Gans

Vor dem Haus gegenüber sitzen Menschen neben ihren gepackten Koffern in der Sonne. Eine Handkarre steht zum Abtransport bereit; die Leute tragen Strohhüte, sind gebräunt und lachen. Nicht einmal die Teenager darunter klingen missgelaunt. Eine entspannte Urlaubswoche geht zuende, sagt dieses Bild. Tschüss, schönes Langeoog! Bis zum nächsten Mal.
Dann wird das Ferienhaus abgeschlossen, zeitnah wieseln flinke Putzgeister darin herum und dann wird sich die Tür, die vorn nach Süden zeigt und hinten das Meer hat, für die nächsten Urlauber:innen öffnen.
Für Menschen, die hier im Weltnaturerbe Wattenmeer ihre Seele frei entfalten können, Neues entdecken, die wunderbare Seeluft riechen und all die Artenvielfalt bewundern.

Ich ertappe mich dabei, wie ich diese Menschen beneide. Natürlich war mir schon immer klar, dass „Arbeiten, wo andere Urlaub machen“ eben nicht bedeutet, dass man selber im Dauerurlaub ist. Und das Alltag im Naturparadies, genau wie überall sonst, eben trotzdem Müll wegbringen, dreckige Wäsche, abgehetztes Einkaufen nach anstrengendem Arbeitstag und eine nie endende To-do-Liste bedeutet. Doch zu all diesen unvermeidbaren Stressfaktoren gesellen sich auf Langeoog zunehmend Dinge, die in einem Mikrokosmos „Dorf“ zwar ebenfalls nicht ungewöhnlich sind, sich auf einer Insel mangels Ausweichmöglichkeit aber besonders schnell zu größeren Unappetitlichkeiten aufblähen.

Im Garten blüht jetzt der Apfelbaum. An der weißroséfarbenen Pracht laben sich Schmetterlinge und plüschige Bienchen. Eine Formation Gänse zieht übers Haus, laut rufend. Weicht da jemand vom Kurs ab? Streiten die? Oder quakt da nur jemand den neuesten Gossip durch den Schwarm? Auch die verlassen Langeoog, denke ich. Aber sie kommen immer wieder. Und manchmal ziehen sie über der Insel auch einfach nur ihre Kreise, halten Ausschau, was es sonst noch so gibt und bleiben dann doch, wo sie sind. Manchmal werden sie auch von einer echten oder vermeintlichen Bedrohung aufgeschreckt: Von einem kläffenden Tier, von Menschen, die in ihr Territorum dringen. Ich weiß nicht, mit welchem Stadium „Gans“ ich mich gerade am meisten identifiziere; aber das Kläffen, Zetern und Missachten von Territorien ist nicht unüblich in der Lokalpolitik dieser Tage — und unter all jenen, die sich bissig und gierig um ein paar abfallende Krümel Macht streiten wie die Enten der Barkhausenstraße um dreckiges Brot und breitgetretene Fischbrötchenreste. Quakquakquak. Die kleinen Äuglein blitzen, die Zähne winzige Sägeblätter im orangefarbenen Schnabel. „Wie niedlich“, sagt ein Kind und läuft auf die Enten zu. Die Ente schnappt nach dem Ärmel. Das Kind heult.
„Das hat die Ente nicht mit Absicht gemacht“, tröstet der Vater. Das ist richtig, denke ich. Aber Gier macht blind, bei Mensch und Tier. Und der Mensch — nun. Er schnappt zuweilen auch mit Absicht. Oder sie.

