Der volle Mond wirft seinen Lichtschein durch eine dünne Schicht kleiner Schäfchenwolken, die sich um den Erdtrabanten drängen wie eine Wärme suchende Herde. Das Licht bricht sich an den zirkulierenden Eiskristallen der Atmosphäre in bunten Spektralfarben.
Einige Luftschichten tiefer, auf der Erde, ist es für Dezember recht warm.
In zwei Tagen ist Heiligabend.
Die Insel füllt sich; viele verwaiste Ferienwohnungen sind nun abends wieder beleuchtet. Auch in den Regalen der Lebensmittelmärkte wurde erneut aufgerüstet. Für die Angestellten auf Langeoog zieht der Stress nun wieder an, aber dennoch scheint die Welt kurz vor Weihnachten immer auf eine wundersame Weise stillzustehen.
Der Advent ist, wenn auch für die meisten nicht mehr als Bußzeit, so doch als Wartezeit erspürbar. Zumindest, wenn man sich, wie ich, relativ geruhsam auf die Feiertage vorbereiten kann.
Auf den Baustellen wurde die Arbeit jetzt niedergelegt. Etliche Gerüste wurden abgebaut; Halbfertiges festgezurrt und abgesperrt. Letzte Handwerker machen sich mit ihren Werkzeugkoffern auf zur Fähre, während die Welt die Ankunft des wohl bekanntesten Zimmermanns erwartet.
Ich denke an die historisch ziemlich unbeleuchteten, jungen Erwachsenenjahre Jesu — bevor er als Wanderprediger bekannt wurde — und frage mich, wie es IHM heute als Zimmermann auf Langeoog wohl ergehen würde. Würde man ihn mit Respekt behandeln, pünktlich bezahlen, würde ein Kollege vielleicht seine Pausenration mit ihm teilen, ein Bauherr ihm bei Schietwedder mal einen Kaffee zum Wärmen der Finger ausgeben? Würde er eine bezahlbare Bleibe finden?
Ich frage mich, wie es ihm wohl wirklich ergangen ist, damals in Galiläa. Vielleicht hatte er einen Esel dabei, um Baumaterial, Lot, Wasserwaage und Werkzeug zu den Baustellen zu transportieren. Vielleicht hatte er einen Handkarren, vielleicht auch nur eine Schulterkiepe. Ein Stück Stoff mit eingewickeltem Proviant: Brot, Obst, Trockenfleisch oder -fisch. Einen Wasserkrug. „Jesus war in Allem Mensch, außer in der Sünde“ las ich einmal irgendwo.
Ich stelle mir den Heiland vor, wie er in der Arbeitspause auf einem niedrigen Mäuerchen sitzt. Seine Kollegen werden Zoten gerissen haben, wie auf allen Baustellen Zoten gerissen werden, möglicherweise gab es auch Bier oder dünnen Wein. Jesus schalt sie aber sicher nicht dafür, solange es nicht bösartig wurde, denke ich, vermutlich saß er einfach nur dabei und lächelte nachsichtig. Aber wenn es gemein wurde, dann griff er mit Sicherheit ein.
Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit an einen Kindergottesdienst, bei dem ein Kind gefragt hat, ob Jesus auch aufs Klo gegangen sei. Und noch deutlicher erinnere ich, wie die anwesenden Erwachsenen bei dieser Frage scharf die Luft einsogen. Nervöses Stottern war die Folge.
„Getrunken und gegessen hat er“, presste schließlich jemand mutig hervor, „Das steht zumindest recht eindeutig in der Bibel.“ Und dass man sich den Rest dann wohl denken könne.
Heute denke ich, dass es doch irgendwie schön ist, wie unbefangen sich Kinder der Materie nähern. Für Kinder gibt es noch keine ungehörigen Fragen. Und auch ich fand die Frage damals eigentlich nicht schlimm.
Im Gegenteil: Ich fand es als junger Mensch immer schön, Jesus als echten Freund zu sehen. Als Gott zum Anfassen. Den man immer hatte, auch wenn man niemanden sonst hatte. Der verstand, verzieh und niemals petzte. Der einen so sah, wie man von Gott gemeint war.
