es gibt keine Garantie auf Glück, nur weil Frühling ist. Und doch scheinen Trauer und Kummer jetzt ein noch größeres Tabu zu sein als sonst. Wer will sich, nach all dem Grau des Winters, schon noch mit dem Grau in andererleuts Seelen befassen?
Die Tage war ich im evangelischen Gottesdienst, weil ich dort dienstlich etwas zu erledigen hatte. Es war der Sonntag Kantate, und der Pfarrer leitete den Gottesdienst, anstatt sofort in jeder Hinsicht ein Loblied zu singen, mit den Worten ein, dass heute trotz des Festtages nicht allen Menschen zum Singen zumute sei. Dass die Laute menschlichen Elends trotz allem durch die Welt hallten. Als Katholik lobt man die Lutheraner ja eher spärlich, aber hier sage ich: Das hat mich beeindruckt.

Die Diktatur des Frohsinns ist nicht nur an Karneval ein Thema für sich. Mit einem engen Vertrauten, der sich mit Depressionen aus eigener Erfahrung auskennt, bin ich mir einig: Das Gefühl, nie traurig sein zu dürfen, weil in unserer Gesellschaft kein Platz dafür ist, macht erst Recht depressiv. Und zuweilen sehr einsam. Denn wer wagt schon an einem strahlend schönen Tag im Mai seine Freunde mit Trübnis zu belästigen? Eben.
„Lach doch mal, ist schönes Wetter.“ „Schau mal, die Sonne lacht auch.“ —Der Mai ist der Monat mit der höchsten Selbstmordrate.

Dennoch: Das Erwachen der Natur ist wunderschön. ich freue mich über jede neue Knospe, über das zarte Grün an den Bäumen, das niemals wieder im Jahr so eine wundervolle Farbe haben wird, über die ersten Stunden inmitten meiner geliebten Blumen auf dem Balkon, über die erste Sonnenbräune, die ersten goldenen Strähnen im Haar. Ich bin froh, dass mir der Frühling jedes Jahr verlässlich zeigt, dass zumindest meteorologisch der Winter vorbei ist, selbst wenn er seelische Eiszeit mitbrachte.

Menschliches Leid hält sich nunmal an keinen Jahreszeitenkalender. Ich kenne Menschen, bei denen ein Elternteil an Weihnachten starb; auch eine Freundin von mir starb am zweiten Weihnachtsfeiertag, meine Eltern verschoben ihre Hochzeit wegen des Todes der Großmutter. Es gibt Menschen, die an einem strahlend schönen Sommertag ihre Arbeit verlieren, verlassen werden, eine Fehlgeburt erleiden oder beim Arzt eine schlimme Diagnose erhalten.
„Lacht doch mal. Ist schönes Wetter.“

Ich erinnere einen Mann, den ich sehr lieb gehabt hatte, und der dann an meinem Geburtstag mit einem anderen vor der Tür stand, kaum halb so alt wie ich. Ich hatte seinem Besuch zum Geburtstag lang entgegengefiebert, hatte Pläne gemacht, geträumt, die Vorfreude in meinem Herzen gehegt wie die Zwiebeln der Frühlingsblumen in meinem Beet: Nicht mehr lange und alles würde erstrahlen in schönsten Farben. Noch war der Winter nicht vorbei, aber in der Kälte hatten mich stets seine lieben Worte gewärmt, die Kontinuität eines vermeintlich beiderseits gewachsenen Gefühls und seine schönen, großen, tiefbraunen Augen, in denen ich mich Schlechtes zu entdecken weigerte.
Jetzt hatten diese Augen einen kalten, gelblichen und unschönen Bernsteinton, der keinerlei Gefühl verriet, umschattet indes von anbetungswürdigen Wimpern. Er sah mich nicht einmal wirklich an, als er den mitgebrachten Jüngling an meinem Geburtstag — einem sonnigen Vorfrühlingstag — über meine Schwelle schob.
Das sei seine neue Muse, sagte der Mann, den ich liebte, und er sei hier doch sicher auch willkommen. Die Muse lächelte schüchtern und mir dämmerte, das er nichts ahnte von dem Ausmaß des seelischen Elends, das sein Auftauchen entfalten sollte.
Also gab ich der Muse die Hand und bemühte mich um Gastfreundlichkeit: Alles, was ich für zwei geplant hatte, modifizierte ich, der Höflichkeit geschuldet, für drei, während eine innere Abrissbirne mein Herz und meine Träume in Trümmer schlug.