Und nun kam, nach 8 Jahren Inselglück, das erste Mal der Moment, in dem ich ans Fortziehen dachte. Da ich Rechnungen zu bezahlen hatte, wurde mir die Relation der mittlerweile ins Absurde gesteigerten Lebenshaltungskosten in aller Unschönheit vor Augen geführt; ein Grund, warum ich den Blick ins Konto, wo es nur geht, vermeide. Ich bemühte interessehalber eine Suchmaschine um Arbeits- und Wohnungsangebote in küstennahen, nicht zu großen Städten. Man hätte soviel mehr Geld übrig. Für Urlaube, gutes Essen und schöne Dinge. Man hätte Kulturangebote in der Nähe, Wochenmärkte, Discounter, Fleischereifachgeschäfte, Biohöfe und einen Fernbahnhof.
Was man dafür nicht mehr hätte: Die brustzuschnürende Enge eines Dorfes, in dem alle vermeintlich alles und dabei doch kaum etwas über die anderen wissen; es oftmals nicht einmal wissen wollen. Den Neid, die Missgunst, die Denunziation und die Dauerbeobachtung. Das Fingerzeigen, den Tratsch und den engen Horizont etlicher Protagonist:innen, der in so einem krassen Missverhältnis steht zu der unendlichen Weite der Natur. Aber man hätte eben auch kein Meer vor der Tür; mit Glück hätte man noch ein Hafenbecken oder irgendeinen schmutzigen Zulauf, der eher der Industrieschifffahrt als der Vogelwelt dient. Es gäbe keine Austernfischer auf dem Dach, keine farbenprächtigen Dünen. Und Autoabgase statt Seeluft. Meine Wohnung auf Langeoog wäre dann nur noch eine der unzähligen seelenlosen Ferien- und Wochenendbehausungen, aus denen im tiefen Winter kein Lichtlein dringt … und ich? Auch nur noch jemand, der von der Teetasse Langeoog (um mal ein ostfriesisches Bild zu bemühen) nur noch den süßen Rahm abschöpft, ohne ins Dunkle, Bittere vorzudringen. Doch muss man sich nicht beidem stellen, wenn man hier wirklich leben will?

Es gibt Leute, die, gelinde gesagt, unwirsch werden, wenn man als Langeooger öffentlich zugibt, dass auch hier nicht alles Gold ist, schöne Natur hin oder her. Und dass der zwischenmenschliche Müll auf der Insel nicht anders stinkt als der in Wuppertal oder Cappeln. Das würde die Gäste vergraulen, die schließlich wegen der schönen Illusion kämen; nur dass nicht einmal die Illusion als solche bezeichnet werden dürfe. Da frage ich mich schon, ob man die Gäste damit nicht arg unterschätzt. 
Natürlich will niemand, der sich hier vom Alltagsstress erholt, in irgendwelchen lokalpolitischen Beef oder sonstige Provinzpossen hineingezogen werden. Natürlich will man an seinem Urlaubsort auch ein Stück weit schöne Illusion. Aber so zu tun, als wäre hier Wolkenkuckucksheim? Jeder hat einen goldscheißenden Esel im Garten und alle haben sich lieb? Mon Dieu.
Zumindest ich halte unsere Gäste nicht für bescheuert.

Ich erinnere mich, dass ich vor vielen Jahren einmal in einem beliebten Ausflugslokal auf dem Festland saß. Alles drumherum war herrlich, aber dann hörte ich eine der Kellnerinenn weinen. „Lasst mich in Ruhe“ flehte sie ihre Kolleg:innen an, „Ich halte das nicht mehr aus. Ich will hier doch einfach nur arbeiten!“ 
Natürlich löste diese Situation in mir ein gewisses Unbehagen aus. Die Frau tat mir leid, ohne zu wissen, was vorgefallen war; aber alles an der Situation schrie: Mobbing. Nun passte das natürlich gar nicht zu den gut gelaunten Gästen, den plätschernden Springbrunnen und dem Sonnenschein. Aber deswegen zu glauben, dass es an diesem Ort kein Mobbing, keine Intrigen, kein Hetzen und keine Bösartigkeiten gibt? Das wäre doch zu absurd gewesen.

Nun frage ich mich, ab wann man sich durch das Ausharren im schönen Schein, das Rundschleifen und Weichspülen von Ereignissen eigentlich mitschuldig macht an dem, was einzelnen Personen, einer Gemeinschaft und letztlich der ganzen Insel angetan wird. Ab wann drückt man nur noch krampfhaft den goldenen Deckel auf ein hübsch verziertes Fass voll überquellender Scheiße? Man darf nicht so blind sein, denke ich. Denn, ja: Da ist noch das Gold. Aber da ist auch die Scheiße. Und irgendwann muss man sich dem einfach stellen. Will man das Fass öffnen, gibt es zunächst eine stinkende Fontäne. Alles kommt raus, in aller Ekelhaftigkeit. Aber dann ist das Fass leer. Man kann es ausspülen, schrubben, und letztendlich neu befüllen. Mit etwas, das nicht so schnell zu Unrat vergärt. Oder das zumindest zu etwas Nützlichem fermentiert. Und es braucht Leute, die sich immer wieder trauen, den Deckel abzuheben, um mit klarem Blick nachzuschauen, wo wir stehen: Ob da überhaupt noch ein „Wir“ ist. Oder ob das „Ich“ eines Einzelnen, einer Einzelnen, alles zum Umkippen bringt wie einen verseuchten Teich, aus dem der glücklichere Teil der Tiere noch flieht, und der andere bald mit dem Bauch nach oben schwimmt — Mundtot gemacht und an den Rand geschwemmt.