Den Heiligen Geist, GOTT, die Dreifaltigkeit: All das begriff ich erst später. Aber dass Jesus Mensch war wie wir, nur ohne miese Eigenschaften — das hingegen verstand ich sofort.
Wie war Jesus als Teenager? Bestimmt auch mal aufsässig oder unmotiviert. Aber er mobbte oder versetzte mit Sicherheit niemanden. Wie war Jesus als Schüler? Vielleicht nur mittelprächtig. Und doch verstand er mehr als jeder andere. Und als Arbeiter, als Zimmermann? Ich stelle ihn mir sehr zuverlässig vor, sehr gründlich. Aber niemals verbissen. Und kein Karrierist. Ich denke, wenn Jesus einfache Tische und Bänke für eine Taverne zimmerte, nahm er den Auftrag genauso ernst wie den, einen Palast auszubauen. Freundlich wird er gewesen sein, bescheiden, aber bestimmt. Jemand, der nichts und niemanden ausnutzte, der sich aber auch nicht ausnutzen ließ. Ein Vorbild durch alle Zeit, bis heute.
Und nun feiern rund 2,2 Milliarden Christinnen und Christen in zwei Tagen seine Geburt, weltweit: Seine heutigen Handwerkskollegen feiern ihn, der Papst feiert ihn, arme Menschen und reiche, manche allein, andere in Gesellschaft. Es gibt Darstellungen, die das Christuskind in Königsgewändern zeigen, mit allem Prunk und Gold. Es gibt Darstellungen, die das Christuskind in absoluter Armut zeigen: Im Stall, mit einem Lumpen als Windel; seine Eltern als einfache Leute, ohne Gold, ohne Heiligenschein. Und tatsächlich mag ich beide Betrachtungsweisen.
Ich finde es schön, in dem armen Kind den Himmelskönig zu sehen. Und in dem König das arme Kind.
Ich bin kein Theologe. Ich weiß mich nicht besonders schlau zu Weihnachten zu äußern, tatsächlich bin ich nicht einmal besonders bibelfest und schnorre mir mein Wissen bislang bedarfsweise bei befreundeten Theologen zusammen. Aber das Schöne an genau diesem Weihnachten ist, dass ich es vielleicht nicht besser verstehe, aber doch mehr fühle als alle anderen Weihnachtsfeste zuvor. Es liegt so etwas Beruhigendes darin, so ein Frieden. Ja: Ich fühle mich weihnachtlich.
Ich fühle die Hoffnung, die dieses arme Kindlein uns immer wieder aufs Neue bringt. Das arme Kind, dass damals für so viele ein Nichts gewesen ist. Und das heute für so viele Alles ist. Ich fühle die Erlösung, die Gnade und Vergebung, die uns das Fest verheißt: Gott ist barmherzig, auch wenn es die Menschen nicht sind. Und Weihnachten bringt auch dem Traurigsten, der an die Botschaft glaubt, einen Grund zur Freude, denn niemand ist allein, der Jesus einen Platz frei hält. Nicht einmal die eigene arme Hütte muss einen da beschämen — denn diesbezüglich ist ER, der sein Leben in einer Krippe begann, ja nun wirklich alles gewohnt. Was sollte IHN da eine billig möblierte Einzimmerwohnung stören oder ein Würstchen mit Kartoffelsalat statt Festmenü?
Vielleicht ist meine Vorstellung von Jesus noch immer kindlich. Aber ich glaube daran, dass er dort gerne einkehrt, wo er willkommen ist und wo man ihn freundlich empfängt. Und ich mag die zentrale Botschaft Christi, die radikale Nächstenliebe, selbst wenn ich oft weit davon entfernt bin.
Tatsächlich finden auch etliche meiner eher kirchenfernen Freunde — sogar jene, die sich als Atheisten bezeichnen würden — : Dieser Jesus, das war ein Guter.
Vermutlich hätten sie ihm, damals auf der Baustelle, auch mal einen ausgegeben.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, allen Freundinnen und Freunden gesegnete Weihnachtstage und einen gesunden Start ins neue Jahr!