Schon wieder muss ich den Wandkalender umblättern. Es ist Mai; das neue Blatt zeigt blühende Kirschbäume. Es fühlt sich nicht an wie Mai. Seit Wochen kletterte das Thermometer nicht über 10°C; kein Abend, an dem mir nicht die Fingergelenke vor Kälte schmerzen und ich nicht in Decken gewickelt im Büro sitze. Die Heizung meiner kleinen Räume kommt gegen die in den Wänden festsitzende Kälte des Hauses nicht an, in dem alle Wohnungen außer meiner seit Monaten leerstehen. Vor der Heizkostenrechnung graut mir jetzt schon. Aber es ist nicht nur die meteorologische Kälte, die mich dieser Tage erschauern lässt. Der Ton im Netz ist von einer Verrohung, sozialdarwinistischen Brutalität, Missgunst, Neid und Häme geprägt, die ich kaum noch ertragen kann; und zunehmend schwappt auch all das ins Analoge. In der Langeooger Lokalpolitik mehren sich die Unappetitlichkeiten, und es braucht sehr viel Gottvertrauen, um noch daran zu glauben, dass sich daran mit den nächsten Kommunalwahlen etwas bessert. Indes fallen mir außer „Exorzismus“ auch nicht mehr viele Lösungsansätze zu diesem Desaster ein, und der Rest der Welt ist auch nicht unbedingt ein Trost: Das Internet erwähnte ich ja bereits.
Dazu all die kleinen und großen persönlichen Dramen und Schicksalsschläge. Eine liebe Freundin weint um ihren Hund und ich mit ihr. Etliche sensible Seelen in meinem Kreis resignieren und ziehen sich komplett zurück: Depressionen, Ängste, Schlafstörungen, wohin man blickt und horcht. Mir Freund gewordene Geistliche sehen sich in den immer berohlicher brodelnden Sumpf von Missbrauch und Missbrauchsvertuschung hineingezogen: Generalverdacht, Sippenhaft, pauschale Verurteilung eines ganzen Berufsstandes; der Kirche rennen mehr Leute davon als sich Austrittsformulare drucken lassen. Mir selbst schwimmen die finanziellen Felle davon; die Preise für Lebenshaltung steigen ins Absurde, für meine Kunst findet sich keine Bühne, und kaum haben ein paar trotz Pandemie verkaufte Bilder oder Bücher das gröbste Loch gestopft, wird die nächste Rechnung fällig.
Natürlich bin ich noch immer vergleichsweise weich gebettet und darf zumindest an einem wunderschönen und weitgehend virenfreien Ort vor mich hinleiden, aber für etliche meiner Mitmenschen geht es dieser Tage wohl nur noch ums Durchhalten und Überleben statt um irgendwelche Maienwonnen.
Nichtsdestotrotz hat sich irgendjemand erbarmt und im Dorf die Laternenpfähle mit Kreppblumen geschmückt; vor einem geschlossenen Restaurant stehen ein paar Leute unter einem improvisierten Maibaum in einer improvisierten Normalität und lachen. Einen großen Maibaum gibt es in diesem Jahr nicht.
Was bleibt einem auch sonst. Und doch sind diese bunten Farbtupfer, ist dieses Lachen kaum mehr als ein Tropfen Wasser im Ozean. Die Pandemie ist noch längst nicht vorbei und alle anderen Seuchen und Pestilenzgestänke, die diese Zeit so mit sich — und auch auf die Insel bringt—, sind es auch nicht.
Meine Balkonblumen, bisher eine sichere Bank für farbenfrohe Lichtblicke noch im schietigsten Frühjahrswetter, sterben einsam vor sich hin. Es ist viel zu kalt, um draußen zu sein und oft vergesse ich sie deswegen einfach. Ab und zu sehe nehme ich Notiz von den bräunlichen Blättern, den hängenden Köpfchen. Dann denke ich, dass ich jetzt endlich was machen muss und mache es doch nicht. So ist es doch oft auch mit Freunden oder Verwandten, denke ich. Man hat sie ja schon lieb irgendwo und denkt, dass man sich morgen aber wirklich mal meldet, ein Lebenszeichen sendet, eine Frage nach dem Befinden, irgendwas. Und dann ist morgen schon wieder ein Jahr vorbei, in dem man es doch nicht gemacht hat, und dann stirbt der Verwandte oder der Freund hat sich schon längst innerlich verabschiedet. Vielleicht kommt noch irgendwas Höfliches zurück oder auch gar nichts, und die Welt dreht sich weiter.