Auf der Suche nach dem Schönem, Lebendigen und allem Lebens- und Liebenswertem auf der Insel mach ich mich auf Richtung Ostende. Der See schläft still und tintenblau zwischen den Dünen; auf der Aussichtsdüne genießen Menschen den Blick in die Weite. In die Weite, die zwischen den Menschen oft fehlt. Ich sehe den Gänsen zu, die sich entlang des Weges in den Salzwiesen niederlassen. Einige von ihnen werden immer wiederkommen. Andere verlassen die Insel für immer. Wiederum andere bleiben. Die Gänse gehorchen doch nur ihrem Instinkt, mag man sagen. Und vermutlich machen sie das einfach genau richtig.

Momentaufnahme, Lärm

Endlich ist es still. Der Regen hat die Menschen vom Strand vertrieben und auch von den Straßen. Das Pflaster hat sich dunkel gefärbt. In den Blütenkelchen und Blättern entlang des Weges sammeln sich Tropfen; glasklar und schimmernd. Der sandige Boden hat das Wasser längst aufgesogen. Das braune, verdorrte Gras ist nicht mehr zu retten. Aber schon morgen, das weiß ich, werden sich zarte, grüne Halme dazwischen zeigen. Der Regen wirkt dieses Wunder, immer wieder.
„Ist es nicht wunderbar?“, fragt eine befreundete Langeoogerin, „die Luft riecht nach Pflanzen, nach Erde.“ Es riecht nach Leben. Und zugleich herrscht diese balsamische, befriedende Stille.

Auf der Sandfläche hinter dem Priel, wo sonst die Gäste toben, hat sich eine Kolonie Lachmöwen versammelt, die sich putzen oder schlafen; die schwarzen Köpfchen ins Gefieder gesteckt. Ansonsten ist der Strand leer und die Strandkörbe sind verwaist. Große Silbermöwen kreisen über dem Wasser, ab und zu trägt der Wind ihre Rufe ans Ufer. Am Horizont liegen riesige Frachter auf Reede, eine unserer Fähren kehrt zurück aus der Werft. Auch auf ihr ist es jetzt still und leer.

Zurzeit ist ein junger Jesuit aus Schweden zu Gast. Zum Fest dreier skandinavischer Märtyrer singt er mit uns ein schwedisches Kirchenlied. „Nu sjunker bullret“ heißt es, „Jetzt legt sich der Lärm“. „Eigentlich passt das ja gar nicht hierher“, sagt er lachend, „hier ist es doch so schön friedlich.“
„Schön wär’s“, sage ich zu dem hochgewachsenen blonden Mann. „In der Natur finden Sie hier Stille, ja. Aber ansonsten ist man auch auf Langeoog froh, wenn sich all der Lärm und Aufruhr am Abend legt. Ich finde, es passt daher sehr gut zur Abendmesse.“ Der Geistliche scheint erstaunt; offenbar ist er froh, dem hektischen Stockholm für eine Weile entkommen zu sein. Aber man kann es nicht beschönigen: Es gibt auch auf einer Insel Getöse genug. Und damit meine ich nicht einmal die übliche Saisonmischung aus Fahrradklingeln, Kindergeschrei, Ehekrächen und Pubertierenden mit dröhnenden Musikboxen.