In der Bibel mag die Drei eine heilige Zahl sein. In amourösen Dingen ist sie eine Katastrophe. Und dann saß man da und kaute an irgendetwas Teurem, das sich wie Sand anfühlte und sich nicht schlucken ließ, während der von mir noch innig Geliebte in verliebtem Palaver mit dem anderen erblühte, und man selbst verfluchte den Tag und die eigene Geburt, obwohl man diese eigentlich soeben feierte. Eigentlich.
Irgendwann hatte der Albtraum ein Ende, die beiden reisten ab. Hochmütig stieg der Mann über den siechen Rest langjähriger Verbundenheit, ohne sich noch einmal umzudrehen; den schönen Mantel gerafft, damit ihn nichts besudelte.
Derweil trudelten Glückwünsche ein: Ich hoffe, du hattest einen wundervollen Tag. Dankeschön, antwortete ich, natürlich hatte ich das. Wie sollte man seinen wohlmeinenden Freunden auch erklären, dass man an einem Tag, der für die meisten seit frühester Kindheit ein Inbegriff von Glückseligkeit ist, gerade vor Kummer erstickte?
Ich konnte es nicht.

Es zieht mich noch einmal zurück zum Strand. Die Pracht und Vollkommenheit der abendlich stillen Landschaft überwältigt mich. Der Gesang der aus den Dünen steigenden Lerchen wird von keinem Gebrüll mehr übertönt. Leise rauscht Wind durch das frisch gepflanzte Helmgras.
Der meinem Haus naheliegende Strandüberweg wurde für die Saison verbreitert; die frühere Aussichtsplattform wurde abgebaut, die Bänke woanders hingestellt. Das Fernrohr, das dort früher stand, liegt nun, außer Dienst gestellt, mit seinem Betonsockel in den Dünen. Als die Sonne über dem Meer versinkt und sich seine Silhouette gegen den blutrot gefärbten Himmel abzeichnet, sieht es aus wie das Geschütz eines längst verlorenen Krieges.

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Dunkel und Hell

Aufreißende Wolken nach dem Gewitter
enthüllen das Blau
überm silbernen Meer
Möwen entsteigen dem Schlick
in strahlendem Weiß

Schön und ruhig, gänzlich unbefleckt
mit tödlicher Absicht
trachtend, watend, spähend
liegt ihr berechnender Blick
auf argloser Beute

Momentaufnahme, Compassion

Ich hatte die Kraft des „Irgendwann“ unterschätzt. Das Irgendwann war ein diffuses Donnergrollen in weiter Ferne, ein monotones Summen von Elektrizität irgendwo hoch über den Feldern. Das Irgendwann war anfangs präsent, leise zwar, aber man sah es. Doch dann gewöhnte man sich, und das Irgendwann zerfloss zu einem warmen, umschmeichelnden „Wird schon nicht.“


Irgendwann will er den Hund zurück. 
Der kleine Gefährte liegt in sein Lammfell gekuschelt und schläft. Wenn ich seinen Namen rufe, der nicht der ist, den der Vorbesitzer ihm gab, steht er auf, kommt zu mir an den Tisch und sieht mich fragend an. Die letzten Meter zum Haus rennt er, wenn wir heimkommen, und er weiß, wo der Wäschekeller ist, in dem ich ab und zu verschwinde. Dann wagt er sich die Treppen herunter und schaut nach mir, steckt das neugierige Näschen mit in die Trommel, das immer aussieht, als habe er aus einem Topf Puderzucker genascht. Der Hund kennt sich aus; er weiß, wo er wohnt.


„Es ist für ein paar Tage.“ „Zwei Wochen vielleicht.“ „Der Besitzer ist bis auf Weiteres verschwunden.“ 
Da war es also, das schöne, warme „Bis auf Weiteres“ und winkte mit fast so etwas wie einer Zukunft. Der Hund und ich. Wir beide. 
Aber dann materialisierte sich das „Irgendwann“, baute sich kalt und drohend vor mir auf, mit einem Datum im Schlepptau. „Er will den Hund zurück.“
Mein Vater schickte eine DVD von „Tim und Struppi“: Der Lokalreporter und sein Hund, das seid ihr beide. 
Ich brach in Tränen aus. 
Du wusstest doch, dass der Hund nicht dir gehört, wurde geunkt, du hättest ihn ja nicht nehmen brauchen. Nein. Ich hätte ihn auch nicht lieben brauchen. Dann wäre er eine Sache, die man aufbewahrt und gegen einen angemessenen Obulus wieder abgibt. Dann wäre er ein Geschäft. Aber ich bin sein Zuhause geworden, jetzt, nach all der Zeit.