Mir tun meine Blumen Leid. Aber ich kann ihnen auch keine Wärme bringen. Am Liebsten ist mir die Welt zurzeit mit zugezogenen Vorhängen.
Ich habe mir neue gekauft; sie sind nachtblau mit einem stilisierten Sternenhimmel darauf; sie vergrößern meine kleine Welt auf gewisse Weise, selbst wenn ich den Rest der Welt da draußen lasse. „Es gibt Vieles, das der Welt zurzeit die Farbe nimmt“, predigte unser Weihbischof dieser Tage, und tröstete im Anschluss mit der Heilsbotschaft und mit den Möglichkeiten, die wir als Christen dennoch haben, um Farbe zu bringen und Farbe zu sein. Ich bin wirklich froh, in dieser Zeit noch glauben zu können.
Tatsächlich stellte ich dieser Tage fest, dass in meinem Leben im letzten Jahr mehr Farbe eingezogen ist, als ich für möglich gehalten hatte; und nichts davon war geplant. Nach jahrelangem Zeichnen in Graustufen male ich jetzt mit bunten Kreiden, die ihre Leuchtkraft im Halbdunkel besonders eindrucksvoll entfalten. Und nach vielen Jahren, in denen mir zarte Streifen das Maximum an erträglichen Mustern waren, bedeckt nun ein farbenfroher ausgemusterter Sarong in Grün, Rot und Gold meinen Tisch und ich finde ihn wirklich schön. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ist es der Kontrast zur Farblosigkeit des Pandemie-Alltags; zur fehlenden Möglichkeit, Neues zu entdecken? Ist es die Sehnsucht nach einem echten Frühling, in dem die gleißende Sonne nicht nur wie ein Dekoartikel am preußischblauen Himmel hängt, sondern wirklich wärmt? Ist es das Verlangen nach dem Anblick aller Facetten kraftvollen Lebens statt der traurigen Realität halbwelker Blüten mit erfrorenen Rändern? Am Strandübergang wehen die Federreste eines ausgerissenen Möwenflügels im Wind, und kaum ein Symbol beschreibt die Lethargie dieser Tage wohl treffender: Flügellahm, am Boden, grau und leblos.
An der Kirche hat die Felsenbirne ihre zarte Pracht entfaltet, aber der Strandhafer ist noch gelb, das Grün blieb irgendwo auf halbem Wege stecken. „Ungefähr einen Monat hinkt die Natur hinterher im Vergleich mit meinen Fotos vom Vorjahr“, doziere ich der Freundin bei einem Spaziergang, auf dem wir mit kalten Nasen das Stagnieren des Frühlings betrachten. Vermutlich ist sie es auch, die mehr Farbe in mein Leben brachte, denke ich, während ich ihr puppenhaftes Profil mit dem winzigen Näschen und den rosigen, weichen Wangen betrachte. Als uns der Weihbischof von der farblosen Zeit erzählt, sitzt sie in einem leuchtend grünen Pulli neben mir. Im goldenen Kelch spiegelt sich das warme Licht der Altarkerzen, daneben liegt der violette Bischofspileolus. Der Herr ist mein Licht und mein Heil.
Vielleicht, denke ich, ist Liebe Farbe. Und vielleicht habe ich nun mehr Mut zur Farbe, weil auch diese Partnerschaft mehr Mut als cleanes Understatement erforderte. Und doch bin ich froh, es gewagt zu haben. Zweifelsohne war ich auch ohne sie glücklich und gut eingerichtet in meiner Welt, aber nun kenne ich auch noch eine andere Art von Glück. Und eine andere Art von Einrichtung. Und beides hat mich, deo gratias, nicht überrannt, sondern sich mit einer Sanftheit eingenistet, dass ich all diese Neuerungen mir zu eigen machen konnte. Es lag kein Überrennen darin, kein Überstülpen.
Und nun ist es wohl wichtig, sich auch von der neuen Zeit nicht überrennen zu lassen. Standhalten muss man gegen den Ungeist der Zeit; sich keine Rohheiten überstülpen lassen, keine Häme, und dem tumben Populismus den Weg versperren — Mit dem, was man eben so hat, kann und schafft. Für eine bessere Zeit. Für einen neuen Mai.