Es knirscht gewaltig im lokalpolitischen Gebälk dieser Tage. War schon das Wahlkampfgetöse mitunter unappetitlich genug, so geht es nun munter weiter mit Nazikram und Lynchgejohle, und man fragt sich zuweilen einfach nur noch, ob das Langeooger Trinkwasser vielleicht doch nicht mehr so gut ist, wie alle behaupten. Andererseits: Warum sollten in den Mikrokosmos „Insel“ nicht alle Widerwärtigkeiten Einzug halten, die zurzeit auch den Rest Deutschlands und Europas beuteln? Und dennoch streife auch ich recht ratlos durch die duftenden, regenfeuchten Dünen und frage mich, warum der Mensch seine Hässlichkeiten eigentlich in alle Ecken dieser wundervollen Welt tragen muss.
Zugleich frage ich mich, wann eigentlich der Punkt gekommen ist, wo es für einen Schriftsteller von der Kür zur Pflicht wird, politisch zu sein.
Es ist schwer dieser Tage, und ich beneide niemanden zurzeit um ein öffentliches Amt. Was kann man da schon noch richtig machen? Die Leute sind nicht mehr zum Zuhören bereit, alles ist überemotionalisiert, es sind hysterische Zeiten. Von selbsternannten „Leistungsträgern“ wird über nutzlose Geisteswissenschaftler geschimpft, aber wohin wir gelangen, wenn niemand mehr gegenwärtige Phänomene in einen historischen oder kulturellen Kontext einordnen kann oder mangels Allgemeinbildung einfach keinerlei Gefühl mehr für Sagbares und Unsagbares hat — das sieht man an jeder Ecke und in jeder Kommentarspalte. 
Auch das moralische Abwägen scheint aus der Mode; die Notwendigkeit, zuweilen auch unangenehme Entscheidungen zu Gunsten des Friedens und zum Erhalt des Wohlstands aller treffen zu müssen. Man kann nicht alles einfach alles und jeden nach Rechts oder Links sortieren, nach Gut oder Böse. Und alle Extreme schaden.

Man weiß doch zum Beispiel gar nicht mehr, wo man überhaupt noch ansetzen soll, um den Menschen klarzumachen, wieviel ein funktionierender Rechtsstaat Wert ist. Und das, obwohl sich etliche Landsleute noch gut an das Unrechtsregime der DDR erinnern können — wo es „Zeugen“ im Dutzend billiger gab und eine Unschuldsvermutung nichts galt. Desgleichen in anderen totalitären Regimes. Als ich in China lebte, hörte ich früh morgens manchmal die Erschießungen im angrenzenden Volksgerichtshof. Minutenkurze Prozesse, unbequeme Leute, angeschwärzt von irgendwem.
Und selbst wenn es letztlich Schuldige traf: Jeder, absolut jeder hat das Recht auf einen fairen Prozess. Auch Nazis. Auch Kinderschänder. Auch kriminell gewordene Geflüchtete. Und absolut niemand hat das Recht, andere dazu aufzuwiegeln, Verdächtige an die nächste Straßenlaterne zu hängen oder auch nur deren Fensterscheiben einzuwerfen, egal, welches Verbrechens man diese Leute beschuldigt.
Ich bin überzeugter Demokrat. Ich lebe gerne in Deutschland, denn tatsächlich haben wir es hier mit vielen Dingen einfach verdammt gut, und wer das nicht weiß, hat sich offenbar noch nie mit anderen politischen Systemen beschäftigt. Ich bin gerne Europäer, Christ und Katholik. Ich mag unsere Kultur, die christlichen Werte und unsere gesellschaftlichen Errungenschaften. Ich mag unser Freiheitsideal und die europäische Idee. Ich mag Vernunft. Und ich mag Gerechtigkeit. — Gerechtigkeit auf Basis universell geltender Gesetze, nicht aufgrund irgendeines subjektiven Empfindens, nicht aufgrund einer gefühlten Mehrheitsmeinung, nicht aufgrund des Gebrülls irgendeines Mobs, nicht aufgrund irgendeiner hochemotionalisierten Debatte. 
Das letzte, endgültige Gericht liegt sowieso nicht in unserer Hand.

Es ist traurig, dass wir in Zeiten leben, in denen man für einen Satz wie „Ich mag Deutschland“ als rechtspopulistisch einsortiert wird und für die Selbstverständlichkeit, Menschen nicht ertrinken lassen zu wollen, als linksextrem. Es ist schier zum Verzweifeln, wenn eine Welt, die uns täglich mit Millionen von Farbnuancen erfreut, nur noch schwarzweiß betrachtet wird. Und mich ängstigt, dass in einer Welt, die geradezu platzt vor lauter Lärm und Geschwätz, kaum noch jemand wirklich miteinander redet. Auch deshalb, denke ich, während ich mich in einem der noch sonnenwarmen Strandkörbe niederlasse, liebe ich die Stille.