In meiner Lieblingszeitschrift GEO ist ein Bericht über eine Frau, die sich um Pflegekinder kümmert. Wie sie das schaffe, in dem Wissen, alle wieder hergeben zu müssen. Irgendwann, vielleicht. Vielleicht auch nie. Sie böte den Kindern ein gutes, glückliches Jetzt. Ums Morgen wisse man nicht. Nie. 
Ich sehe den Hund an und denke: Dann hast Du bei mir eben die schönste Zeit Deines Lebens. Dann werde ich Dich mit Liebe und Fürsorge zuschütten, damit Du noch lang davon zehren kannst, solange es halt irgendwie geht. Aber dann schiebt sich, kalt und knirschend, dieser Riegel übers Herz, der sagt: Hör auf ihn zu lieben. Am besten schon gestern. Er bleibt nicht.

Mich erreicht die E-Mail eines Bekannten, seine Frau habe ihn verlassen. Ich fühle seinen Schmerz, höre förmlich aus den Zeilen, wie seine Welt vor mir zerbröckelt, noch weit entfernt davon, sich zu etwas Neuem zusammenzufügen. Der Mann tut mir Leid. Ich weiß, was er durchmacht. Und trotzdem, denke ich, ist man in diesem Leid so mutterseelenallein. 
Ich kann ihm sagen, dass ich mit ihm fühle. Dass ich seine Hilflosigkeit verstehe, das Klammern an jeden Halm, um das Unbegreifliche begreiflich zu machen. 
Es ist gut, wenn Menschen mitfühlen, denke ich. Und trotzdem: Das Leid nimmt einem niemand ab. 
Man muss alleine durch. Mit Glück reicht einem jemand die Hand, mit Glück leuchtet einem jemand ein Stück des Weges. Und Gott? Natürlich ist Gott da, Gott fügt und führt, aber oft genug sind unsere Wege so verschlungen, unsere Trauer so gleißend, dass wir sein Licht nicht sehen und seine Hand nicht erkennen. 

Und auch das Leid, so lehrte mich das Leben, ist wirklich niemals sinnlos. Sollte ich den Hund also hergeben müssen, wäre das Leiden entsetzlich. Aber ich nähme es an, besänne mich auf die wunderbare Zeit, die wir hatten, zöge Lehren daraus und sähe nach vorn: Zumindest nehme ich mir das vor.

In zwei Monaten bin ich Katholik; es steht mir nicht mehr zu, mein Schicksal zu hinterfragen oder damit zu hadern. Das hat etwas Beruhigendes: Der Herr wird es richten. Es gibt für alles einen Plan. 
Ist das naiv? Gibt man damit Verantwortung ab? Ist Religion doch nur das vielzitierte Opium fürs Volk? Ich mag nicht mehr darüber nachdenken. Gott existiert. Ich habe es zur Genüge erfahren. 


Draußen schlagen die Zweige im Sturm ans Fenster. Regen tropft von der Lichterkette, die sich durch meine Winterheide schlängelt. Hundert kleine Lichtpunkte in der Schwärze der Inselnacht, vergangene Weihnachtsfreuden, der Hund und ich inmitten unzähliger Pakete und Ansichtskarten, die meisten der Geschenke waren für ihn. So viel Mitgefühl, soviel Mitfreuen. Unmengen Delikatessen; der Hund und ich teilten uns ein Brot mit Trüffelleberwurst. 
Er ist so glücklich. Mein Weinen verstört ihn, und ich mag ihn nicht ansehen, weil ich dann denken muss: Bald kommst Du weg. Vielleicht. Und ich weiß nicht, ob das „bald“ schlimmer ist oder das relativierende „vielleicht“, das die frische Wunde im Herzen gleich wieder mit seinem Sirup zukleistert. 
„Wir helfen Dir“, sagen die Freunde. Und die meisten meinen das Ernst.



Compassion. Einer der Jesuitenpater, die bei uns als Kurpastoren Dienst tun, erklärte einst, dass ihm das englische und spanische Wort lieber sei als unser „Mitgefühl“, weil in der Kon-Passion das Leiden steckt, das mehr sei als das bloße Fühlen — aber auch etwas anderes als das bei uns eher abfällig besetzte Wort „Mitleid“. Mitleid will niemand. Mitgefühl tut gut. Und die Compassion, das Mit-Erleiden? Fühlt sich nach einer ausgestreckten Hand an, die das Kreuz tragen hilft. Ohne viele Worte. Ohne Bedauern. Mit purem Da-Sein, Anfassen, Helfen.


Ein lieber Freund formuliert das in der Regel so: „Was kann ich tun?“ Kein „Kann ich was tun?“ Kein „Was willst Du jetzt tun?“. Vermutlich bringt genau das „Compassion“ auf den Punkt. Die stützende, helfende, fangende Hand. 
Ich bin dankbar dafür. Denn der Hund soll es nicht spüren, das Leiden und Straucheln. Ich bin sein Zuhause. Und ein Zuhause braucht feste Wände. 


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